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Fünfzehn populäre Irrtümer zum Islam „In der Anti-Islamhetze, die immer heftiger wird, werden enorme Mengen an Desinformation verbreitet. Angesichts des weltweiten Erstarkens rechtspopulistischer und faschistischer Strömungen schadet es vielleicht nicht, Ihnen einige Korrekturen für die dunklen Jahre mitzugeben.“

Das Paradies, nach K. al-Azama „O Herr, wem gehört diese Frau?” und Gott antwortet: „Rede sie an, mein Knecht, so wird sie dir antworten.” Der Freund Gottes spricht sie an und indem er dies tut, öffnet sie die Tür ihres Zeltes, tritt heraus zu dem Freund Gottes und sagt zu ihm: „Mein Schatz, wie konntest du mich vergessen? Weißt du nicht mehr wie ich mit dir Hunger, Durst und Nacktheit, Jammer und Missgeschick ausgehalten habe? […] Ich bin deine Frau, die dir in der irdischen Bleibe gehorcht hat.”

Die Sklavin eines Orientalisten

Der bekannte niederländische Orientalist Christiaan Snouck Hurgronje1 (1857-1936) verbrachte mehr als ein Jahr in Mekka (1884-85). Daraus ist unter anderem sein wertvolles, mit Fotos illustriertes Buch Mekka entstanden.2 Über sein Leben in der heiligen Stadt kann man ein Kapitel in der niederländischen Biografie von Wim van den Doel nachlesen,3 und ausführlicher in der Einleitung zur niederländischen Übersetzung von Mekka von Jan Just Witkam.4 Selbstverständlich lesen Sie Snoucks Buch, wenn überhaupt, im deutschen Original, aber wenn Sie des Niederländischen mächtig sind, ist die 175-seitige Einleitung von Witkam sehr zu empfehlen. Darin hat er Tagebucheinträge und Briefe, die Snouck in Mekka geschrieben hat, veröffentlicht und anschließend mit Erläuterungen und Kommentaren versehen. Daher bietet diese Einführung viel biographisches Material, das bei Van den Doel nicht zu finden ist. 
Ein bewegendes Thema darin ist die Episode mit Snoucks Sklavin.

Im Alter von 27 Jahren reiste Snouck am 6. August 1884 nach Arabien mit dem Ziel, seine Kenntnisse über den Islam zu vertiefen und den Einfluss des mekkanischen Islams auf die muslimischen Untertanen in Niederländisch-Indien zu studieren oder, wenn man so will, als Spion. Zunächst hielt er sich in der Hafenstadt Dschedda auf, doch schon bald wollte er nach Mekka, dem Zentrum der islamischen Gelehrsamkeit, wo sich seine Forschungen viel leichter verwirklichen ließen. Das war schwierig, denn Nichtmuslimen war der Zugang zu dieser Stadt verwehrt. Daher ließ sich beschneiden und gab er sich als Muslim aus. Da er vorhatte, mehrere Jahre in Mekka zu bleiben, mietete er dort ein Haus und kaufte für 150 Maria-Theresien-Thaler eine äthiopische Sklavin, „die glücklicherweise keine der unangenehmen Eigenheiten aufweist, die man ihrer Rasse nachsagt“. 

Vielleicht trug sie ihren Teil zum Haushalt bei, der aber im Wesentlichen von männlichem Personal geführt wurde. Die junge Frau, deren Name nicht bekannt ist, war vor allem für Sex und Häuslichkeit da. Snouck hatte wohl keine Lust, monate- oder gar jahrelang ohne Sex zu leben. Die Sklavin war aber auch Teil seiner Tarnung. Schließlich wäre es in den Augen der Mekkaner sehr seltsam gewesen, wenn ein so junger Muslim wie er überhaupt keinen Sexualpartner gehabt hätte. Im Islam galt und gilt ein Leben ohne Sex als unerwünscht. Die Ehe war eine religiöse Pflicht, und wer (noch) nicht richtig verheiratet war, konnte sich leicht eine Partnerin oder eine Sklavin auf Zeit besorgen. Darüber hinaus konnte Snouck durch diese Frau auch Informationen über das Leben der Frauen in Mekka erhalten, was für seine Forschungen von Vorteil war.

In Mekka war Snouck schnell integriert: Er traf dort unzählige Gelehrte und sammelte eifrig Wissen und Informationen. Doch am 19. September 1885 musste er aufgrund einer Intrige gegen ihn Mekka und sogar ganz Arabien Hals über Kopf verlassen und nach Europa zurückkehren. Das war ein schwerer Schlag für ihn, aber noch mehr für seine Sklavin, die inzwischen schwanger geworden war. Sie schaffte es jedoch, sich von „einer zu schweren Last“ zu befreien, d.h. das Kind abzutreiben, was auch Snouck erleichtert haben dürfte. Doch was sollte aus ihr werden? Vorerst konnte sie bei Freunden von Snouck unterkommen. Sie selbst wollte am liebsten zu ihrem Besitzer nachgeschickt werden, aber eine schwarze Sklavin in Leiden war völlig undenkbar. Dann wollte sie auf jeden Fall verkauft werden, nicht freigelassen oder verheiratet. Sie wollte Sklavin bleiben, und als „Nachsendung“ nicht in Frage kam, drohte sie damit, sich selbst auf dem Markt zu verkaufen – was natürlich gar nicht möglich war. Auch Snouck wollte nicht, dass sie verkauft wurde, denn dann bestand die Gefahr, dass seine Feinde sie kaufen und nach allen möglichen intimen Details befragen würden, die ihm und den niederländischen Interessen schaden könnten. „Ich werde also an Dja‘far schreiben, dass in diesem Fall die Freilassung das einzig verbleibende Mittel ist und dass sie unter Zwang erfolgen muss”.

Eine Sklavin, die nicht frei sein wollte? In unserer Zeit denkt man oft, dass die Sklaverei der erbärmlichste Zustand ist, den man sich vorstellen kann und aus dem man sich unbedingt befreien möchte, aber das war hier nicht der Fall. Die Sklaverei bot ein gewisses Maß an sozialer Sicherheit. Was könnte dagegen aus diesem ausländischen Mädchen ohne Verwandtschaft werden, wenn es freigelassen würde? Sollte sie auf dem Markt betteln gehen? Sie würde in kürzester Zeit missbraucht, geraubt oder noch Schlimmeres werden. Für sie war die Freilassung ein Sturz ins Elend. Doch genau das passierte: Sie wurde als freie Frau auf die Straße gesetzt. Wie es mit ihr weiterging, ist nicht bekannt. 
Snouck ließ sich schon noch ihre Kleider aus seinem Haus in Mekka nachsenden. Diese wurden Teil seiner ethnologischen Sammlung in Leiden.

FUSSNOTEN
1 Bei Doppelnamen lässt sich in der Regel nicht feststellen, welcher Teil der Hauptteil des Namens ist. In den Niederlanden lautet sein Name in Kurzform Snouck, nicht Hurgronje.
2 Christiaan Snouck Hurgronje, Mekka. Aus dem heutigen Leben, Den Haag, Nijhoff, 1889.
3 Wim van den Doel, Snouck. Het volkomen geleerdenleven van Christiaan Snouck Hurgronje, Amsterdam, Prometheus, 2021.
4 Christiaan Snouck Hurgronje, Mekka in de tweede helft van de negentiende eeuw. Schetsen uit het dagelijks leven. Vertaald en ingeleid door Jan Just Witkam, Amsterdam/Antwerpen, Atlas, 2007. 

Geschlechter und Neigungen im vormodernen Nahen Osten – 2a

Weibliche Männer: die Effeminierten im alten Medina
Ein mukhannath, Plural mukhannathūn, war körperlich ein Mann, aber neigte zu weiblichem Verhalten. Aus natürlicher Neigung, manchmal aber auch aus Affektiertheit, weil die zum Beispiel zu einem Beruf passte. Das Wort kann mit „effeminiert“, oder „geschlechtslos“ übersetzt werden. Heutzutage wird es auch von einem Mann gesagt, der sich anal penetrieren lässt, aber das war bei dieser Gruppe im ersten Jahrhundert des Islams nicht unbedingt der Fall, wie ein Artikel von Everett → Rowson belegt.

Es ist klar, dass mukhannathūn im siebten Jahrhundert im Musikleben von Medina eine wichtige Rolle spielten. Sie waren professionelle männliche Musiker, die in Frauenkleidern auftraten und wegen ihrer Musik, aber auch wegen ihres Witzes und Charmes geschätzt wurden. Vielleicht waren sie die Nachfolger der Sklavinnen, die in vorislamischer Zeit gesungen und getanzt hatten, aber unter islamischen Bedingungen nicht länger erwünscht waren. Ihre Künstlernamen klingen meist feminin. Es ist auch bekannt, dass es ihnen erlaubt war, Frauen unverschleiert zu sehen und in den für Männer verschlossenen Frauenquartieren ein und auszugehen.

Rowson befasst sich zunächst mit den Hadith-Texten, in denen mukhannathūn  erwähnt werden, die mit dem Propheten in Kontakt kamen. Offenbar betrachtet er diese Texte als Quelle für das gesellschaftliche Leben im siebten Jahrhundert. Ich selbst tendiere eher dazu, sie zwischen 700 und 900 zu datieren, in der Annahme, dass sie Rechtsauffassungen dieser etwas späteren Zeit widerspiegeln. Wie auch immer, sie enthalten interessantes Material und ich werde sie gerne mal separat behandeln, aber das kann noch dauern.

In seinem Artikel findet sich jedoch genug aus historischen Quellen zu den mukhannathūn, die in den frühesten Zeiten vor allem in Medina blühten, bis Kalif Sulaimān (reg. 715-17) ihre Aktivitäten verbot. Eine Hauptquelle ist das →Kitāb al-aghānī von Abū al-Faradj al-Iṣfahānī, aus dem zehnten Jahrhundert, das viel Material zu Sängern und Dichtern der alten Zeit bietet; unter ihnen auch mukhannathūn, die ausführlich behandelt werden, insbesondere Dalāl und Ṭuwais. Letzterer lebte von 632-711 und war auch als Pechvogel bekannt. Er sang Kunstmusik und verfasste Gedichte in der leichteren Metra hazadj und ramal, leichte Lieder, bei denen er sich selbst auf einem duff, einer Art Tamburin, begleitete. Er war witzig und charmant und hatte eine scharfe Zunge. Er bildete auch jüngere Musiker aus. Ṭuwais wurde oft zu Partys der jungen Leute in Medina eingeladen, während die Älteren ihn und seinesgleichen eher verachteten.1

Es gibt eine Geschichte über eine Gruppe junger Männer, die bei einem Ausflug außerhalb der Stadt in ein Unwetter gerieten und beschlossen, bei Ṭuwais Unterschlupf zu suchen, der dort mit seiner Familie lebte. Einige der Teilnehmer, z.B. ‘Abdallāh ibn Ḥassān ibn Thābit, hatten Vorbehalte: Er stehe unter dem Zorn Gottes, er sei ein verachtenswerter mukhannath, mit dem man nicht verkehren sollte. Aber andere sagten: „Sag das nicht, er ist ein witziger, charmanter Mensch, der uns gute Gesellschaft leisten wird.“2 Als Ṭuwais hörte, was sie redeten, befahl er seiner Frau, eine Ziege zuzubereiten und bot ihnen ein köstliches Mahl an. Anschließend unterhielt er sie mit Gesang und Tanz. Als sie ein bestimmtes Lied lobten, sagte er: „Das ist ein Liebeslied, das die Schwester von Ḥassān ibn Thābit auf jemanden vom Stamm der Makhzūm gemacht hat.“ Diese Indiskretion war seine Rache an ‘Abdallāh ibn Ḥassān ibn Thābit, den er dadurch zutiefst beleidigte.

