Umars Bekehrung (übersetzter Text)

‘Abdallāh ibn Mas‘ūd hat erzählt: Bevor ‘Umar Muslim wurde, konnten wir das Gebet nicht bei der Ka‘ba verrichten. Als er zum Islam übergetreten war, bekämpfte er die Quraisch so lange, bis er dort beten konnte, und wir mit ihm. ‘Umar wurde Muslim, nachdem die Gefährten des Propheten nach Äthiopien gezogen waren.
Wie ich erfahren habe, verlief die Bekehrung ‘Umars so: Seine Schwester Fātima und ihr Mann Sa‘īd ibn Zaid waren schon Muslime geworden, aber sie verschwiegen es ‘Umar. Sein Stammesgenosse Nu‘aim ibn ‘Abdallāh war auch Muslim geworden und auch er verheimlichte es aus Angst vor seiner Verwandtschaft. Khabbāb ibn Aratt besuchte Fātima oft um ihr den Koran zu rezitieren.
Eines Tages umgürtete ‘Umar sich mit seinem Schwert und begab sich zum Propheten. Man hatte ihm nämlich gesagt, dass dieser mit einer Anzahl seiner Gefährten in einem Haus bei Safā versammelt war. Sie waren ungefähr vierzig Personen, Männer wie Frauen, unter denen Mohammeds Onkel Hamza, Abū Bakr und ‘Alī und noch andere Muslime waren, die bei dem Propheten in Mekka geblieben und nicht nach Äthiopien gezogen waren. Unterwegs traf ‘Umar Nu‘aym ibn ‘Abdallāh, der ihn fragte, wohin er gehe.
„Zu Mohammed,” sagte er, „diesem Sabier, der unter den Quraisch Zwietracht sät, ihre besten Tugenden Torheiten nennt, ihre Religion schmäht und ihre Götter verflucht. Ich werde ihn töten!”
„Du betrügst dich selbst, ‘Umar,” sagte Nu‘aym, „meinst du, dass die ‘Abd Manāf dich hier frei herumlaufen lassen werden, nachdem du Mohammed getötet hast? Solltest du nicht besser erst deine Angelegenheiten in der eigenen Familie in Ordnung bringen?”
„Was ist mit meiner Familie?”
„Dein Schwager und Vetter Sa‘īd und deine Schwester Fāṭima sind auch Muslime geworden und bekennen sich zu Mohammeds Glauben. Kümmere dich erst mal darum!”
‘Umar kehrte um und ging zu seiner Schwester und seinem Schwager. In dem Augenblick war Khabbāb ibn Aratt gerade bei ihnen; er hatte ein Blatt bei sich, auf dem die Sure Tāhā geschrieben war, die er ihnen rezitierte. Als sie ‘Umar kommen hörten, versteckte Khabbāb sich in einem Zimmerchen oder irgendwo im Haus, während Fatima das Blatt nahm und sich daraufsetzte. ‘Umar hatte aber, als er sich dem Haus näherte, Khabbāb schon rezitieren gehört und fragte sobald er hereintrat:
„Was war das für ein Kauderwelsch?”
„O, das war nichts.”
„Doch, doch, und mir ist auch gesagt worden, dass ihr der Religion des Mohammeds anhängt!”
Mit diesen Worten ging er seinem Schwager zu Leibe und als Fātima dazwischen kommen wollte, verpasste er auch ihr einen Schlag auf den Kopf.
„Ja,” sagten sie dann, „wir sind Muslime geworden und wir glauben an Gott und seinen Gesandten. Mache mit uns, was du willst!”
Als ‘Umar sah, wie seine Schwester blutete, tat sie ihm Leid, er tat einen Schritt rückwärts und sagte zu ihr: „Gib mir das Blatt mal, von dem ich gerade rezitieren hörte, damit ich sehe, was Mohammed verkündet.” ‘Umar konnte nämlich lesen und schreiben. Aber sie wollten es ihm nicht anvertrauen. „Keine Angst,” sagte er und er schwor ihr bei seinen Göttern, er werde es ihr zurückgeben, wenn er es gelesen habe. Da hoffte Fātima, dass er Muslim werden würde, und sagte: „‘Umar, du bist unrein, weil du ein Heide bist, und nur wer rein ist darf ihn berühren. 1 ‘Umar wusch sich; darauf gab sie ihm das Blatt mit der Sure Ṭāhā. Nachdem er ein Stück daraus gelesen hatte, rief er aus:
„Was für wunderbare, edle Worte!”
Als Khabbāb das hörte, kam er aus seinem Versteck und sagte: „‘Umar, ich hoffe, dass Gott dich auserwählt hat durch das Gebet Seines Propheten, denn diesen habe ich gestern beten hören: “O Gott, stärke den Islam durch die Bekehrung des Abū Ḥakam oder des ‘Umar!” Komm zu Gott, ‘Umar, komm zu Gott!”
Dann sagte ‘Umar: „Sag mir, wo ich Mohammed finden kann, Khabbāb; dann werde ich Muslim.”
Khabbāb antwortete, er sei mit einer Anzahl Gefährten in einem Haus bei Safā. ‘Umar legte sein Schwert um und machte sich auf den Weg. Er klopfte an die Tür des Hauses, in dem sie sich aufhielten. Als sie ihn hörten, ging einer der Gefährten zur Tür um durch einen Spalt zu schauen, wer da sei. Voller Angst kam er zurück zum Propheten und rief: „Prophet, es ist ‘Umar, und er trägt sein Schwert.” Hamza ibn ‘Abd al-Muttalib aber sagte: „Lasst ihn herein; wenn er gute Absichten hat, behandeln wir ihn gut; wenn er Böses will, töten wir ihn mit seinem eigenen Schwert.” Der Prophet willigte ein und der Mann öffnete ‘Umar die Tür. Der Prophet ging auf ihn zu, packte ihn fest an seinem Gürtel und zog ihn an sich.
„Was willst du hier, Ibn al-Khattāb?” sagte er, „denn du machst glaube ich weiter, bis Gott Unheil über dich herabsendet.”
„Prophet, ich bin gekommen um an Gott und seinen Gesandten und seine göttliche Botschaft zu glauben.”
„Gott ist groß!” schrie der Prophet, so dass alle Gefährten im Haus wussten, dass ‘Umar Muslim geworden war.
Darauf gingen die Gefährten frohen Mutes auseinander, nun da sowohl Hamza wie auch ‘Umar Muslime geworden waren. Sie wussten ja, dass diese beiden Männer den Propheten schützen würden und dass sie mit ihrer Hilfe von ihrem Feind ihr Recht erlangen könnten.
Dies ist die Erzählung der Überlieferer aus Medina über den Islam ‘Umars.