Eine atmosphärische Geschichte, die unmöglich historisch sein kann, erzählt über einen gewissen Djamīla, einen bekannten mukhannath-Sänger aus Medina, der mit einer ganzen Truppe von Dichtern und Musikern beiderlei Geschlechts nach Mekka pilgerte und dort von Kollegen empfangen wurde, unter ihnen der berühmte Dichter ‘Umar ibn abī Rabī‘a. Als Djamīla gebeten wurde, in Mekka ein Konzert zu organisieren, antwortete er, dass er nicht bereit sei, Ernst mit Frivolem zu vermischen. Die ganze Gesellschaft zog dann nach Medina, wo in seinem Haus ein dreitägiges Musikfestival stattfand. Der zweite Tag war ganz der Darbietung der acht namentlich genannten mukhannathūn gewidmet, die als Gruppe getrennt blieben.3 Ihr Auftritt wurde sehr geschätzt.4

Dalāl soll schön und charmant gewesen sein, aber sein Humor war derb und fast blasphemisch. So soll er beispielsweise während des Gebets gefurzt und dabei gesagt haben: „Ich lobe Dich von vorne und von hinten.“5 Und als ein Imam rezitierte: „Und warum sollte ich nicht Demjenigen dienen, Der mich erschaffen hat?“ (Koran 36:22) rief Dalāl aus: „Keine Ahnung!“ Das brachte die Leute so zum Lachen, dass es ihre Gebete ungültig machte.6 Dalāl war auch als Liebesbote und Heiratsvermittler bekannt.

Zwei mekkanische mukhannathūn, Ibn Suraidj und al-Gharīd, hatten ihre Laufbahn als Totenklager begonnen, eine Rolle, die traditionell von Frauen ausgeübt wurde. Ihre „leichten“ Lieder begleiteten sie mit der Laute, nicht mit dem Tamburin wie in Medina.7

Nur bei zwei frühen mukhannathūn konnte festgestellt werden, dass sie sexuell an anderen Männern interessiert waren: Dalāl und al-Gharīd. Einige waren verheiratet, andere hatten einfach kein Interesse an Frauen. Sofern sie „ohne Geschlechtstrieb“ (ghair ūlī al-irba, Koran 24:31) waren, durften sie Frauen unverhüllt sehen. Sie hatten also Zugang zu den Frauengemächern, überbrachten Nachrichten und fungierten manchmal als Kuppler. Und das war der Grund, warum Kalif Sulaimān ihre Tätigkeiten verbot und sie einem Bericht zufolge sogar kastrieren ließ. Nicht weil sie unerlaubten Sex hatten, dekadent waren oder sich „widernatürlich“ verhielten, sondern weil sie bei den Frauen ein- und ausgingen, mit Musik und unverschämtem Verhalten Unmoral in ihnen erweckten und zu viel ausplauderten..

Gehört zu: Geschlechter und Neigungen im vormodernen Nahen Osten –1: Die Mädchen-Jungs des 8. Jahrhunderts. Die bache posh in Afghanistan
Geschlechter und Neigungen – 2a: Die Effeminierten im alten Medina
Geschlechter und Neigungen – 2b: Die Effeminierten im Hadith des Propheten
Geschlechter und Neigungen – 2c: Die khanīth, weibliche Männer in Oman
Geschlechter und Neigungen im vormodernen Nahen Osten – 3

ANMERKUNGEN
1. Aghānī ii:165 (die­ ältere Ausgabe@)
2. Aghānī ii:167
3. Die einzigen Namen, unter denen sie bekannt sind, sind weiblich anmutende Künstlernamen: Hīt, Ṭuwaiys („kleine Pfau“), ad-Dalāl („Koketterie“), Bard al-Fu’ād („Herzenskühle“), Naumat al-Ḍuḥā („Morgenschläfchen“), Qand („Zuckerl“), Raḥma („Barmherzigkeit“) und Hibat Allāh („Geschenk Gottes“).
4. Aghānī vii:118ff.; 128–33
5. Aghanī iv:59, 62, 64
6. Aghanī iv:281. (Neu)
7. Aghanī i: 95–97

BIBLIOGRAFIE
– Abū al-Faradj al-Iṣfahānī, Kitāb al-aghānī, 24 Bde., Kairo 1927–74.
– Everett K. Rowson, „The effeminates of early Medina,“ JAOS 1991, 671–93.
– H.G. Farmer/E. Neubauer, „Ṭuways,“ in EI2.
– A. Schaade/Ch. Pellat, „Djamīla,“‘ in EI2.

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Das islamische Bilderverbot

Sie sind wieder da: geköpfte Schaufensterpuppen in afghanischen Bekleidungsgeschäften (Abb.1). Aber nicht nur Frauenbilder schänden die an die Macht zurückgekehrten Taliban. Auch bei Männerbildern werden die Köpfe entfernt oder geschwärzt, etwa auf Werbeplakaten für Bodybuilding-Studios. Körperlichkeit an sich ist offenbar kein Problem, denn bis auf einen winzigen Slip sind solche Männer nackt – nur die Köpfe fehlen und somit das Leben.

Die Taliban wollen damit die strikte Einhaltung des vermeintlichen islamischen Bilderverbots demonstrieren.. Tatsächlich gab es in islamischen Umgebungen von alters her Vorbehalte gegen die Darstellung beseelter Lebewesen, insbesondere von Menschen. In sunnitischen Moscheen gelten solche Darstellungen bis heute als unerwünscht, und Porträts des Propheten Mohammed und seiner Gefährten sind auch außerhalb der Moschee problematisch, aber nicht ganz unmöglich. Die generelle Abneigung gegen alles Bildliche, sofern sie jemals existiert hat, ist nach der Erfindung der Fotografie jedoch fast widerstandslos abgeschafft worden; sogar die frommsten Prediger lassen sich ablichten (Abb. 2).  

Im Koran gibt es auch kein solches allgemeines Verbot. Zwar wettert die Schrift gegen Götzenbilder (tamāthīl), aber das ist noch kein generelles Bilderverbot. Gab es im 7. Jahrhundert überhaupt noch Götzenbilder? → Hawting ist der Meinung, dass es mit dem Heidentum in 5. Jahrhundert wohl getan war und → Crone hat gezeigt, dass Götzenbilder im Koran nur in historischen Kontexten vorkommen, zum Beispiel in den Erzählungen über Ibrāhīms Kampf gegen die Götzen.

Hadithe sind diejenigen Texte, in denen Bilder (ṣūra/ṣuwar/taṣāwīr, auch tamāthīl) verpönt werden, freilich oft nur bedingt. Eine Übersicht aller Texte zum Thema in vielen Hadith-Sammlungen bietet → Van Reenen, The ‚Bilderverbot‘. Er hat nicht weniger als 325 Hadithe zum Thema gesammelt und beispielhaft klassifiziert und analysiert. Darunter sind aber viele Dubletten und Varianten – letztlich handelt es sich um wenige Basistexte. Nachfolgend einige Beispiele, die ich jeweils in der kürzesten Fassung zitiere:

  • Der Prophet hat gesagt: Engel betreten kein Haus, in dem sich ein Hund oder eine bildliche Darstellung befindet.1

Die Erwähnung des Hundes macht deutlich, um was es hier geht: So ein Haus ist unrein, ungeeignet für das Gebet..

  • Aischa erzählte: Eines Tages, als ich einen Vorhang mit Darstellungen von Lebewesen (tamāthīl) vor eine Nische aufgehängt hatte, kehrte der Prophet von einer Reise zurück. Als er ihn sah, zerriss er ihn und sagte: „Diejenigen, die am Tag des Gerichts die schwerste Strafe bekommen, sind diejenigen die Gottes Schöpfung nachahmen!“ Wir machten daraus ein (oder zwei) Kissen.2

So musste das Gebet nicht vor solchen Abbildungen verrichtet werden und man konnte seine Verachtung dafür ausdrücken indem man sich darauf setzte.

  • Ich habe Mohammed sagen hören: Wer in dieser Welt ein Bild (ṣūra) macht, den wird am Jüngsten Tag beauftragt, ihm Leben einzuhauchen, und das wird er nicht können.3

Gemäß dem Koranver 59:24 ist nur Gott muṣawwir, also „derjenige, der ein Bild (ṣura) macht“. Auch hier ist der Punkt, dass der Mensch sich nicht anmaßen sollte, Gottes Schöpferkraft nachzueifern.
In einigen Hadithen wird auch berichte, dass der Prophet Bilder, die sich auf und in der Ka‘ba befanden, vernichten ließ. Manchen Texten zufolge durfte jedoch eine Madonna mit Kind verschont bleiben.4

Unter den ersten Kalifen gab es das Bilderverbot offensichtlich noch nicht. Münzen lügen nicht: Im westlichen Teil des arabischen Reiches wurden weiterhin römische Münzen mit Kaiserbild verwendet, manchmal sogar mit drei Kaisern. In Persien gab es persische Münzen mit Kaiserbild und auf dem Revers einem Feueraltar mit zwei Priestern. Bei Nachprägungen wurden Kreuze entfernt und islamische Formeln hinzugefügt, aber die Kaiserbilder wurden nicht entfernt. Kalif ‘Abd al-Malik (reg. 685–705) ließ als erster muslimischer Herrscher sich selbst auf seinen Münzen darstellen, mit Schwert und Peitsche, damit jeder wüsste, was für eine Art Herrscher er sei (Abb. 3). 696 ließ er aber Golddinare nur mit Texten prägen: Sie enthielten einen Koranvers, das Glaubensbekenntnis und eine Jahreszahl (Abb. 4). Woher dieser Sinneswandel kam ist unklar — war der Kalif vielleicht verärgert, weil der römische Kaiser Justinian II (reg. 685–695, 705–711) Münzen prägen ließ mit seinem eigenen Bildnis auf der einen und Jesus Christus mit dem Kreuz auf der anderen Seite (Abb. 5)? Und hatte Justinian das wirklich getan mit der Absicht, seinen arabischen Rivalen zu ärgern? Vielleicht spielte es mit, aber der Kaiser wird seine eigenen Gründe gehabt haben, sei es innenpolitische oder persönliche. Auch der Kalif kann seine eigenen Gründe gehabt haben für seine neue Münze: Die passte natürlich gut zu der Islamisierung, die er gerade in seinem Reich durchführte.

Viele der Hadithe entstanden in der Mitte des 8. Jahrhunderts, also in der heißen Phase des christlichen Bilderstreits. Aber die Bildlosigkeit des Islams ist älter. Sowohl im Felsendom in Jerusalem (692) als auch in der Großen Moschee von Damaskus (708–715) fehlen Abbildungen von Menschen oder Tieren gänzlich. Was hätte man auch abbilden können? Für die starken Symbolbilder des Christentums (Kreuz, Fisch, Gottesmutter, Apostel) hatte der Islam keine Entsprechungen.