Einige Bemerkungen von mir zu dieser Erzählung finden Sie hier.

ANMERKUNG
1. Gemeint ist der Koran. Der zitierte Vers ist 56:79.

QUELLE: Ibn Isḥāq: Das Leben Muhammed’s nach Muhammed Ibn Ishâk bearbeitet von Abd el-Malik Ibn Hischâm, hg. F. Wüstenfeld, Göttingen 1858–60, 224–7 (verkürzt).

Diakritische Zeichen: ʿUmar ibn al-Ḫaṭṭāb, Fāṭima, Ṣafā , Ḥamza ibn ʿAbd al-Muṭṭalib, Ṭāhā, Abū Ḥakam

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Die Zerstörung Mekkas

makkah-and-the-makkah-clock-tower-950x615Damit meine ich nicht den Abbruch der Ka‘ba, der am Ende der Zeiten zu erwarten ist, sondern die Tätigkeiten des heutigen saudischen, wahhabitisch geprägten Regimes bei der Modernisierung Mekkas und bei der Ausweitung der Einrichtungen für Pilger. 2012 kamen drei Millionen Pilger in die Stadt; 2013 bekamen nur zwei Millionen die Erlaubnis, was bald mit den Baumaßnahmen, bald mit der Gefahr der Ansteckung durch den MERS-Virus begründet wurde. 2025 werden aber 17 Millionen Pilger erwartet (wieso eigentlich?) und etwas muss unternommen werden um diese in der engen, von Bergen eingeschlossenen Stadt aufnehmen zu können. Ein Artikel in The Guardian zeigt die sehr megalomanen Baupläne. Die Kaʿba ist darin kaum noch wiederzufinden.

Foto Saudi Bin Laden Group

Foto Saudi Bin Laden Group

Schön wird das alles nicht, aber wo gibt es heute noch schöne Architektur? Eine gewaltige Tiefgarage unter der Kaʿba gibt es bereits. Auch verschiedene Shopping Malls sind in der Nähe vorhanden, mit u.a. einer Boutique von Paris Hilton; oder hat die wieder zugemacht? Hauptstück ist ein 601 meter hoher Uhrturm, im Vergleich zu welchem der Campanile in Venedig und der Big Ben nur Winzlinge sind. Die Riesenuhr ist 43 meter in Durchschnitt und ist made in Germany. Indem sie durch aufleuchtende Zeiger die genauen Gebetszeiten vorgibt, zementiert sie eine Neuerung, die mit der Erfindung der Stehuhr schon eingesetzt hatte. Im frühen Islam konnten die Gläubigen selbst anhand des Sonnenstandes feststellen, wann es Zeit zum Beten war; in der Praxis half ihnen ein menschlicher Muezzin. Es gab ziemlich breite Zeitfenster, in denen das Gebet gültig war. Jetzt werden die genauen Zeitpunkte mit deutscher Präzision durch eine unpersönliche Behörde festgestellt — wenn es nach den Saudis ginge, gleich für die ganze Welt. Wer auf diese Uhr schaut wird das Gebet nicht zu unterlassen wagen; in Riesenbuchstaben steht ja der Name Gottes darüber.

Für Hotels, Kongresszentren, Malls, Apartmentblocks und Parkplätze müssen selbstverständlich historische Bauten und archäologische Fundstatten aus allen Jahrhunderten weichen; das ist nichts Neues und kommt überall vor. Aber nicht jeder weiß und erwartet vielleicht, dass in Mekka eine Sorte Denkmäler mit besonderem Eifer zerstört wird: die frühislamischen. Das hat nicht nur mit den Bauplänen zu tun, sondern auch mit der religiös fundierten Abneigung der Regierung gegen Gräber und (mögliche) Pilgerorte einerseits, gegen die Biografie des Propheten andererseits. Bereits 1925 hat die frisch angetretene wahhabitische Regierung den Friedhof Medinas, Baqiʿ al-Gharqad, zerstört. Dort lagen nicht irgendwelche Menschen begraben, sondern die Frauen und Zeitgenossen des Propheten! Die islamische Welt war entsetzt; trotzdem wurde noch im selben Jahr auch der historische Friedhof Mekkas planiert. So gingen auch die Gräber von Mohammeds Vorfahren verloren und das seiner ersten Frau, Khadidja. Bei den heutigen Bauaktivitäten verschwindet unter anderem jede Reminiszenz an das Geburtshaus des Propheten. Das Wohnhaus Khadidjas ist schon abgetragen worden; laut Guardian musste es Platz machen für einen Block von nicht weniger als 1400 Toiletten. In Mekka sch….t man auf die Vergangenheit.

Doch spricht vieles für den saudischen Zerstörungsdrang, oder? Alle diese historischen Stätten sind ja nicht wirklich historisch. In Goethes Geburtshaus in Frankfurt ist der Dichter wenigstens wirklich geboren, das ist nachgewiesen … wenn auch das Haus nur eine Kopie des kriegszerstörten Originals ist, haha. Aber hat Mohammed je einen Fuß in sein angebliches Geburtshaus gesetzt? Hat es ihn überhaupt gegeben? Hat Khadidja gelebt; und wenn ja, war das ihr Haus, war sie dort wirklich begraben? Liegt Abraham wirklich in dem heftig umkämpften Grab in Hebron (al-Khalil), wo doch sogar seine reale Existenz angezweifelt wird? Dass die Herberge des Barmherzigen Samariters, die angeblich in der Wüste Judäas steht oder stand, nepp ist, versteht jeder Leser von Lukas 10:34 auf Anhieb. Alle drei westlichen Religionen haben ganze Haufen Ballast dieser Art. Erfrischend also, dass die Saudis mit solchem Kram mal aufräumen?

Mekka 1953

Mekka 1953

Natürlich nicht. Ich bedaure es, dass diese Baudenkmäler zerstört werden. Auch wenn sie nichts mit Mohammed zu tun haben, Bauten oder Gräber aus den letzten vierzehn Jahrhunderten und vielleicht aus der Zeit davor sind historisch wertvoll; ich hätte gerne mehr darüber gewusst. Die wahhabitische Abneigung gegen Archäologie und Denkmalschutz folgt nicht nur aus der Sauberkeit ihrer Lehre, sondern auch aus der Angst vor der möglicherweise auffindbaren Vergangenheit. Vielleicht könnte nachgewiesen werden, dass die Heilsgeschichte doch anders verlaufen ist, dass die vorislamitische Zeit (Dschahiliyya) weniger barbarisch war als geglaubt oder christlicher als erwünscht.