Ob und wie das islamische Bilderverbot mit dem Bilderstreit in der oströmischen Staatskirche in Verbindung steht, bleibt unklar. Streitpunkt für die Kirche war die Frage, ob und wie die Verehrung von Ikonen in Gotteshäusern zulässig sei. Gar nicht, sagte Kaiser Leo III im Jahre 726. Der Staatsapparat und die Armee folgten ihm, während die Mönche und die einfachen Gläubigen die Verehrung der Ikonen verteidigten und weiterhin praktizierten. Der bekannte Kirchenvater Johannes von Damaskus (ca. 675–750), der in der Nähe von Jerusalem lebte, also mitten im arabischen Reich, verfasste drei Traktate zur Verteidigung der Ikonenverehrung.

Kaiser Leo ließ inzwischen Münzen mit nur Text prägen, was vermuten lässt, dass er ‘Abd al-Malik nacheiferte (Abb. 6). War das islamische Bilderverbot der Anlass für den christlichen Bilderstreit oder war es doch eher umgekehrt? So genau weiß es niemand, aber es ist klar, dass im Islam das Bilderverbot kein so wichtiges Thema war, während der christliche Bilderstreit dreißig Jahre lang die Gemüter erhitzte und im neunten Jahrhundert noch einmal aufflammte. Im Christentum haben am Ende die Ikonen gesiegt; im Islam eben nicht. 

Das Bilderverbot galt jedoch nur im religiösen Kontext und wurde nicht einmal von allen Schriftgelehrten vertreten. In den Jagdschlössern der Umayyaden-Kalifen befanden sich profane Bilder und Statuen, sogar von nackten und halbnackten Frauen (Abb. 7–8), und sie dürften auch sonst nicht gefehlt haben. Vereinfachend kann man sagen, dass an der Wand hängende oder hochstehende Bilder verboten sind, weil dann die Gefahr der Anbetung besteht; dass Bilder an öffentlichen Plätzen, wo gebetet wird, nicht erwünscht sind, da sie diese verunreinigen; und dass man an Gottes Stelle nichts schaffen wollen dürfe – was besonders die Bildhauerkunst verhinderte. Im privaten Bereich hingegen waren Abbildungen von Lebewesen normal.

Die Kirchen haben die bildenden Künste im Laufe der Jahrhunderte stark gefördert, aber die Moschee hatte keine solche Funktion. Auch die Fürstenhöfe bestellten keine großen bildlichen Werke. Soweit ein Mäzenatentum existierte, förderte es Architektur und Arabesken; ansonsten nur kleinformatige Arbeiten. Es gibt traditionell viele Tier- und Menschenbilder als Dekoration auf Geschirr, als Illustrationen in Biologie- und Geschichtsbüchern, auf Textilien und Papier, Porträts und Gruppenszenen, sogar mit dem Propheten (Abb. 9–11), unzählige Miniaturen in Büchern, Puppen für das Puppentheater und „Volkskunst“‘: Groschendrucke und Wandmalereien von der Pilgerreise nach Mekka. Je später, desto mehr bildende Kunst es gab, so scheint es; aber es kann auch sein, dass viel verloren gegangen ist. In späteren Jahrhunderten entstanden auch einzelne Malereien, vor allem in der Türkei, in Persien und Indien (Abb. 12–15).

Im 19. Jahrhundert ermöglichten die Lithographie und die Fotografie die Verbreitung von Bildern in großem Umfang. Die ältesten Fotos aus Konstantinopel und Kairo datieren von etwa 1850; die ersten Porträtfotos von der Arabischen Halbinsel von 1861. Von da an wollten alle geknipst werden und das Bilderverbot verschwand. Natürlich war es nötig, dies religiös zu begründen, aber das erwies sich als relativ leicht: Bei diesen neuen Bildern läge ja jeder Gedanke an Verehrung fern und etwas kreieren taten die Fotografen ohnehin nicht, wo die Kamera das eigentliche Werk tat und das Abgebildete nur „wiedergab“. Das Fernsehen nahm die letzten Hemmungen weg. Nur in schwer islamistischen Kreisen wird es noch durchgesetzt: bis vor kurzem bei extremen Wahhabis und jetzt wieder bei den Taliban.

ANMERKUNGEN
1. Bukhārī, Libās 88: قال النبي ص لا تدخل الملائكة بيتا فيه كلب ولا تصاوير (varianten: صور ، تماثيل )
2 Bukhārī, Libās 91: […] وعن عائشة ر قالت: قدم رسول الله ص من سفر وقد سترت بقرام لي على سهوة لي فيه تماثيل فلما رآه رسول الله ص هتكه وقال: أشد الناس عذابًا يوم القيامة الذين يضاهون بخلق الله. قالت: فجعلناه وسادة أو وسادتين.
3. Bukhārī, Libās 97: سمعت محمدا ص يقول : من صوّر صورة في الدنيا كُلّف يوم القيامة أن ينفخ فيها الروح وليس بنافخ.
4. Al-Azraqī, Akhbār Makka wa-mā djāʾa fīhā min al-āthār, Hrsg. Rushdī aṣ-Ṣāliḥ Malḥas, 2 dln., Madrid 1965, 165: لما كان يوم فتح مكة دخل رسول الله ص … وأمر بطمس تلك الصور فطمست. قال: ووضع كفيه على صورة عيسى بن مريم وأمه عليهما السلام. وقال: امحوا جميع الصور الا ما تحت يدي، فرفع يديه عن عيسى بن مريم وأمه Auch S. 168–169.

BIBLIOGRAFIE
– Patricia Crone, „The Religion of the Qurʾānic Pagans: God and the Lesser Deities,“ Arabica 57 (2010), 151–200.
– G. R Hawting, The Idea of Idolatry and the Emergence of Islam. From Polemic to History, Cambridge 1999.
– Silvia Naef, BIlder und Bilderverbot im Islam, München 2007. Das französische Original: Y a-t-il une «question de l’image» en Islam?, Paris 2004.
– Daan van Reenen, „The Bilderverbot, a new Survey,” Der Islam 67(1), (1990), 27–77.

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Die Ka‘ba zerstört, der Koran verschwunden

Kurz vor dem Jüngsten Tag, also demnächst, werden nach sowohl christlichen wie auch islamischen Überlieferungen furchterregende Geschöpfe erscheinen, die der Menschheit das Leben schier unerträglich machen und Weh über die Erde verbreiten. Bei den Christen ist die Hauptfigur der Antichrist, bei den Muslimen der daǧǧāl, ebenfalls eine Art Antichrist.1 Aber Muslime kennen noch andere Endzeitgestalten: den Qaḥtānī, den Sufyanī und Ḏū as-Suwaiqatain. Überdies brechen zwei gewalttätige Völker los: Gog und Magog (Arabisch: Yāǧūǧ und Māǧūǧ) sowie ein Tier aus der Erde, und es ereignen sich Naturkatastrophen. Nach beiden Religionen wird dieser Schreckensperiode von dem wiederkehrenden, triumphierenden Jesus ein Ende gesetzt, und im Islam dazu noch von dem Mahdi. Es sind alte Prophezeiungen, die in Perioden der Ruhe und Wohlfahrt niemanden interessieren, aber in harten Zeiten immer wieder Menschen beängstigen.

Die wohl am wenigsten bekannte arabische Endzeitgestalt ist Ḏū as-Suwaiqatain, „der Dünnbeinige,“ der die Ka‘ba zerstören wird. Hier folgen zwei Hadithe zum Thema, überliefert von Bukhārī (810–870) bzw. Aḥmad ibn Ḥanbal (780–855):

  • Von ‘Abdallāh ibn ‘Umar: Ich habe den Propheten sagen hören: „Die Ka‘ba wird von Ḏū as-Suwaiqatain aus Äthiopien zerstört, der sie ihres Zierrats (ḥilya)2 beraubt und ihr die Hülle abzieht. Es ist, als ob ich ihn vor mir sehe: ein glatzköpfiges, krummbeiniges Männchen; er schlägt mit seiner Schaufel und seiner Spitzhacke darauf.“3
  • In einem Hadith des Hudaifa ibn al-Yaman heißt es: „Es ist, als ob ich einen Äthiopier vor mir sehe, mit roten Beinen und blauen Augen, mit einer platten Nase und einem dicken Bauch. Er hat seine Füße parallel auf die Ka‘ba gesetzt; er und einige Kumpane von ihm reißen sie Stein nach Stein ab und reichen einander die Steine weiter, die sie letztendlich ins Meer werfen.“4

Ein komischer Mensch ist das: Rote Beine und blaue Augen sind in Äthiopien rar, und dicke Bäuche ebenfalls. Aber „Äthiopisch“ steht im Hadith meist stellvertretend für „christlich“.5 Die Gefahr für die Ka‘ba kommt aus christlicher Ecke. Einer berühmten Erzählung zufolge versuchte Abraha, in vorislamischer Zeit der äthiopische Herrscher des Jemen, mit seinem Kriegselefanten Mekka zu erobern. Das sei durch göttliches Eingreifen misslungen, aber am Ende der Zeiten lasse Gott dann zu, dass Äthiopier das tun, was sie anscheinend schon immer tun wollten: die Ka‘ba abreißen. 

Was ist das mit den Beinen? Ḏū as-Suwaiqatain bedeutet wörtlich „der mit kleinen Unterschenkel/Beinen“. Eine Anzahl Araber, denen ich das Wort vorgelegt habe, deutete es spontan wie ich selbst: „kurze Beinchen“. Der Kommentator an-Nawawī (1234–77) ist aber der Auffassung, dass dünne Beine gemeint sind. Er fügt hinzu: „Von den Schwarzen ist bekannt, dass sie dünne Beine haben.“ Dem kann man beipflichten, insoweit es die Ureinwohner Nordostafrikas betrifft, die tatsächlich oft von schlanker und ranker Gestalt sind. Und die alte arabische Poesie beweist, dass er Recht hat.

Einige Klarheit über diese merkwürdige Gestalt gab mir nämlich die Lektüre von Manfred →Ullmann, Der Neger. Ullmann hat Hunderte alte arabische Verse gesammelt, in denen ein Ding, Tier oder Mensch mit einem Äthiopier oder einem anderem schwarzem Menschen verglichen wird. In etwa zwanzig Gedichtfragmenten wird ein Vogel Strauß mit einem Äthiopier oder einem Inder verglichen (S. 30–44). Die gemeinsame Eigenschaft, auf der das Vergleichen beruht, ist meistens das Schwarz der Haut und der Flügel und Deckfedern, aber es können auch die ranken Beine sein.
Ullmann zitiert S. 30 zum Beispiel ein Fragment des vorislamischen Dichters Ṣalā’a ibn ‘Amr, auch genannt al-Afwah al-Audī (gest. 570?). In seiner Übersetzung lautet es:

  • Ein [Straußenhahn] mit rotgefärbten Beinen […] Er gleicht einem schwarzen Abessinier mit dünnen Schenkeln, dem schwarze, unverständlich plappernde [Kinder] folgen, die Ringe in den Ohren haben.6

Nach der Lektüre dieses Verses wird der Hadith von Hudaifa verständlicher: Der Erzähler wollte wohl einen Äthiopier beschreiben, aber dann kam ihm der aus der Poesie bekannte Vergleich mit dem Strauß in den Sinn, schwarz und mit roten Beinen, der mit ihm durchging: Sowohl Strauße als auch Äthiopier sind ja für ihre dünnen Beine bekannt. Und während der Balz werden die Beine mancher Straußenarten tatsächlich rot! Der „dicke Bauch“ ähnelt natürlich dem dicken, dunklen Straußkörper, der mit seinen dünnen Beinen kontrastiert. Im Hadith wird nicht der Vogel Strauß mit einem Äthiopier verglichen, wie in der Poesie, sondern umgekehrt.

Auch zu seinen blauen Augen gibt es einiges zu sagen. Das hier oben ist einfach eine falsche, oberflächliche Übersetzung von mir, die sicherlich auch viele Kollegen machen würden. Azraq bedeutet heutzutage zwar ‘blau’, aber bei Farben in alten Texten empfiehlt es sich, in Wolfdietrich →Fischers Studie zu den altarabischen Farbbezeichnungen einzutauchen. Ullmann und Fischer haben beide monumentale Beiträge zur Kenntnis des alten Arabisch geleistet, die leider von modernen Arabisten zu wenig konsultiert werden. Zu azraq bietet Fischer nicht weniger als acht Seiten (S. 47–55). Daraus wird bald ersichtlich, dass die Augen des Ka‘ba-Zerstörers ganz und gar nicht blau sind. Im alten Arabisch bedeutete azraq etwas wie „schillernd, glitzernd, changeant“; man denke an die schillernden oder flackernden Augen eines Raubtiers. Und diese furchterregende Augen hat der Erzähler wohl von der anderen Endzeitfigur, dem Antichrist (daǧǧāl) geborgt, der genau solche hat.  

Im ersten zitierten Hadith ist Ḏū as-Suwaiqatain „glatzköpfig, krummbeinig“. Damit weiß ich nicht viel anzufangen. Vielleicht will damit nur gesagt sein, dass er äußerst hässlich ist?

Die Ka‘ba wird also zerstört, aber es kommt noch schlimmer: Auch den Koran wird es in der Endzeit nicht mehr geben, nach einem Hadith, der von ad-Darimi (797–869) überliefert wird:

  • Von Abdallah ibn Mas‘ud: „Rezitiert den Koran oft, bevor er weggenommen wird.“ Es wurde gesagt: „Diese Bücher werden also weggenommen werden! Aber was is mit dem, was in den Herzen der Menschen [auswendig gelernt] ist?“ Er antwortete: „Eines Nachts wird etwas kommen und es wegnehmen und am Morgen werden sie ohne es aufwachen. Sie werden sogar den Satz: ‘Es gibt keinen Gott außer Allah’ vergessen und sie werden anfangen, die Sprüche und Dichtung der Heidenzeit zu rezitieren. Das ist, wenn das Urteil über sie ergeht (Koran 27:82).“7

Warum wurden solche Texte erzählt? Um die Gläubigen erschaudern zu lassen und sie zu ermutigen, auf das Jüngste Gericht vorbereitet zu sein, indem sie ihren Glaube pflegen: zu pilgern und den Koran zu rezitieren so lange es noch geht. Das Urteil steht ja bevor! So man will, kann man auch Trost daraus schöpfen. Wie schlimm die Zeiten auch sein mögen, noch sind die Ka‘ba und den Koran vorhanden.

BIBLIOGRAPHIE
– Wolfdietrich Fischer, Farb- und Formbezeichnungen in der Sprache der altarabischen Dichtung. Untersuchungen zur Wortbedeutung und zur Wortbildung, Wiesbaden 1965.
– Manfred Ullmann, Der Neger in der Bildersprache der arabischen Dichter, Wiesbaden 1998.

ANMERKUNGEN
1. Er stammt aus der Bibel, Matthäus 24:24. In der syrischen Übersetzung: mesīḥē daggālē, „falsche Messiasse“. Auch im Arabischen kommt die Wortkombination al-masīḥ ad-daǧǧāl häufig vor. Zu unterscheiden sind: der „normale“ daǧǧāl, der auf einer Insel im Westen festgebundene daǧǧāl, und Ibn Ṣayyād. Zum Letzteren s. Wim Raven, „Ibn Ṣayyād as an Islamic ‘Antichrist’. A reappraisal of the texts,“ in Wolfram Brandes und Felicitas Schmieder (hrsg.), Endzeiten. Eschatologie in den monotheistischen Weltreligionen, Berlin 2008, S. 261–291; hier herunterzuladen. Zu anderen daǧǧāl-Varianten s. David Cook, Studies in Muslim Apocalyptic, Princeton (NJ) 2002.
2. Textvariante: „ihrem Schatz (kanz)“. Was hierunter zu verstehen ist, ist fraglich. In unserer Zeit ist die Ka‘ba leer.
3. Aḥmad ibn Ḥanbal, Musnad ii, 220:

حدثنا عبد الله حدثني أبي ثنا أحمد بن عبد الملك وهو الحراني ثنا محمد بن سلمة عم محمد بن إسحق عن ابن أبي نجيح عن مجاهد عن عبد الله بن عمر، وقال سمعت رسول الله ص يقول: يخرب الكعبة ذو السويقتين من الحبشة ويسلبها حليتها، ويجرّدها من كسوتها، ولكأني أنظر إليه أصيلع أفيدع يضرب عليها بمسحاته ومعوله.

4. Al-Qasṭallānī, Irshād al-Sarī fī Sharḥ al-Bukhārī, dl. iii, Bulaaq 1304, p. 161::

كما ورد في حديث حذيفة مرفوعًا، كأني أنظر الى حبشي أحمر الساقين أزرق العينين أفطس الأنف كبير البطن وقد صف قدميه على الكعبة هو وأصحاب له ينقضونه حجرًا حجرًا يتداولونها حتى يطرحرها في البحر.

5. Wim Raven, „Some early Islamic texts on the negus of Abyssinia,“ JSS 33 (1988), 197–218, insbes. S. 216–18; hier herunterzuladen.

6. خَاضِبٌ … كَالأسْوَدِ الحَبَشِيِّ الحَمْشِ يَتْبَعَهُ سُودٌ طَمَاطِمُ فِي آذَانِهَا

7. Al-Dārimī, Sunan, Faḍā’il al-Qur‘ān 4:

عَبْدِ اللَّهِ بن مسعود قَالَ : ” أَكْثِرُوا تِلاوَةَ الْقُرْآنِ قَبْلَ أَنْ يُرْفَعَ ” قَالُوا : هَذِهِ الْمَصَاحِفُ تُرْفَعُ ! فَكَيْفَ بِمَا فِي صُدُورِ الرِّجَالِ ؟ قَالَ : ” يُسْرَى عَلَيْهِ لَيْلا فَيُصْبِحُونَ مِنْهُ فُقَرَاءَ ، وَيَنْسَوْنَ قَوْلَ لا إِلَهَ إِلا اللَّهُ“، وَيَقَعُونَ فِي قَوْلِ الْجَاهِلِيَّةِ وَأَشْعَارِهِمْ ، وَذَلِكَ حِينَ يَقَعُ عَلَيْهِمْ الْقَوْلُ

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Mohammeds Selbstmordvorhaben

In at-Tabarīs großem Geschichtswerk steht auch Ibn Ishāqs Erzählung über Mohammeds erstes Offenbarungserlebnis auf dem Berg Hirā’. Sie ist dem Propheten selbst in den Mund gelegt; wer sonst wäre als Quelle plausibel? Die ganze Erzählung wird in diesem Lesewerk auch mal abgedruckt werden; für den Augenblick beschränke ich mich auf den Selbstmordgedanken des Propheten. Er hat gerade erzählt, wie ihm Djibrīl (Gabriel) im Traum die ersten Koranverse übermittelt habe; dann fährt er fort:

  • … Dies rezitierte ich; dann ließ er mich los und ging weg, und als ich aufwachte war es, als wäre es in mein Herz geschrieben.
    Nun gab es kein Geschöpf, das mir verhasster war als Dichter und Besessene; ich konnte sie einfach nicht riechen. Und ich dachte: „O wehe, dieser Nichtswürdige“—er meinte sich selbst—„ist ein Dichter oder Besessener. Aber das werden die Quraisch nie von mir sagen! Ich werde hoch auf den Berg steigen und mich herunterstürzen und töten; dann habe ich Ruhe.“ In der Absicht machte ich mich also auf den Weg, aber als ich mitten auf dem Berg war, hörte ich eine Stimme vom Himmel: „Mohammed! Du bist der Gesandte Gottes, und ich bin Djibrīl.“ …1

Diese Fassung der Erzählung ist wenig bekannt; meistens liest man Ibn Ishāqs Erzählung in der Rezension des Ibn Hishām, die für viele „die“ Biografie des Propheten ist:

  • … Dies rezitierte ich; dann ließ er mich los und ging weg, und als ich aufwachte war es, als wäre es in mein Herz  geschrieben. Ich machte mich also auf den Weg, und als ich mitten auf dem Berg war, hörte ich eine Stimme vom Himmel: „Mohammed! Du bist der Gesandte Gottes, und ich bin  Djibrīl.“ …1

Ibn Hishām hat das mit dem Selbstmordgedanken herausgeschnitten und die beiden verbleibenden Texthälften etwas krude wieder zusammengenäht. Die Naht ist deutlich erkennbar. Warum hat er das getan? Er wollte offensichtlich keinen Text herausgeben, in dem etwas Negatives über Mohammed vorkommt. Aber darin zeigte er wenig Gespür für Erzählen und für islamische Theologie. Denn ist es nicht plausibel, dass Mohammed, der dem Koran zufolge ein normaler Mensch war, in dem Augenblick äußerst bedrückt gewesen sei? Nicht nur Propheten wissen, dass einer mystischen Erfahrung oft depressive Gefühle folgen. Überdies wirkt so in der Erzählung die Aufhebung aus dem Tief umso schöner. Gott greift sofort ein: So bald Mohammed den Berg hochsteigt, bekommt er abermals eine mystische Vision und es erscheint ihm der Engel über die ganze Breite des Himmels.2 Wenn das keine erbauliche Geschichte ist! Eigentlich ist sie erst schlüssig durch den Selbstmordgedanken. Gott bietet Perspektive bei Trübsinn, Gott schützt seinen Propheten vor dem Bösen, genau wie hier. Aber nein, der brave Ibn Hishām verstand so etwas nicht, und wohl mit dadurch ist sein Buch ein Bestseller geworden.

Die Möglichkeit den Propheten überhaupt an Selbstmord denken lassen zu können wird durch Koran 18:6 dargereicht: فلعلك بـٰخع نفسك على أثـٰرهم إن لم يؤمنوا بهذا الحديث أسفا . „Vielleicht willst du, wenn sie an diese Verkündigung nicht glauben, dich selber umbringen […],“ und durch K. 26:3:  لعلك بـٰخع نفسك ألاّ يكونوا مؤمنين . „Vielleicht willst du dich selber umbringen, weil sie nicht gläubig sind.“ Zwar hat Ullmann3 nachgewiesen, dass das dort verwendete Wort bākhi‘ nicht „umbringen“ bedeutet, aber viele Koranausleger haben es doch so aufgefasst, und der Erzähler des obigen Textes könnte das ebenfalls getan haben..

ANMERKUNGEN
1. At-Tabarī, [Ta’rīkh al-rusul wal-mulūkAnnales, hrsg. M.J. de Goeje et al., 14 Bde., Leiden 1879–1901, i, 1150.

قال: فقرأتها ثم انتهى فانصرف عني وهببت من نومي ، فكأنما كتبت في قلبي كتابا. (قال: ولم يكن من خلق الله أحد أبغض إلي من شاعر أو مجنون، كنت لا أطيق أن أنظر إليهما، قال: قلت إن الأبعد – يعني نفسه – لشاعر أو مجنون، لا تحدث بها عني قريش أبدا! لأعمدن إلى حالق من الجبل فلأطرحن نفسي منه فلأقتلنها فلأستريحن.) قال: فخرجت (أريد ذلك) حتى إذا كنت في وسط من الجبل سمعت صوتا من السماء يقول : يا محمد، أنت رسول الله وأنا جبريل.