Die wahhabitische Abneigung gegen die Prophetenbiografie hat zwei Aspekte. Die Verehrung von Menschen ist streng verpönt und für den Propheten wird keine Ausnahme gemacht. Der andere ist der religionsübergreifende fundamentalistische Hass gegen Dichtung im Allgemeinen. Die Biografie (Sīra) ist erzählend und deshalb Dichtung, das haben die Wahhabiten schon richtig verstanden. Ihr geistiger Urahn Ibn Taimīya (1263–1328) vertrat bereits den Standpunkt, dass das biografische Material wertlos und nicht bei juristischen Argumentationen einsetzbar ist; es sei denn, das Thema ist von großer Wichtigkeit und der Text wird mehrfach überliefert. Durch diese Einschränkung entfällt ein erheblicher Teil der Sīra. Die Geburt, die frühe Jugend, das erste Offenbarungserlebnis, all das interessiert nicht. Indessen bleibt Mohammed für die Saudis natürlich eine äußerst wichtige Person, daran ist kein Zweifel. Er darf nur kein Leben gehabt haben, nichts Menschliches-Allzumenschliches. Was von der Sīra übrig bleibt, ist eine relativ beschränkte Zahl Hadithe, die die Rechtsregeln oder deren Basis bilden — man findet sie in juristisch verwendbaren Fiqh as-sīra-Sammlungen. Sīra light also. Wenn ich Muslim wäre, würde es mir schwer fallen, so einen nahezu abstrakten Propheten zu haben.

(Auch veröffentlicht in zenith Januar/Februar 2014 und in zenithonline.)

Mehr Fotos von Mekka 1953 finden Sie hier.

NACHSCHRIFT 21.07.2016: Siehe jetzt auch hier.

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Mohammed und Aischa: Hat der Prophet ein Kind geheiratet?

Eine Kurzfassung dieses Texts ist in Arbeit.

Der Hadith, nach dem der Prophet Mohammed seine Lieblingsfrau Aischa geheiratet habe, als sie sechs Jahre alt gewesen, und die Ehe vollzogen habe, als sie neun gewesen sei, wird zunehmend ein Stein des Anstoßes. Islamkritiker und -hasser nehmen ihn zum Anlass den Propheten noch mal so richtig zu beleidigen. Viele Muslime fühlen sich persönlich unbehaglich beim Inhalt dieser und ähnlicher Texte, und wissen oft nicht gut, wie sie auf die Kritik von außen reagieren sollen.

Der Hadith hat einige Varianten, die alle glasklar und eindeutig sind. Ein Beispiel:

  • Muhammad ibn Yūsuf überlieferte von Sufyān, und der letztere von Hishām ibn Urwa, der es von seinem Vater [Urwa ibn az-Zubair] gehört hatte: Es erzählte Aischa, dass der Prophet sie heiratete, als sie sechs Jahre alt war; sie wurde in sein Haus gebracht, als sie neun Jahre alt war, und dann blieb sie neun Jahre bei ihm.1

Im Grunde ist es nur ein Hadith, der in verschiedenen Varianten vorkommt, von denen die auffälligste die ist, in der auch ein Heiratsalter von sieben Jahren erwähnt wird. Alle Varianten mit allen Isnaden finden Sie hier: HadithAischaAlter. Sie zu lesen ist nicht jedermanns Sache; ich möchte den Leser, den kein fachspezifisches Interesse antreibt damit nicht belästigen.

Aber muss man wirklich glauben, dass diese Texte von Tatsachen berichten und dass sie als Quellen für Geschichtschreibung verwendet werden können?

Natürlich hegen konservative Muslime, die nicht mit moderner Literatur und Literaturwissenschaft vertraut sind, nicht den geringsten Zweifel an der Geschichtlichkeit dieser Hadithe. Manch einer dürfte sogar meinen, dass auf Grund des prophetischen Vorbilds es allen Muslimen erlaubt sei, solch junge Mädchen zu heiraten. Dazu werden sie vielleicht durch die Kapitelüberschriften in den Hadithsammlungen inspiriert. Auffällig ist dort nämlich eine gewisse Verallgemeinerung: „Über das Verheiraten kleiner Töchter,“ „Wer die Ehe vollzieht mit einer Frau, die neun Jahre alt ist,“ usw. Stets befindet sich aber unter dieser Überschrift nur der Hadith über Aischas Alter.2 In der Praxis war es wohl doch kein Thema; den Schariagelehrten zufolge war und ist das Heiratsalter das Eintreten der Pubertät.

Islamhasser in Europa und den Vereinigten Staaten3 haben ebenfalls keinen Zweifel: Aischa war neun, als sie entjungfert wurde. Nur ist deren Schlussfolgerung eine andere: Mohammed sei demzufolge ein Pädophiler und ein perverser Kinderschänder gewesen. Je schwärzer der Islam, desto schöner ist ja das Kämpfen gegen ihn.

WikiIslam, eine islamkritische Webseite, gibt sich wissenschaftlich, aber entlarvt sich bald und endet letztendlich auch bei den Islamhassern.4 Sie besteht ebenfalls auf der Realität des Ehevollzugs mit neun Jahren und weigert sich Vorschläge für Alternativen in Erwägung zu ziehen. Sie hält voll und ganz an der Glaubwürdigkeit der Hadithe als historische Berichte fest. Die Annahme eines höheren Alters der Ehevollziehung würde ja bedeuten, dass es einen Punkt weniger am Islam zu mäkeln gäbe — was die Hersteller der Webseite offensichtlich bedauern würden. Sie kritisieren lieber „den Islam“ als dass sie Texte kritisch lesen, und sind somit doch eher Gläubige als Gelehrte.

Nicht nur die konservative Minderheit, sondern die Mehrzahl der Muslime glaubt an die Zuverlässigkeit von korrekt überlieferten Hadithen als Geschichtsquelle. Dazu gehört im Prinzip auch dieser Bericht, der die genannte Peinlichkeit enthält: Ihr Prophet hat ein neunjähriges Mädchen entjungfert. Im traditionellen Islam fängt das Heiratsalter, wie in vielen anderen alten Kulturen auch, mit der Pubertät an. Neun Jahre ist entschieden zu früh. Zwar soll der Prophet bestimmte Privilegien gehabt haben, aber es wäre in diesem Fall ungeschickt, damit zu argumentieren, weil der Prophet eben ein sittliches Vorbild war. Moderne Muslime, die wie die meisten anderen Menschen der Meinung sind, dass ein so junges Mädchen in einem Ehebett nichts verloren hat, müssen also andere Methoden finden um diese Peinlichkeit los zu werden und die lästigen Texte zu entschärfen.

Eine Methode ist: ignorieren und verdrängen. Es gibt in der Tat Muslime, die nicht mit dem Thema belästigt werden wollen. Ohne Zweifel hatte der Prophet das Beste mit der kleinen Aischa vor; zu etwas Anderem war er ja nicht fähig, und für das Mädchen war es eine Gnade, bereits als Kind die Nähe und den Segen des Propheten zu erfahren; Amen! Diese Haltung findet man zum Beispiel auf der einschlägigen Webseite der Islam-pedia. Dort wird ausführlich geschildert, wie ungemein liebevoll und segenreich die Ehe Mohammeds mit Aischa war. Das Heiratsalter von neun Jahren wird kurz erwähnt, aber mit keinem Wort thematisiert. Solche Gläubige fantasieren sich ein ganzes Eheleben zusammen, doch die Frage: „Aber wie war es denn genau mit dem Vollzug der Ehe?“ stellen sie sich grundsätzlich nicht. Sie weigern sich sich vorzustellen, wie der etwas beleibte Fünfziger mit einem so kleinen Mädchen Geschlechtsverkehr hatte. Und den müssten sie gehabt haben, denn eine Ehe besteht erst durch ihren Vollzug. Das Ignorieren des Problems wird durch die eindringlichen Fragen der Außenwelt immer schwieriger.

Sehr viele Menschen wollen aber das Problem nicht vertuschen, sondern versuchen diese Hadithe mit Argumenten zu retten – nicht nur Muslime, sondern auch Andersgläubige, die gerne Verständnis für diese haben. Ihre Argumente sind meist lässig und vage, wie zum Beispiel: „Zu der Zeit fing die Pubertät ja viel früher an,“ oder: „Aischa war bestimmt frühreif; das kommt in warmen Ländern öfters vor,“ oder: „Damals wusste niemand, wie alt er genau war.“ Das letzte Argument ist sicherlich zutreffend, aber eine Ehe mit einem viel zu jungen Mädchen fällt auch ohne Einwohnermeldeamt auf. Die ersten beiden Aussagen sind völlig spekulativ und frei von Sachverstand. Ärzte versichern mir sogar, dass die Pubertät in der Antike durch die schlechtere Ernährung erheblich später eintrat als heutzutage. Überdies, wenn diese Ehe normal wäre, warum hat die Literatur ihr dann so viel Aufmerksamkeit geschenkt?

Später in diesem Beitrag werde ich die viel interessanteren Argumente von Muslimen besprechen, die diese Hadithe nicht retten, sondern loswerden möchten, unter Beibehaltung der anderen und ohne gleich das ganze Glaubensgebäude niederzureißen. Solche Muslime gibt es nämlich zunehmend, und so ergibt sich die interessante Sachlage, dass viele Gläubige den verehrten Hadithen diesmal keinen Glauben schenken möchten — wozu sie eigentlich verpflichtet sind —, während ungläubige Islamhasser sie einfach hinnehmen und daran glauben — wozu sie normalerweise nicht bereit sind.

Aber hat es diese Ehe mit einem Kind wirklich gegeben? Hier geht’s weiter !

ANMERKUNGEN
1. D.h. bis zu seinem Tod. Bukhārī, Nikāh 38, vgl. 39; ähnlich Muslim, Nikāh 70, 72: عن عائشة أن النبي ص تروّجها وهي بنت ستّ سنين وأُدخلت عليه وهي بنت تسع ومكثت عنده تسعًا
2. Bukhārī, Manāqib al-Ansār 44a باب تزويج النبي ص عائشةَ وقدومها المدينة وبنائه بها ; Nikāh 38 باب إنكاح الرجل ولده الصغار لقول اللَّه تعالى واللّائي لم يحضن فجعل عدتها ثلاثة أشهر قبل البلوغ ; Nikāh 59 باب من بنى بامرأة وهي بنت تسع سنين ; Muslim Nikāh 69 باب تزويج الأب البكر الصغيرة ; Ibn Mādja, Nikāh 13 باب نكاح الصغار يزوّجهن الآباء ; Dārimī, Nikāh 56 باب في تزويج الصغار إذا زوّجهنّ آباؤهنّ ; Nasā’ī, Nikāh, 29a إنكاح الرجل ابنته الصغيرة .
3. Wie z. B. Bat Ye’or, Elisabeth Sabaditsch-Wolff, der niederländische Filmemacher Theo van Gogh, Ayaan Hirsi Ali u.v.a.. Wenn Sie einfach Mohammed + Pädophile, oder + Kinderschänder in eine Suchmaschine eingeben, qualmt Ihnen der Hass bereits entgegen.
4. http://www.wikiislam.net/wiki/Main_Page, http://www.wikiislam.net/wiki/Aisha_Age_of_Consummation, http://wikiislam.net/wiki/David_Liepert       Abgerufen am 13. März, 2013.

Diakritische Zeichen: ʿĀʾiša, Muḥammad, Hišām ibn ʿUrwa, Buḫārī, Nikāḥ, al-Anṣār, Ibn Māǧa

„Verdienste der Gefährten“: Abu Bakr vs. Umar und Ali

In dem Artikel „Verdienste der Prophetengefährten“ hatte ich schon darauf hingewiesen, wie Ruf und Status der Gefährten in Sira-Erzählungen gemacht oder gebrochen werden können. Die meistbehandelten Personen aus der Umgebung des Propheten waren die ersten Kalifen. Deshalb bin ich mal der Sache nachgegangen, wie zum Beispiel Abū Bakr, der erste Kalif (reg. 632–34) in den Quellentexten davonkommt. Seine Verdienste stehen in Kontrast zu denen von ‘Umar und ‘Alī.
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Das Sterbebett des Propheten: Abū Bakr und ‘Umar
Die letzten Tage des Propheten bilden ein spannendes Kapitel in der Biografie.1 Die heikle Frage war: Hat der Prophet einen Nachfolger ernannt oder nicht? Abū Bakr war der Nachfolger des Propheten als Staatsoberhaupt und es könnte interessant sein, der Frage nachzugehen, ob davon in den Quellen etwas zu bemerken ist. Wir werden sehen: Sein „Kurs“ geht auf und ab.