Ibn Hishām hat denselben Text, aber er hat die eingeklammerten Teile gestrichen: Das Leben Muhammed’s nach Muhammed Ibn Ishâk bearbeitet von Abd el-Malik Ibn Hischâm, ed. F. Wüstenfeld, Göttingen, 2 Tle., 1858–60, i, 153.
2. Oder ist es Gott selbst? Vgl. Koran 53:8–10: . ثم دنا فتدلّى فكان قاب قوسين أو أدنى فأوحى إلى عبده ما أوحى  „Hierauf näherte er sich und kam (immer weiter) nach unten und war (schließlich nur noch) zwei Bogenlängen entfernt oder noch näher; darauf offenbarte er seinem Knecht das, was er offenbarte.“ Wenn das Subjekt Gabriel ist, ist „sein Knecht“ merkwürdig. Mohammed ist Gottes, nicht Gabriels Knecht.
3. Manfred Ullmann, „Wollte Mohammed Selbstmord begehen? Die Bedeutung des arabischen Verbums baha‘a,“ in Die Welt des Orients 34 (2004), 64–71.

Diakritische Zeichen: aṭ-Ṭabarī, Ibn Ishāq, Ḥirāʾ, Ǧibrīl, Ibn Hišām, Taʾrīḫ, bāḫiʿ, baḫaʿa

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Mohammeds Katze Made in China?

Bekannt ist eine obskure, sehr späte aber rührende Geschichte, die gerne erzählt wird um Mohammeds Liebe für seine Katze Mu‘izza und für Katzen im Allgemeinen zu illustrieren.:

  • Eines Tages wollte der Prophet aufstehen zum Gebet, aber die Katze lag schlafend auf dem Ärmel seines Gewandes. Um das Tier nicht zu wecken schnitt er den Ärmel ab und erschien mit beschädigtem Gewand beim Gebet. Als er zurückkam aus der Moschee dankte Mu‘izza ihm, indem sie sich verneigte.

Für diese Anekdote fand ich nur zwei Quellen, die beide keine sind: Wikipedia und ein Buch der Katzenliebenden Orientalistin Annemarie Schimmel.1 Obwohl sie eine Gelehrte war, gibt sie auch keine wirkliche Quelle. Kurz gesagt, es ist unbekannt, woher die Geschichte stammt.

Die Erzahlung gibt es aber auch in ganz anderer Besetzung. Nach dem chinesischen Historiker Bān Gù (32–92) versuchte der Han-Kaiser Āi dì (reg. 7–1 v.Chr.) einmal aufzustehen, als sein Geliebter auf dem Ärmel seines Gewandes eingeschlafen war. Um ihn nicht zu wecken schnitt er seinen Ärmel ab und erschien mit beschädigtem Gewand in der Öffentlichkeit. Seine Hofdiener übernahmen darauf diese Tracht um die Liebesbeziehung zu feiern.

Patrick Huang in London hat mir den chinesischen Originaltext geschickt. Ich kann ihn selbst nicht lesen, aber ich drucke ihn hier ab für diejenigen, die es können.2 Huang merkt an, dass das Hàn Shū 漢書, die Schrift des Bān Gù 班固, in dem die Geschichte vorkommt, ein großes historisches Werk mit offiziellem Status ist, das sich ausschließlich mit China befasst. Obwohl es auch in Korea, Japan und Vietnam gelesen wurde, hatte es dem „Westen“ nichts zu bieten und wird wohl nicht in die islamische Welt gebracht worden sein. Die Geschichte dieser homosexuellen Liebe und des Ärmels ist Huang zufolge in der chinesischen Überlieferung mehrmals überliefert und sogar sprichwörtlich geworden.

Von der Flöte oder dem Rad kann man sich vorstellen, dass sie mehrmals an verschiedenen Orten in der Welt erfunden wurden. Auch gibt es Motive in der Mythologie und in Volksmärchen, die universell erscheinen. Aber eine solch spezifische Erzählung wird nur einmal erfunden und macht danach eine Reise durch die Kulturen. Die chinesische Erzählung ist mindestens acht Jahrhunderte älter als die islamische; wahrscheinlich noch viel mehr. Wie aus dem Kaiser ein Prophet und aus seinem Freund eine Katze wurde, bleibt unklar.

Noch komplizierter wird es durch den Hinweis von Patrick Huang auf ein undatierbares japanisches(!) Bild, das eine Frau zeigt, die die Kante ihres Kimonos abschneidet, um eine schlafende Katze nicht zu wecken.3 Das Bild erwähnt ein Gedicht von Ki no Tsurayuki 紀 貫 之, einem Japanischen Dichter des 9. Jahrhunderts, in dessen Werk das Motiv jedoch nicht vorkommt. Der Verweis scheint apokryphisch und das Bild frühneuzeitlich zu sein.

Wie das Motiv durch die Welt gereist ist bleibt schleierhaft.

ANMERKUNGEN
1. Wikipedia und Annemarie Schimmel, Die orientalische Katze. Geschichten, Gedichte, Sprüche, Lieder und Weisheiten, München [1989], S. 11. Weder die Wikipedia noch Frau Schimmel bietet einen brauchbaren Quellennachweis.
2. 賢傳漏在殿下,為人美麗自喜,哀帝望見,說其儀貌,識而問之,曰:「是舍人董賢邪?」因引上與語,拜為黃門郎,繇是始幸。問及其父為雲中侯,即日徵為霸陵令,遷光祿大夫。賢寵愛日甚,為駙馬都尉侍中,出則參乘,入御左右,旬月間賞賜絫鉅萬,貴震朝廷。常與上臥起。##嘗晝寢,偏藉上袖,上欲起,賢未覺,不欲動賢,乃斷袖而起##。其恩愛至此。Es ist der biografische Teil zu Dong Xian 董賢, der Freund des Kaisers Āi dì 哀帝. Der Satz ab ## handelt vom Abschneiden des Ärmels.
3. https://twitter.com/aymro/status/989647167844335618?lang=en

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Der Ameisenlöwe

In einem arabischen Text stieß ich auf das Wort layth, „Löwe“. Aber das passte nicht in den Kontext, es sollte eher ein Insekt sein, so etwas wie eine Spinne. Der syrische Name stand daneben: aryā dedēbābē, der „Fliegenlöwe“. Und in der Tat, das passte. Wir kennen ihn aber als Ameisenlöwe.
In der Antike gab es mehrere zusammengesetzte Tiere. Von den meisten hören wir nicht mehr, aber der Ameisenlöwe ist noch nicht ausgestorben. Im Gegenteil: 2010 war er noch das Insekt des Jahres. Er ist ein nachtaktiver Netzflügler: Myrmeleon formicarius aus der Familie der Ameisenlöwen (Myrmeleontidae).
Als geflügeltes Insekt ist er einer unter vielen. Außergewöhnlich ist jedoch die Larve dieses Tieres. Zur Beutefang gräbt die kleine Larve ein trichterförmiges Loch im lockeren Sand. Wenn eine Spinne oder Ameise hochläuft und auf der Schräge des Trichters landet, kann sie nicht mehr zurück. Die Larve wirft mit ihren Beinen noch mehr Sand auf, das Beutetier rutscht weiter nach unten und wird zwischen den starken Larvenkiefern zerquetscht.

Mich beschäftigte kurz die Frage, woher der Name „Ameisenlöwe“ stammt. Ein Löwe ist zwar auch ein Raubtier, hat aber ansonsten wenig mit diesem Tier gemeinsam, weder in der Größe noch im Verhalten.
Der Ameisenlöwe ist nicht selten und wurde wegen seiner Jagdtechnik von Menschen überall bemerkt. Die alten Griechen kannten ihn mit Sicherheit. Bei Aristoteles heißt er (vielleicht) λύκος, lykos, „Wolf,“ was ebenfalls schwer zu verstehen ist.

Der Name geht auf die Bibel zurück, genauer gesagt auf die griechische Übersetzung der Septuaginta von Hiob 4:11, ± 100 v. Chr. In Luthers Bibelübersetzung lautet der Vers:

  • „Der Löwe kommt um, wenn er keine Beute hat, und die Jungen der Löwin werden zerstreut.“

Der hebräische Text2 hat hier zwei Wörter, die beide „Löwe“ bedeuten: layish und lavī. Im Deutschen gibt es dafür nur ein Wort. Zweimal dasselbe Wort im selben Vers wäre unschön gewesen, aber zum Glück schafften die Jungtiere und die Umwandlung des zweiten Löwen in ein Weibchen etwas Variation. Die griechischen Bibelübersetzer fanden zweimal „Löwe“ offensichtlich auch nicht schön. Sie übersetzten deshalb das erste „Löwe“ als μυρμηκολέων (myrmēkoléōn), in der Tat wörtlich „Ameisenlöwe“, was auch immer das bedeuten mag.3 (Die lateinische Bibelübersetzung Vulgata ging in ihrer Verzweiflung noch weiter und übersetzte es als tigris, „Tiger”. Löwen und Tiger passen in Texten immer gut zusammen; deswegen.)

Was haben sich die Griechen bei ihrer Übersetzung gedacht, was für ein Tier haben sie sich vorgestellt und wie blieb der Name an dieser unliebsamen Larve hängen? Ich habe es (noch) nicht herausgefunden; Sie vielleicht? Ein Text, der vielleicht etwas weiter helfen könnte, ist Herodot (± 485–425 v. Chr), Historiae iii, 102. Dort handelt es sich um eine Wüste in Indien, in der Menschen Goldpartikel aus dem Sand gewinnen, der von sehr großen Ameisen aufgeworfen wird:

  • In dieser Wüste gibt es Ameisen, die etwas kleiner sind als Hunde, aber größer als Füchse. Ein paar wurden gefangen und leben im Tiergarten des persischen Königs. Diese Ameisen bauen ihre Höhlen unter der Erde und graben genau wie die griechischen Ameisen, denen sie sehr ähnlich sind.4

Hier gibt es immerhin riesige „Ameisen” (μύρμηκες, myrmikes), die allerdings bei weitem nicht die Größe eines Löwen erreichen. Manchmal hat man an das tibetische Murmeltier gedacht, aber es kann genau so gut ein Fantasietier sein—und letzteres trifft auch auf den biblischen Ameisenlöwen zu. Inder, die von großen Ameisen Gold wegnehmen, werden übrigens auch bei → Timotheus von Gaza (± 500) erwähnt).5

Soweit ich es überprüfen kann, kommt der griechische Name myrmēkoléōn in griechischen Texten, die älter als die Bibelübersetzung sind, nicht vor, und danach nur noch sporadisch in christlichen oder christlich beeinflussten Texten.
Das christliche Tierbuch Physiologus aus dem zweiten Jahrhundert erzählt von diesem Tier:

  • Elifas, der König von Theman, sagte: [Hiob 4:11]: „Der Ameisenlöwe ging zugrunde, weil er keine Speise fand.“ Der Physiologus sagte vom Ameisenlöwen, er sei vorne wie ein Löwe, hinten aber wie eine Ameise. Das Vatertier frisst Fleisch, die Mutter aber kaut Hülsenfrüchte. Wenn sie nun den Ameisenlöwe zeugen, zeugen sie ihn als ein Wesen von zweifacher Natur: Er kann kein Fleisch fressen wegen der Natur seiner Mutter und keine Hülsenfrüchte wegen der Natur seines Vaters; also geht er zugrunde, weil er keine Nahrung findet. (Übersetzung Schönberger)6

So wurde der Bibelvers „erklärt“. Wie es mit dem Überleben der Art weiter gehen soll, interessierte den Autor offenbar nicht. Möchten Sie die Predigt noch hören? Hier kommt sie:

  • So ist auch ein Mann mit zwei Seelen unbeständig auf all seinen Wegen (Jak. 1:7f). Man soll nicht auf zwei Wegen wandeln noch doppelzüngig reden beim Gebet. Wehe nämlich, heißt es, einem gespaltenen und sündigen Herzen, das auf zwei Wegen wandelt (Sirach 2:12). Es ist nicht schön, Ja Nein und Nein Ja zu sagen, sondern sprich Ja Ja und Nein Nein, wie es unser Herr Jesus Christus gesagt hat. (Mt 5:37, 2 Kor. 1:17f).
    Schön also hat der Physiologus vom Ameisenlöwen gesprochen.6

Findet er selbst! Es gibt Augenblicken, in denen ich es bedauere, dass das Christentum die westliche Welt erobert hat. Nun ja, davor hatte man viel mehr Götter, Opfer, Kaiserkult, Massaker in Arenen und viel weniger Nächstenliebe.