Der Prophet vertraute Abū Bakr während seiner letzten Krankheit die Leitung des öffentlichen Gebets an.2 Aus diesem Auftrag als Imam zu wirken könnte man eventuell folgern, dass auch eine Nachfolge als Imam im Sinne von Staatsoberhaupt, Kalif, gemeint war.

In zwei Berichten ist es ‘Umar (der spätere zweite Kalif, reg. 634–44), der die Leitung des Gebets übernahm, weil Abū Bakr kurz abwesend war. Bald erwies sich aber, dass dies nicht dem Wunsch des Propheten entsprach und so übernahm Abū Bakr doch noch die Leitung.3

Laut einem anderen Bericht war Abū Bakr sogar im Augenblick, da der Prophet verstarb, nicht anwesend. War er weit weg, hatte er eine wichtige Aufgabe zu erfüllen, wie zum Beispiel Usāma ibn Zaid, der gerade außerhalb der Oase einen Feldzug gen Norden vorbereitete aber, als der Prophet wirklich im Sterben lag, doch schnellstens nach Medina kam? Nein, Abū Bakr wollte nur in seinem Haus am Rande von Medina ein wenig quality time mit seiner Frau verbringen.4 Er hatte dazu um Erlaubnis gebeten und sie erhalten; trotzdem macht seine Abwesenheit keinen guten Eindruck. Das Detail war offensichtlich unleugbar oder nicht aus der Überlieferung wegzuschaffen. Kann jemand, der in kritischen Augenblicken nicht da ist, die Gemeinschaft führen? 

Aber noch war nicht alles verloren. Wenn Abū Bakr auch nicht selbst beim Dahinscheiden des Propheten zugegen war, seine Familie war das in hohem Maße.5 Abū Bakrs Tochter Aischa, die Lieblingsfrau des Propheten, ist sogar die Heldin der Sterbeszene. Sie witzelt mit dem kranken Propheten und sie ist es, die ihn in seinen letzten Tagen in ihre Wohnung aufnimmt und pflegt. In seinen letzten Augenblicken sah der Prophet dort einen Mann mit einem Zweig in der Hand, eben von der Sorte, die als Zahnholz (siwāk) verwendet wird. Der war natürlich ein Verwandter, denn fremde Männer sind in Aischas Haus nicht zu erwarten. Eine Überlieferung nennt ihn beim Namen: es war Aischas Bruder ‘Abd ar-Rahmān. Der Prophet winkte, dass er das Zahnholz haben wolle; Aischa kaute es vor und überreichte es ihm. Darauf verschied er an ihrer Brust. Größere Intimität ist nicht möglich! So wird in dieser Erzählung Abū Bakrs Abwesenheit von seinen Verwandten, vor allem von seiner Tochter, einigermaßen wettgemacht.

Als der Prophet verstorben war, machte Abū Bakr laut Überlieferung eine gute Figur. Während ʿUmar in Verwirrung geriet und behauptete, der Prophet sei nicht wirklich verstorben, bewahrte Abū Bakr seine Ruhe und führte die Gemeinschaft mit Hilfe eines Koranverses zurück in die Realität.6 Hier wird er also als überzeugende Führungspersönlichkeit dargestellt.
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Die Hidschra-Erzählungen: Abū Bakr vs ‘Alī
Das bekannteste sunnitische Erzählmaterial zur Hidschra des Propheten von Mekka nach Medina und den Vorbereitungen dazu findet man bei Ibn Ishāq.7 Der Abschnitt über Abū Bakrs Anteil daran stammt von Urwa ibn al-Zubayr (ca. 635–712), dessen Mutter Asmā’ eine Tochter Abū Bakrs war. Aischa, dessen berühmteste Tochter, war also seine Tante. Es wird daher nicht verwundern, dass Abū Bakr in ʿUrwas Erzählung eine Glanzrolle spielt. Die Verwandten ‘Urwas gehörten mütterlicherseits zu der ältesten islamischen Elite, aber väterlicherseits ebenfalls. Seine Brüder hatten, kurz bevor ‘Urwa die Erzählung niederschrieb, noch vergeblich versucht in Mekka ein Kalifat zu etablieren.
Nahezu alle Muslime sind schon nach Medina abgereist, aber der Prophet wartet noch in Mekka, bis er Gottes Erlaubnis zur Abreise erhält. Nur Abū Bakr und ‘Alī8 sind mit ihm zurückgeblieben.
Abū Bakr hofft und betet, dass er den Propheten auf dessen gefährlicher Reise begleiten darf. Er kauft schon die Kamele, auf denen der Prophet und er die Reise machen können. Der Prophet erscheint  unerwartet in Abū Bakrs Haus und teilt ihm mit, dass die Zeit gekommen ist und er zusammen mit ihm abreisen darf. Abū Bakrs Töchter sind dabei ausdrücklich präsent. Darauf versuchen die Gegner des Propheten diesen zu töten. Als das misslingt und der Prophet und Abū Bakr die Stadt fluchtartig verlassen, verstecken sie sich einige Tage in einer Höhle. Hiermit wird gelegentlich der Koranvers 9:40 in Verbindung gebracht: فقد نصره الله إذ أخرجه الذين كفروا ثاني اثنين إذ هما في الغار  „[…] Gott hat ihm ja schon geholfen, als die Ungläubigen ihn zusammen mit einem Zweiten herauswarfen, als die beiden in der Höhle waren […].“
Abū Bakr macht sich abermals unentbehrlich, indem er die Höhle von Ungeziefer und Skorpionen säubert. Seine Tochter Asmā’ bringt Proviant zur Höhle, sein Sohn ‘Abdallāh belauscht, was die Menschen in Mekka sagen und meldet das abends dem Propheten in der Höhle. Kurzum, die ganze Familie Abū Bakrs legt sich ins Zeug und geht dabei beträchtliche Risiken ein. Nur Aischa betätigt sich nicht, weil sie noch zu jung ist; aber sie hat später die ganze Erzählung überliefert.
Auch ‘Alī ist in Mekka zurückgeblieben, aber seine Rolle ist relativ unbedeutend: Er soll sich ins Bett des Propheten legen, um die Männer irrezuführen, die diesen im Bett ermorden wollen. Nach der Abreise des Propheten mit Abū Bakr bleibt ‘Alī noch einige Tage in Mekka zurück um den Leuten die Güter zurückzugeben, die sie beim Propheten in Aufbewahrung gegeben hatten: eine ehrenvolle, aber untergeordnete Aufgabe. Anders als Abū Bakr hat ‘Alī so die Hidschra des Propheten und dessen triumphalen Einzug in Medina nicht persönlich miterleben können.
Ohne Abū Bakr und Familie hätte die ganze Hidschra nicht stattfinden können—das scheint uns die obige Erzählung vermitteln zu wollen. Ohne den Erzähler ‘Urwa und seine (vermeintliche?) Quelle, Tante Aischa, hätte die ganze Geschichte bestimmt anders ausgesehen.