ANMERKUNGEN
1. Aristoteles, Historia Animalium 623a: Τῶν δ’ ἀραχνίων καὶ τῶν φαλαγγίων ἔστι πολλὰ γένη, τῶν μὲν δηκτικῶν φαλαγγίων δύο, τὸ μὲν ἕτερον ὅμοιον τοῖς καλουμένοις λύκοις μικρὸν καὶ ποικίλον καὶ ὀξὺ καὶ πηδητικόν· καλεῖται δὲ ψύλλα· τὸ δ’ ἕτερον μεῖζον, τὸ μὲν χρῶμα μέλαν, τὰ δὲ σκέλη τὰ πρόσθια μακρὰ ἔχον, καὶ τῇ κινήσει νωθρὸν καὶ βαδίζον ἠρέμα καὶ οὐ κρατερὸν καὶ οὐ πηδῶν. Τὰ δ’ ἄλλα πάντα, ὅσα παρατίθενται οἱ φαρμακοπῶλαι, τὰ μὲν (623a.) οὐδεμίαν τὰ δ’ ἀσθενῆ ποιεῖ τὴν δῆξιν. Ἄλλο δ’ ἐστὶ τῶν καλουμένων λύκων γένος.
2. Job 4:11: לַיִשׁ אֹבֵד מִבְּלִי-טָרֶף וּבְנֵי לָבִיא יִתְפָּרָדוּ.
3. Job 4:11, LXX: μυρμηκολέων ὤλετο παρὰ τὸ μὴ ἔχειν βοράν, σκύμνοι δὲ λεόντων ἔλιπον ἀλλήλους.
4. Hdt. Hist. iii, 102.2: ἐν δὴ ὦν τῇ ἐρημίῃ ταύτῃ καὶ τῇ ψάμμῳ γίνονται μύρμηκες μεγάθεα ἔχοντες κυνῶν μὲν ἐλάσσονα ἀλωπέκων δὲ μέζονα: εἰσὶ γὰρ αὐτῶν καὶ παρὰ βασιλέι τῷ Περσέων ἐνθεῦτεν θηρευθέντες. οὗτοι ὦν οἱ μύρμηκες ποιεύμενοι οἴκησιν ὑπὸ γῆν ἀναφορέουσι τὴν ψάμμον κατά περ οἱ ἐν τοῖσι Ἕλλησι μύρμηκες κατὰ τὸν αὐτὸν τρόπον, εἰσὶ δὲ καὶ αὐτοὶ τὸ εἶδος ὁμοιότατοι: ἡ δὲ ψάμμος ἡ ἀναφερομένη ἐστὶ χρυσῖτις.
5. Tim. Gaz., De animalibus (Περὶ ζῴων), xxxii, 2,3, Hrsg. Haupt 1869, 20; Übers. Rabinowitz und Bodenheimer 1949, 37.
6. Physiologus (Φυσιολόγος) , Griechisch/Deutsch, Hrsg und Übers. Otto Schönberger, Stuttgart 2001, Nr. 20, S. 37: Ἐλιφὰζ ὁ Θαιμανῶν βασιλεὺς ἔλεξε˙ «μυρμηκολέων ὤλετο παρὰ τὸ μὴ ἔχειν βοράν». ὁ Φυσιολόγος ἔλεξε περὶ τοῦ μυρμηκολέοντος ὃτι τὰ μὲν ἐμπρόσθια ἔχει λέοντος, τὰ δὲ ὀπίσθια μύρμηκος. ὁ μὲν πάτηρ σαρκοφάγος ἐστίν, ἡ δὲ μήτηρ ὄσπρια τρώγει. ὃταν δὲ γεννῶσι τὸν μυρμηκολέοντα, γεννῶσιν αὐτὸν δυο φύσεις ἔχοντα, καὶ οὐ δύναται φαγεῖν κρέα διὰ τὴν φύσιν τῆς μητρός οὐδε ὄσπρια διὰ τὴν φύσιν τοῦ πατρός˙ απόλλυται οὔν διὰ τὸ μὴ ἔχειν τροφήν.
Οὓτω καὶ πᾶς ἀνὴρ δίψυχος ἀκατάστατος ἐν πάσαις ταῖς ὁδοῖς αὐτοῦ. οὐ χρὴ βαδίζειν δύο τρίβους οὐδὲ δισσὰ λέγειν ἐν τῃ προσευχῇ· οὐαὶ γάρ, φησί, καρδίᾳ δισσῇ καὶ ἁμαρτωλῷ ἐπιβαίνοντα ἐπὶ δύο τρίβους. οὐ καλὸν εἰπεῖν τὸ ναὶ οὖ, καὶ τὸ οὖ ναί, ἀλλὰ τὸ ναὶ ναί, καὶ τὸ οὖ οὖ, καθὼς εἶπεν ὁ Κύριος ἡμῶν Ἰησοῦς Χριστός.
Καλῶς οὖν ἔλεξεν ὁ Φυσιολόγος περὶ τοῦ μυρμηκολέοντος

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Eine Ameise auf der Seidenstraße

Während ich an einem arabischen Text von Djibrīl ibn Nūḥ al-Anbārī (9. Jahrhundert) arbeitete, wurde ich in einem Fragment nicht nur in die griechisch-römische Antike hineingezogen, sondern auch in die chinesische! Das einschlägige Fragment war eine Beschreibung des Laufs der Fixsterne und Planeten: 

  • Denke mal an die Sterne und den Unterschied in ihren Umlaufbahnen. Einige verlassen ihren Platz am Firmament nicht und bewegen sich nur als Gruppe, andere bewegen sich durch den ganzen Tierkreis und haben ihre eigenen Kreisbahnen. So hat jeder Stern der letzteren Art zwei verschiedene Umlaufbahnen: eine allgemeine zusammen mit dem Himmelsgewölbe nach Westen und die andere eine Eigenbewegung nach Osten. Die Alten haben einen so losen Stern mit einer Ameise verglichen, die auf einem Mühlstein krabbelt. Der Mühlstein beschreibt einen Kreis nach rechts und die Ameise bewegt sich nach links, so dass die Ameise in dieser Situation zwei verschiedene Bewegungen ausführt: eine unabhängige, geradeaus und die andere unfreiwillig, zusammen mit dem Mühlstein, der sie nach hinten zwingt.1

Wer sind diese „Alten“? Ich fing an, in antiken griechischen Texten zu stöbern und fand etwas über den Himmel als Mühlstein oder Rad. Auch zur entgegengesetzten Bewegung der Planeten war einiges zu finden. Aber woher kam die Ameise? Für einen Nicht-Altphilologe ist es oft schwierig, den Weg in den altgriechischen Texten zu finden. Deshalb freute es mich, dass Dr. Stefan Hagel aus Wien mich auf einige griechische Texte aufmerksam machte, in denen die Ameise vorkommt und von denen ein Fragment von Kleomedes wohl das wichtigste ist. Über ihn ist wenig bekannt, aber er zitiert viel von Posidonius, der von ± 135–51 v. Chr. lebte und auch als Hersteller einer Planetenmaschine bekannt war. Der Mechanismus von Antikythera,2 ein astronomischer Rechenmaschine, die u.a. die Position von Sonne, Mond, Fixsternen und Planeten berechnen konnte, datiert ebenfalls aus dieser Zeit. In Kleomedes‘ Caelestia (Über die Kreisbewegungen von Himmelskörpern) steht Folgendes:

  • Der Himmel, der sich oberhalb der Luft und der Erde herumdreht und diese seine dem Wohl und der Erhaltung der ganzen Welt angepaßte Bewegung vollzieht, muß notwendigerweise bei dieser Bewegung auch alle Gestirne, die er einschließt, mitführen. Von diesen vollführen nun einige die einfachste Bewegung, indem sie lediglich von der Weltkugel mit herumgedreht werden und immer die gleiche Stellung am Himmel einnehmen. Andere Sterne aber werden zwar auch mit dem Himmelsgewölbe herumgeführt, weil sie an ihm haften, sie haben aber außerdem auch noch eine Eigenbewegung, kraft deren sie ihre Stellung am Himmel verändern. Diese ihre Eigenbewegung ist langsamer als die Bewegung des Himmelsgewölbes. Sie ist auch der Bewegung des Himmelsgewölbes entgegengesetzt, nämlich von Westen nach Osten gerichtet.
    Jene Sterne heißen Fixsterne, diese Wandelsterne, da sie an anderen und anderen Stellen des Himmels gesehen werden. Die Fixsterne können wir vergleichen mit den Reisenden auf einem Schiff, welche währen der Fahrt auf ihren Plätzen bleiben, die Wandelsterne aber können wir mit Menschen vergleichen, die auf dem Schiff während der Fahrt vom Vorderdeck zum Hinterdeck gehen, während diese Bewegung langsamer ist als die Bewegung des Schiffes. Wir könnten sie auch mit Ameisen vergleichen, die auf einer@ sich herumdrehenden Töpferscheibe sich in einem der Drehung des Rades entgegengesetzten Sinne bewegen.

Mühlstein oder Töpferscheibe? Sie kommen beide vor. In der antiken griechischen Philosophie wird der Kosmos manchmal mit einem sich drehenden Mühlstein (Anaximenes) und manchmal mit einem Rad, τροχός, verglichen, das auch eine Töpferscheibe sein kann (Anaximander). Dies wird auch bei Theodoretus von Cyrrhus (± 393–458) erwähnt.4

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In der Zwischenzeit hatte ich auch Google für meine Suche verwendet, und dort erschien ein ähnlicher Text, der sogar die Ameise enthält. Er wurde verfasst von Luo Xia Hóng (ca. 130–70 v. Chr.):

  • Sowohl Sonne als Mond bewegen sich nach rechts und zur gleicher Zeit müssen sie den Himmeln folgen, die nach links drehen. Obwohl sich sowohl die Sonne als auch der Mond in Wirklichkeit nach Osten bewegen, werden sie [durch die Drehung der Himmel] mitgeschleppt, so dass sie im Westen unterzugehen scheinen. Dies ist analog zu einer Ameise, die auf einem Mühlstein krabbelt. Während sich der Mühlstein nach links [im Uhrzeigersinn] dreht, versucht die Ameise, nach rechts [im Gegenuhrzeigersinn] zu bewegen. Aber die Drehung des Mühlsteins ist viel schneller als die Bewegung der Ameise. Wir sehen dann, dass die Ameise gezwungen wird, der Bewegung des Mühlsteins zu folgen und sich anscheinend nach links [im Uhrzeigersinn] bewegt. 5

Obwohl es im chinesischen Text nicht um Planeten geht, ist die Ähnlichkeit mit dem griechischen Text viel zu groß, um zufällig zu sein. Das Rad und die Flöte dürften an mehreren Orten in der alten Welt unabhängig von einander erfunden worden sein, aber bei einem so spezifischen Text ist das nicht denkbar: Der kann nur überliefert worden sein. Es muss also mehr als nur Handelskontakte zwischen der griechisch-römischen Welt und dem alten China gegeben haben. Auch dazu konnte Dr. Hagel etwas sagen, aber Patrick Huang aus London hat hier ebenfalls geholfen. Sie erwähnten den intellektuellen Austausch zwischen dem Hof ​​des chinesischen Kaisers Hàn Wǔdì (156–87 v. Chr.) und dem hellenistischen Griechisch-Baktrischem Reich zur Zeit des oben genannten Astronomen Luo Xia Hóng. Zur gleichen Zeit war der Handelsverkehr auf der Seidenstraße gut angelaufen, nach Erkundungsreisen und zwei Militärexpeditionen von chinesischer Seite, und es wurde nicht nur Seide transportiert. Zumindest nach Persien und Indien wurde auch chinesische Wissenschaft exportiert, das war schon früher bekannt.

Natürlich gab es nicht nur die drei hier zitierten Texte. Es muss alle möglichen Bearbeitungen und Zwischenversionen gegeben haben. Aber diese entgegengesetzten Bewegungen, eine erzwungene und eine „freiwillige“, sowie das kleine Detail über die Ameise, kommen immer wieder vor.

Wer war der erste mit dieser Ameise? Hat sich das Tierchen von West nach Ost oder umgekehrt bewegt? Das ist noch nicht klar.

ANMERKUNGEN
1. Djibril ibn Nūḥ, Al-Iʿtibār:

فكِّر في النجوم واختلاف سيرها. ففرقة منها لا تريم مراكزها من الفلك ولا تسير الاّ مجتمعة، وفرقة مطلقة تتنقل في البروج وتفترق في مسيرها. فكل واحد منها يسير مسيرين مختلفين: أحدهما عام مع الفلك نحو المغرب والآخر خاص لنفسه نحو المشرق. وقد شبه الأولون هذه المطلقة بنملة تدب على رحى. فالرحى تدور ذات اليمين والنملة تدور ذات اليسار، فان النملة على تلك الحال تتحرّك حركتين مختلفتين: احداهما بنفسها متوجّهة أمامها والأخرى مستكرهة مع الرحى تجذبها الى خلفها.

2. Ich danke Hans Rottier, der mich auf diesen Mechanismus hingewiesen hat.
3. Sowohl Dr. Hagel als die Kleomedes-Übersetzer Bowen en Todd verweisen noch auf andere griechischen Texte in denen die Ameise vorkommt.
Die deutsche Übersetzung ist von → Czwalina. Sein „tönernes Rad“ für κεραμεικός τροχός habe ich durch „Töpferscheibe“ ersetzt. Präziser ist die englische Übersetzung von → Bowen und Todd:
II, 1: As the heavens revolve in a circle above the air and the Earth, and effect this motion as providential for the preservation and continuing stability of the whole cosmos, they also necessarily carry round all the heavenly bodies that they encompass. Of these, then, some have as their motion the simplest kind, since they are revolved by the heavens, and always occupy the same places in the heavens. But others move both with the motion that necessarily accompanies the heavens (they are carried round by them because they are encompassed), and with still another motion based on choice through which they occupy different parts of the heavens at different times. This second motion of theirs is slower than the motion of the cosmos, and they also seem to go in the opposite direction to the heavens, since they move from west to east. 
12: The first [set of bodies] is called “fixed,” but the second “planets,” since these appear at different times in different parts of the heavens. The fixed bodies might be likened to passengers who are borne along by a ship, yet remain in their assigned places in relation to the overall space. The planets, by contrast, are like passengers who move in an opposite direction to the ship (toward the stern from positions at the prow) with a relatively slower motion. They could also be likened to ants creeping on the basis of choice on a potter’s wheel in a motion opposite to [that of ] the wheel. 
Das griechische Original: Cleomedes, Caelestia 28.18-30.15/ii, 1-20:: Ὁ τοίνυν οὐρανός, κύκλῳ εἰλούμενος ὑπὲρ τὸν ἀέρα καὶ τὴν γῆν καὶ ταύτην τὴν κίνησιν προνοητικὴν οὖσαν ἐπὶ σωτηρίᾳ καὶ διαμονῇ τῶν ὅλων ποιούμενος, ἀναγκαίως καὶ πάντα τὰ ἐμπεριεχόμενα αὐτῷ τῶν ἄστρων περιάγει. τούτων τοίνυν τὰ μὲν ἁπλουστάτην ἔχει τὴν κίνησιν, ὑπὸ τοῦ κόσμου στρεφόμενα καὶ διὰ παντὸς τοὺς αὐτοὺς τόπους τοῦ οὐρανοῦ κατέχοντα· τὰ δὲ κινεῖται μὲν καὶ τὴν σὺν τῷ κόσμῳ κίνησιν ἀναγκαίως, περιαγόμενά γε ὑπ᾿ αὐτοῦ διὰ τὴν ἐμπεριοχήν, κινεῖται δὲ καὶ ἑτέραν προαιρετικήν, καθ᾿ ἣν [καὶ] ἄλλοτε ἄλλα μέρη τοῦ οὐρανοῦ καταλαμβάνει. αὕτη δὲ ἡ κίνησις αὐτῶν σχολαιοτέρα ἐστὶ τῆς τοῦ κόσμου κινήσεως· δοκεῖ δὲ καὶ τὴν ἐναντίαν κινεῖσθαι τῷ οὐρανῷ, ὡς ἀπὸ τῆς δύσεως ἐπὶ τὴν ἀνατολὴν φερόμενα. τὰ μὲν οὖν πρῶτα αὐτῶν καλεῖται ἀπλανῆ, ταῦτα δὲ πλανώμενα, ἐπειδὴ ἄλλοτε ἐν ἄλλοις μέρεσι τοῦ κόσμου φαντάζεται. τὰ μὲν οὖν ἀπλανῆ ἀπεικάσειεν ἄν τις ἐπιβάταις ἐπὶ νεὼς φερομένοις, ἐν τόποις οἰκείοις κατὰ χώραν μένουσι, τὰ δὲ πλανώμενα τὴν ἐναντίαν τῇ νηῒ φερομένοις ἀνθρώποις ὡς ἐπὶ τὴν πρύμναν ἀπὸ τῶν κατὰ τὴν πρώραν τόπων, ταύτης τῆς κινήσεως σχολαιοτέρας γινομένης. εἰκασθείη δ᾿ ἂν καὶ μύρμηξιν ἐπὶ κεραμεικοῦ τροχοῦ τὴν ἐναντίαν τῷ τροχῷ προαιρετικῶς ἕρπουσιν.
4. Diels/Kranz, Fragmente i, 93: καὶ οἱ μὲν μυλοειδῶς, οἱ δὲ τροχοῦ δίκην περιδινεισθαι, sc. τὸν κόσμον. Theodoretus, Graec. aff. cur. iv, 16 (Scholten)@.
5. Ho Peng Yoke, Li, Qi and Shu, 127: ‘Both the sun and the moon move towards the right, and at the same time they have to follow the heavens, which rotate towards the left. Hence, although in reality both the sun and the moon are moving eastwards, they are being dragged along by (the rotation of the heavens) so that they appear to set in the west. This is analogous to an ant crawling on a mill-stone, such that while the millstone is rotating towards the left (clockwise), the ant is attempting to move to the right (anti-clockwise). But the rotation of the mill-stone is much faster than the motion of the ant. It can be seen that the ant is compelled to follow the motion of the mill-stone, and that apparently it is moving towards the left (clockwise).’
Meine obige Übersetzung ist aus diesem Englisch. Patrick Huang sandte mir den chinesischen Text, den ich selbst nicht lesen kann. Einer von Ihnen vielleicht?

又《周髀》家云:「天圓如張蓋,地方如棋局。#天旁轉如推磨而左行,日月右行,隨天左轉,故日月實東行,而天牽之以西沒。譬之於蟻行磨石之上,磨左旋而蟻右去,磨疾而蟻遲,故不得不隨磨以左迴焉#。天形南高而北下,日出高,故見;日入下,故不見。天之居如倚蓋,故極在人北,是其證也。極在天之中,而今在人北,所以知天之形如倚蓋也。日朝出陽中,暮入陰中,陰氣暗冥,故沒不見也。夏時陽氣多,陰氣少,陽氣光明,與日同輝,故日出即見,無蔽之者,故夏日長也。冬天陰氣多,陽氣少,陰氣暗冥,掩日之光,雖出猶隱不見,故冬日短也。」

BIBLIOGRAPHIE
– Hermann Diels en Walther Kranz (Hrsg., Übers.), Fragmente der Vorsokratiker, Griechisch und Deutsch, 3 Bde., Zürich/Hildesheim 1951–52 (Nachdruck 1989-90).
– Djibril ibn Nūḥ al-Anbārī, Kitāb al-iʿtibār fī al-malakūt: ich arbeite an einer Ausgabe aus den Handschriften.
– Kleomedes: Cleomedes, Caelestia (Μετέωρα), die Teubner-Ausgabe von 1990 steht mir momentan nicht zur Verfügung.
– Kleomedes, Die Kreisbewegung der Gestirne, Übers. Arthur Czwalina, Leizpig 1927.
Cleomedes‘ Lectures on Astronomy. A Translation of The heavens. With an Introduction and Commentary by Alan C. Bowen and Robert B. Todd, Berkely/Los Angeles/London (University of California Press) 2004.
– Ho Peng Yoke, Li, Qi and Shu. An Introduction to Science and Civilization in China, Mineola NY (Dover) 1985.