Es gibt aber tatsächlich Geschichten, die ganz anders aussehen: Fassungen der Hidschra-Erzählung, in denen Abū Bakr einen etwas unschönen Auftritt hat, zu spät kommt oder sogar den Propheten aufhält, während ʿAlī eine Glanzrolle spielt. Eine kurze, anonyme, offensichtlich schiitisch inspirierte Fassung, die u.a. bei at-Tabarī9 bewahrt geblieben ist, bietet den Stoff wie folgt an:

Abū Bakr wusste offenbar nicht, dass der Prophet schon weg war, und fragte ‘Alī, wo jener sei. Der sagte ihm, er habe die Stadt verlassen und er sei in einer bestimmten Höhle, in der er sich ihm anschließen solle. Abū Bakr machte sich eilends auf den Weg. Der Prophet hörte jemanden hinter sich herkommen und fürchtete, dass es ein Feind sei. Er beschleunigte seinen Schritt, hatte aber mit einer kaputten Sandale zu kämpfen und verletzte seinen Fuß. Abū Bakr wollte ihn nicht weiter belästigen und machte sich bemerkbar. Erst ab diesem Augenblick gingen sie zusammen weiter, während der Fuß des Propheten heftig blutete.

‘Alī dagegen zeigte Heldenmut in der Konfrontation mit den verhinderten Prophetenmördern. Sie verpassten ihm auf der Stelle eine Tracht Prügel und sperrten ihn eine Zeitlang ein, was er tapfer durchstand.

Kurzum: eine schiitische Erzählung. Man findet sie ebenfalls in einem Papyrus aus dem 9. Jahrhundert, dessen Inhalt auf den Erzähler → *Wahb ibn Munabbih (± 654–730) zurückgeht.10 Diese viel ausführlichere Erzählung enthält die folgenden „Verdienste“-Elemente:
Mohammed begibt sich eines Mittags zu Abū Bakr und berichtet über die Verschwörung der Quraisch gegen ihn. Dass die Töchter dabei auch zugegen wären, liest man hier nicht. Abū Bakr macht sich dann verdient, indem er draußen belauscht, was die Leute vorhaben. Er folgt zwei Feinden; einer von ihnen ist sogar der Leibhaftige. Dann bittet er um die Erlaubnis mit dem Propheten mitzureisen. Die bekommt er; die Abreise soll am Abend sein. Er bereitet sich vor.
Der Prophet lässt inzwischen ‘Alī holen und sagt diesem, dass er sich in sein Bett legen solle um die Verschwörer irrezuführen. Quasi nebenbei wird ihm auch gesagt, dass er Abū Bakr beauftragen solle, sich in einer gewissen Höhle dem Propheten anzuschließen. In dieser Fassung verlässt Abū Bakr also doch nicht zusammen mit dem Propheten die Stadt; das ist eine Inkonsequenz in der stark redigierten Erzählung. Oder der Prophet hat nicht die Mühe genommen, Abū Bakr die Änderung in seinem Plan mitzuteilen. Wie auch immer, der Prophet entkommt; Abū Bakr geht ihm nach, aber erschreckt ihn, so dass der Prophet stolpert und seinen Fuß verletzt. Um Schlimmerem vorzubeugen macht Abū Bakr sich jetzt bemerkbar. Zusammen betreten sie die Höhle, in der sie sich verstecken können. Beim Reinigen der Höhle wird Abū Bakr von einem Skorpion gestochen und der Prophet muss seine Zauberkunst (ruqya) anwenden um ihn zu heilen. Kurzum, Abū Bakr legt sich schon ins Zeug, aber der Prophet hat seine liebe Not mit ihm.
‘Alī hat inzwischen im Bett des Propheten geschlafen. Er zeigt den Verschwörern gegenüber Heldenmut.
Sowohl Abū Bakrs Tochter Asmā’ wie auch ‘Alī bringen tagtäglich Proviant zur Höhle; die beiden wetteifern sogar. ‘Abdallāh, der Sohn Abū Bakrs, wird in dieser Fassung nicht erwähnt.
‘Alī bekommt den Auftrag drei Kamele und einen Führer für die Weiterreise zu mieten. In der anderen Erzählung kauft Abū Bakr die Kamele aus freien Stücken und bezahlt sie aus eigener Tasche.
Beim Einzug in Medina wird Abū Bakr nicht mal erwähnt; dafür aber ‘Alī, obwohl dieser erst einige Tage später eintrifft.

Europäische Orientalisten fühlen sich oft in rätselhafter Weise mit dem sunnitischen Islam verbunden. Demzufolge meinen sie häufig, dass ‘Urwas Erzählung die ursprüngliche sei und die andere eine schiitische Überarbeitung. Vielleicht haben sie Recht, aber das Umgekehrte ist genauso gut möglich.
Die Schia, die Partei ‘Alīs, existierte schon zu dessen Lebzeiten. Sein Anrecht auf das Kalifat war von Anfang an und vor allem nach seinem Tod im Jahr 661 stets ein zentraler Streitpunkt, während das Gedankengut ‘Urwas erst nach 690 seinen Durchbruch erlebte. Wahb verstarb ca. 728, aber seine Fassung hatte schon eine ganze Geschichte hinter sich. Sie weist deutlich sekundäre ‘Alī-Reklame auf, wie z.B. dessen auffällige Rolle bei der Ernährung in der Höhle und dem Besorgen der Kamele, aber es ist nicht alles nur ‘Alī, wo man hinhört; es gibt durchaus auch Verdienste von Abū Bakr, die zum Kern der Erzählung gehören. Dagegen könnte man an ‘Urwas Version wiederum bemängeln, dass sie überall Abū Bakr und Familie auftreten lässt. Wahbs Erzählung ist eine Mischversion. Die undatierte Fassung des at-Tabarī ist viel einseitiger schiitisch. Die schiitische Erzählung könnte älter als die andere gewesen sein; man sollte diese Möglichkeit nicht voreilig ausschließen. Nur ein sorgfältiger Vergleich aller Fassungen dürfte uns hier weiter bringen. Eine Doktorarbeit wäre denkbar. 

Auf jeden Fall ist offensichtlich geworden, dass die Wertschätzung der „Verdienste“ eines bestimmten Prophetengefährten auf und ab geht, je nach Verwandtschaftsgrad und politischer Überzeugung des Erzählers. 

ANMERKUNGEN
1. Ibn Ishāq (Wüstenfeld), 323–333; Übers. Rotter 103–8;  Übers. Guillaume, 221–227.
2. ‘Alī ibn Abī Tālib, der spätere vierte Kalif (reg. 656–661, die Galionsfigur der Schiiten, die die ersten drei Kalifen für illegitim halten. Deshalb ist er in vielen Erzählungen rückwirkend ein Gegenspieler von Abū Bakr en ‘Umar. Wie die Männer sich während ihres Lebens tatsächlich zueinander verhielten, ist unbekannt.
3. At-Tabarī, Ta’rīkh i, 1233-4.
4. Khoury, Wahb i, 136–151.
5. Arabischer Text: Ibn Ishāq (Wüstenfeld), 999–1013; deutsche Übersetzung Rotter 251–259; englische Übersetzung Guillaume 678–683.
6. Ibn Ishāq (Wüstenfeld), 1008; Übers. Rotter 253–4; Übers. Guillaume 680.
7. Ibn Ishāq (Wüstenfeld), 1009 und 1010; Übers. Rotter 254–5; Übers. Guillaume 681.
8. Ibn Ishāq (Wüstenfeld), 1010; Übers. Guillaume 682.
9. Ibn Ishāq (Wüstenfeld), 1011; Übers. Rotter 255–6; Übers. Guillaume 682; Raven, Chew stick, 593–598.)
10. Ibn Ishāq (Wüstenfeld), 1012–13; Übers. Rotter 256–7; Übers. Guillaume 682–3. S. auch Der Tod des Propheten

LITERATUR
Ibn Ishāq: 
Das Leben Muhammed’s nach Muhammed Ibn Ishâk bearbeitet von Abd el-Malik Ibn Hischâm, hrsg. F. Wüstenfeld, Göttingen, 2 Bde., 1858–60 (Arabischer Text, editio princeps).
– Deutsche Übersetzung (Auswahl): Ibn Ishāq, Das Leben des Propheten, übers. Gernot Rotter, Kandern 1999.
– Englische Übersetzung: A. Guillaume, The Life of Muhammad. A translation of Isḥāq’s (sic!) Sīrat Rasūl Allāh, Oxford 1955.

– R. G. Khoury, Wahb b. Munabbih. Teil 1. Der Heidelberger Papyrus PSR Heid Arab 23. Leben und Werk des Dichters. Teil 2. Faksimiletafeln, Wiesbaden 1972.
– M. J. Kister, „On the Papyrus of Wahb B. Munabbih,“ BSOAS 37 (1974), 547–71.
– M. J. Kister, „On the Papyrus of Wahb B. Munabbih: An Addendum,“ BSOAS 40 (1977), 125–27.
– W. Raven, „The chew stick of the prophet in Sira and Hadith,“ in Anna Akasoy und Wim Raven (Hrsg.), Islamic Thought in the Middle Ages. Studies in Text, Transmission and Translation in Honour of Hans Daiber, Leiden 2008, 593–611, insbes. S. 593–5.

Diakritische Zeichen: ʿĀʾiša, ʿĀʾisha, ʿAlī ibn Abī Ṭālib, futūḥ, al-Ṭabarī, ʿUmar ibn al-Ḫaṭṭāb, Taʾrīḫ

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Moderne islamische Mohammedbiografien

Die Autoren der ältesten Prophetenbiographien waren selbstverständlich Muslime. Die ersten Biographien, sīra oder maghāzī genannt, erschienen im achten Jahrhundert; später produzierte man in dieser Gattung noch Jahrhunderte lang traditionelle, nicht europäisch kolorierte sira-Texte. Am Ende des 19. Jahrhunderts hat zunehmender europäischer Einfluss in der islamischen Welt zur allmählichen Einführung literarischer Biographien nach europäischer Art geführt. Zu deren Merkmalen gehörte die Unterbringung des beschriebenen Lebens in einer durchgehenden Erzählung, wogegen die alten Werke eher Sammlungen locker aneinandergefügten Erzählfragmente waren. In der modernen Biographie gehört es zum guten Ton, auch eine Beurteilung der beschriebenen Person zu geben, und die Biographen des Propheten übernahmen das. Die europäische historische Kritik, die gegenüber dem islamischen Glaubensgut oft einen arroganten oder gar gehässigen Ton anschlug, war für Muslime Anlass in ihren Werken den Propheten zu verteidigen und mehr Respekt für ihn zu verlangen.
Es erschienen zahlreiche moderne Werke, unter denen die gelehrtesten vielleicht die von Sir Sayyid Ahmad → Khan (1817–98), Muhammad → Hamidullah (1908–2002), Martin → Lings (1909–2005), Abdul Hameed Siddiqui und Hishām Dju‘ait (1935–) sind. Weniger gelehrt, aber unter Muslimen gern gelesen, ist das Werk von → Mubārakpūrī (1942–). Es gibt auch literarische Werke, in denen die Prophetenbiographie neu geschrieben oder verarbeitet wird, von Autoren wie Muhammad Husain → Haikal (1888–1956), Tāhā → Husain (1889–1973), Taufīq → al-Hakīm (1898–1987), ‘Abbās Mahmūd → al-‘Aqqād (1889–1964) and Nadjīb → Mahfūz (1911–2006), noch ganz abgesehen von unzähligen populären und erbaulichen Schriften.
Von den europäischen Orientalisten übernahmen die modernen islamischen Biographen meist das chronologische Gerüst. Zudem folgten sie westlichen literarischen Biographien, indem sie fragmentarische alte Texte zu längeren, zusammenhängenden Erzählungen umgestalteten und fortan auch eine Skizze und eine Charakterbeschreibung und -beurteilung des Propheten boten. Bis auf Mahfūz vielleicht haben sie alles weggelassen, was Zweifel oder negative Gefühle verursachen könnte, und haben somit wenig Raum für die menschlichen, allzu menschlichen Züge des Propheten gelassen. So ängstlich waren die ältesten sīra-Autoren nicht gewesen.