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Dickicht im Koran

In vier Koranversen komt das arabische Wort ’aika, „Dickicht“ vor:

  • Die Leute des Dickichts (الأَيْكَةِ) waren ebenfalls Frevler und wir rächten uns an ihnen. (Koran 15:78–9)
  • Die Leute des Dickichts (لْئَيْكَةِ) ziehen (seinerzeit) die Gesandten (Gottes) der Lüge. (K. 26:176)
  • … desgleichen die Thamūd, die Leute von Lot und die Leute des Dickichts (لْئَيْكَةِ). Das sind die Heidenvölker (?) (K. 38:13)
  • … die Leute des Dickichts (الأَيْكَةِ) und die Leute des Tubba‘. Alle habn die Gesandten der Lüge geziehen. Und so ist meine Drohung in Erfüllung gegangen. (K. 50:14; Übersetzungen nach R. Paret)

Bei näherer Betrachtung steht zweimal al-’aika und zweimal ein merkwürdig geschriebenes l-’aika, obwohl sich das Wort in allen Stellen auf dasselbe bezieht. Offensichtlich liegt eine Inkonsequenz in der Rechtschreibung vor, wie sie öfter im Koran vorkommt. In manche Koranversionen steht sogar laika ohne hamza (Apostrophe, Glottisschlag). → Puin weist daraufhin, dass mit Laika ein Eigenname, wohl ein Ortsname gemeint sein muss, was manchmal noch an der Kasusendung ersichtlich wird und wie es einige Korankommentare noch wussten oder annahmen. Was liegt dann näher als eine kleine Emendation, eine Textänderung? Deshalb schlug Puin vor, an allen Stellen laika zu lesen. Das rätselhafte „die Leute des Dickichts” (’aṣḥāb al-’aika) im Koran könnte dann durch „die Leute von Laika“ ersetzt werden.
Dieser Ort müsse sich wohl im Nordwesten Arabiens befinden, da alle vier Koranverse in Geschichten vorkommen, die dort spielen. Puin zufolge ist die Hafenstadt Leukē Komē (Λευκή Kώμη) an der Nordwestküste Arabiens gemeint, die seit der Antike bekannt war. Der römische General Aelius Gallus traf im Jahr 25 v. Chr. mit mehr als zweihundert Schiffen in Leukē Komē ein; von dort aus startete er seine (völlig erfolglose) Überlandexpedition in den Jemen.

Pikant ist, dass hier eine Textänderung im arabischen Korantext vorgenommen wird, was für viele Verehrer der islamischen heiligen Schrift ein großes Tabu ist, zumal wenn ein Nicht-Muslim sie vornimmt. Aber wenn man es genauer betrachtet, haben die alten islamischen Gelehrten ebenfalls in den Korantext eingegriffen, indem sie heimlich die Vokalzeichen änderten, einen Artikel hinzufügten und nach Möglichkeit auf die Einheitslesart al-‚aika hinarbeiteten. Früher dachte man sich nichts dabei.

Vielleicht wird jemand einwenden: „Aber warum ein Ortsnahme? Wir kennen die Leute des Dickichts doch? Von ihnen wird ja in Korankommentaren und Prophetenerzählungen berichtet.“ Das sagt aber gar nichts. Die frühesten Koranausleger, die Erzähler (quṣṣāṣ), „wussten“ immer alles. Zum Beispiel, dass dieser Name ein altes arabisches Volk unweit von Midian bezeichnete, das nicht auf seinen Propheten hören wollte und deshalb in einem göttlichen Strafgericht unterging. Nehmen wir an, die ursprüngliche Lesart war Laika, aber man hat den Ort nicht (mehr) gekannt und fand das Wort unverständlich. Ein Ausleger kam dann auf die Idee, stattdessen al-’aika zu lesen, ein Wort, das für ihn Sinn ergab, und seitdem existierten die „Leute des Dickichts“. Sie sind frei erfunden, wie so vieles in der Koranexegese. Als das Dickicht einmal da war, ging es nicht mehr weg und es entstanden natürlich fantastische Erzählungen über Menschen in oder bei einem Dickicht. → Nawas zufolge gibt es deren mindestens vier.

Mit der Annahme, dass Laika ein Ortsname ist, könnte Puin durchaus Recht haben. Die Lage des nabatäischen Hafen- und Umschlagplatzes Leukē Komē ist inzwischen bekannt: Es ist Wādī ’Ainūna mit seinem Hafen Khuraiba, eine nördliche Station auf der Karawanenstraße von Petra zum Hedschas. Das war bereits im 19. Jahrhundert vorgeschlagen, aber auch wieder verworfen worden. Die richtige Lage wurde lange diskutiert (→ Puin → Nappo): Es wurden mehrere Orten weiter südlich vorgeschlagen, bis hin zu Yanbu‘, dem Hafen von Medina. Puin dachte sogar an einen Hafen, von dem er vermutete, dass er einst existiert hätte und durch ein Seebeben zerstört worden sei. Ich bin weder Archäologe noch Historiker, aber der neuere Artikel von → Juchniewicz überzeugt mich, weil er auch die Probleme der Schifffahrt auf dem Roten Meer mit antiken Schiffen berücksichtigt. Das Rote Meer war aufgrund der meist nördlichen Winde, der vielen Felsen und Riffe entlang der Küste und des Mangels an sicheren Häfen schwer befahrbar. Al-‘Ainūna hat eine geräumige, gut geschützte Bucht, in der die mehr als zweihundert Schiffe von Aelius Gallus sicher ankern konnten. Und Archäologen fanden dort ein komplettes emporium und eine Wasserleitung. Das südlichere al-Wajh hatte einen viel kleineren, weniger geschützten Hafen, in dem nur wenige römischen oder nabatäische Überreste gefunden wurden. Al-‘Ainūna war auch eine Station für Kamelkarawanen und offensichtlich ein Ort, an dem Waren, die für Petra und darüber hinaus bestimmt waren, auf Kamele umgeladen werden konnten. Vom Süden nach Aila (‘Aqaba) weiter zu segeln war nämlich wegen des fast immer vorherrschenden Gegenwindes schwierig. Noch im neunzehnten Jahrhundert brauchten Segelschiffe sechs Tage, um die 150 Km. durch den Golf von Aqaba zurückzulegen.(1)

Dennoch ist die Gleichsetzung von Laika mit Leukē Komē nicht sehr glaubwürdig. Die deutsche Aussprache von leukē ist nicht weit entfernt von laika. Aber im Griechischen aus der Zeit des Korans muss es sich wie lefkí angehört haben, mit Betonung auf der letzten Silbe. Natürlich kann man meinen, dass sich in diesem Ortsnamen die klassische griechische Aussprache von Jahrhunderten zuvor erhalten hatte, aber das müsste erst einmal nachgewiesen werden. Und wo ist Komē geblieben? Und warum sollten Araber überhaupt einen griechischen Namen für diesen Ort verwendet haben? Nein, alles in allem sind die Beweise dafür, dass mit Laika dieser Hafen gemeint ist, zu dünn. Ich bleibe also noch im Dickicht stecken.

 

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ANMERKUNG
1. Aus dem gleichen Grund benutzten die Römer Berenice als ägyptische Endstation für ihre Indienfahrer und nicht Clysma (= ± Qulzum, Suez). Die Reise auf Kamelen von Berenice nach Coptos am Nil dauerte zwölf Tage, war aber offenbar der Reise durch den nördlichen Teil des Roten Meeres vorzuziehen.

BIBLIOGRAPHIE
– Karol Juchniewicz, ‘The port of Aynuna in the pre-Islamic period: nautical and topographical considerations on the location of Leuke Kome,’ Polish Archaeology in the Mediterranean 26/2, 2017, Special Studies, 31–42. Illustriert, auch Kartenmaterial. Hier online.
– Dario Nappo, ‘On the Location of Leuke Kome, ’ Journal of Roman Archaeology (23) 2010, 335–348.
– John Nawas, ‘People of the Thicket,’ in Encyclopaedia of the QurʾānHier online, aber nur für Abonnenten.
– Gerd-R. Puin, ‘Leuke Kome / Layka, die Arser/Aṣḥāb al-Rass und andere vorislamische Namen im Koran: Ein Weg aus dem ‘Dickicht’?’ in Karl-Heinz Ohlig en Gerd-R. Puin (uitg.), Die dunklen Anfänge, Neue Forschungen zur Entstehung und frühen Geschichte des Islam, Berlijn 2005, 317–340.

Auch erschienen in zenith 01/2021.

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Islamische Verkündigung

Nicht nur die Geburt Jesu wurde seiner Mutter verkündet, auch die des Mohammeds. So will es wenigstens ein kurzer, schwer datierbarer Text (zwischen 650-750 AD):

  • Die Menschen erzählen—und nur Gott weiß, was wahr ist—dass Āmina, die Mutter des Propheten, erzählt hat, während ihrer Schwangerschaft sei [eine Stimme?] zu ihr gekommen, die gesprochen habe: „Du bist schwanger mit dem Herrn dieses Volkes. Wenn er geboren wird, sag dann: ‘Lass den Einzigen ihn behüten vor dem Übel eines jeden Neiders,‘ und nenne ihn Mohammed.“ Als sie schwanger mit ihm gewesen sei, habe sie gesehen, wie ein Licht von ihr ausgegangen sei, in dem sie die Festungen von Busrā in Syrien habe sehen können.1

War es ein Engel, der zu Āmina kam? Wir wissen es nicht. Im Arabischen stehen hier passive Verbalformen: „Es wurde zu ihr gekommen … ihr wurde gesagt.“ Wer oder was das tat, bleibt ungesagt. 
Das Licht, durch das Festungen sichtbar wurden, die sich mehr als tausend Kilometer von Mekka befanden, ist das wundersame, von Ewigkeit an existierende „Licht Mohammeds“ (nūr Muhammad). In Busrā fing das Römerreich an. Die Āmina zugeschriebene Aussage verweist auf die künftige Eroberung dieses Reiches. Die Beschwörungsformel, die sie aussprechen soll, erinnert an die Suren 113 und 114 im Koran. Die beiden Suren (al-mu‘awwidhātān) schützen vor dem Bösen.

Überdies fällt die Übereinstimmung mit der biblischen Verkündigung ins Auge. Im Lukasevangelium bekommt der Vater von Johannes dem Täufer Besuch des Engels Gabriel, der dem Kind eine große Zukunft weissagt und sagt, dass er Johannes heißen solle. Auch die Mutter Jesu bekommt kurz vor ihrer Schwangerschaft Besuch von ihm. Zu ihr sagt der Engel:

  • Sei gegrüßt, Begnadigte! Der Herr [ist] mit dir. […] Fürchte dich nicht, Maria! Denn du hast Gnade bei Gott gefunden. Und siehe, du wirst schwanger werden und einen Sohn gebären, und du sollst ihm seinen Namen Jesus nennen. Dieser wird groß sein und Sohn des Höchsten genannt werden […].2

Die Verkündigungen an Āmina und an Maria haben einiges gemeinsam: 1. Besuch einer Stimme(?), bzw. eines Engels. 2. Verkündigung der Geburt eines großen Mannes. 3. Auftrag zur Namensgebung. 

Kurzum, die arabische Erzählung bedient sich nicht nur des Korans, sondern auch der biblischen oder einer sehr verwandten Erzählung. Sie tut das, weil sie in einer Umgebung entstanden ist, in der der neue Prophet Mohammed sich gegenüber den längst existierenden „Propheten“ der Juden und Christen durchsetzen musste. Sie versucht eine christliche Verkündigung durch eine islamische zu ersetzen.

ANMERKUNGEN
1. Ibn Isḥāq: Das Leben Muhammed’s nach Muhammed Ibn Ishâk bearbeitet von Abd el-Malik Ibn Hischâm, hg. F. Wüstenfeld, Göttingen 1858–60, 102. Übers. G. Rotter: Ibn Isḥāq, Das Leben des Propheten, Kandern 1999, 30. ويزعمون – فيما يتحدث الناس والله أعلم – أن آمنة بنت وهب أم رسول الله ص كانت تحدث أنها أتيت، حين حملت برسول الله ص فقيل لها: أنك قد حملت بسيد هذه الأمة، فإذا وقع إلي الأرض فقولي: أعيذه بالواحد من شر كل حاسد ثم سمّيه محمدًا. ورأت حين حملت به أنه خرج منها نور رأت به قصور بُصْرى من أرض الشأم.
2. Bibel, Lukas 1:26–38.

Diakritische Zeichen: Buṣrā, nūr Muḥammad, al-muʿawwiḏātān

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