Biographie und fiqh
Aus islamischer Sicht ist die sunna des Propheten nicht nur in der Hadith-Literatur, sondern auch in der sira niedergelegt worden. Doch wird der Hadith als die bessere Quelle betrachtet, weil Hadithgelehrte sich um Kontrolle der Quellen mittels Überliefererketten (isnad) gekümmert haben. Man hat aber auch viel sira-Material gleichsam upgraded und für die Zukunft gerettet, indem man es in Hadithen unterbrachte. Oft ist es dann etwas verkürzt und auf die Bedürfnisse der Juristen zugeschnitten.
Inwieweit die Biographie als Quelle der islamischen Rechtswissenschaft (fiqh) und der Glaubenslehre verwendbar war, wurde u. a. von Ibn Taimīya (1263–1328) thematisiert, der den Standpunkt vertrat, dass viel biographisches Material für die Rechtswissenschaft nicht als Argument einsetzbar ist, außer wenn das Thema sehr wichtig und der Text mit mehreren Überliefererketten überliefert worden ist. In seinem Geist sind in unserer Zeit Bücher mit Titeln wie Fiqh as-sīra erschienen, die nicht viel mehr tun als die alten Quellen, insoweit sie korrekt überliefert waren, noch mal abzudrucken und mit erbaulichen Gedanken zu umspielen (→ Albānī, Ghadbān).

Siehe auch Moderne nichtislamische Mohammedbiografien.

BIBLIOGRAPHIE
– ʿAbbās Maḥmūd al-ʿAqqād, ʿAbqarīyat Muḥammad, Kairo 1941.
– Muḥammad Nāṣir ad-Dīn al-Albānī, Fiqh as-sīra, bearb. von Muḥammad al-Ġazālī, Kairo 19888.
– Munīr Muḥammad al-Ġaḍbān, Fiqh as-sīra an-nabawīya, Kairo 1997.
– Hišām Ǧuʿayṭ, Fī as-sīra an-nabawīya, Beirut, 2 vols, 2001, 2007.
– Tawfīq al-Ḥakīm, Muḥammad, Kairo 1936.
– Muhammad Hamidullah, Muhammad Rasulullah: A concise survey of the life and work of the founder of Islam, Hyderabad 1974.
– idem, Le prophète de l’Islam. 1. Sa vie, 2. Son œuvre, Paris 1959.
– idem, Battlefields of the Prophet Muhammad, Hyderabad 19732.
– idem, The prophet of Islam: Prophet of migration, n.p. 1989.
– idem, The Prophet’s establishing a state and his succession, Islamabad 1988.
– Muḥammad Ḥusayn Haikal, Ḥayāt Muḥammad, Kairo 1933 (Das Leben Muhammads (s.a.s.), übers. unbekannt, Siegen 1987. Herunterladen hier.
– Ṭāhā Ḥusayn,ʿAla hāmish as-sīra, Kairo 1933.
– Sir Sayyid Ahmad Khan, A series of essays on the life of Muhammad and subjects subsidiary thereto, London 1870.
– Martin Lings, Muhammad. Sein Leben nach den frühesten Quellen, übers. Shukriya Uli Full, Kandern 2004.
– Naǧīb Maḥfūz, Awlād ḥāratinā, Beirut 1967.
– Ṣafī ar-Raḥmān al-Mubārakpūrī, The Sealed Nectar (ar-Raheequl makhtum), übers. Issam Diab, Dar us-Salam Publishers, Ort?@.
– Abdul Hameed Siddiqui, The life of Muhammad (PBUH), Lahore 1969, 199310.
– Antonie Wessels, A modern biography of Muḥammad. A critical study of Muḥammad Ḥusayn Haykal’s “Ḥayāt Muḥammad, Leiden 1972.
– idem, „Modern biographies of the life of the Prophet Muhammad in Arabic,“ Islamic Culture 49 (1975), 99-105.

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Der Tod des Propheten

Wenn eine geliebte oder verehrte Person stirbt, ist die erste Reaktion oft eine des Unglaubens: Nein, es ist nicht wahr! Einen solchen Unglauben an den Tod des Propheten Mohammed, der nach einer unbekannten Krankheit verstorben war, hat ein siraErzähler ‘Umar in den Mund gelegt. Abū Bakr soll ihn korrigiert haben:

  • Az-Zuhrī überlieferte mir von Sa‘īd ibn Musayyab den folgenden Bericht des Abū Huraira:
    Nachdem der Prophet verstorben war, erhob sich ʿUmar und sprach zu den Muslimen:
    „Einige Heuchler werden behaupten, der Prophet sei gestorben. Nein! Der Gesandte Gottes ist nicht gestorben, sondern er ist zu seinem Herrn gegangen, so wie Moses, der vierzig Nächte von seinem Volk fernblieb und dann zu ihm zurückkehrte, nachdem behauptet worden war, er wäre gestorben. Bei Gott, der Prophet wird zurückkehren, wie Moses zurückgekehrt ist, und wird denjenigen Hände und Füße abschlagen, die behauptet haben, er wäre gestorben.“
    Als Abū Bakr davon hörte, begab er sich zum Tor der Moschee, während ‘Umar zu den Leuten sprach. Er achtete auf nichts, sondern ging in das Zimmer der ʿĀʾiša, in dem der Prophet mit einem Mantel aus jemenitischem Stoff bedeckt lag. Er trat hinzu, deckte das Gesicht des Propheten auf, küsste es und sprach:
    „Du, der du mir teurer bist als Vater und Mutter, hast den Tod gekostet, den Gott dir beschieden hat, und ein zweiter Tod wird dich nicht mehr treffen.“
    Er legte ihm den Mantel wieder über das Gesicht, trat hinaus, wo ‘Umar zu den Menschen sprach, und forderte ihn auf zu schweigen. Dieser weigerte sich aber und redete weiter. Da wandte Abū Bakr sich selbst an die Gläubigen, und als sie seine Worte vernahmen, ließen sie ʿUmar stehen und kamen zu ihm. Abū Bakr lobte und pries Gott und sprach:
    „O ihr Menschen! Wenn jemand Muḥammad anbetet, Muḥammad ist tot! Wenn jemand Gott anbetet, Gott lebt und wird nie sterben.“ Dann trug er den Koranvers vor: „Muḥammad ist nur ein Gesandter. Vor ihm hat es schon Gesandte gegeben. Werdet ihr euch dann zurückwenden, wenn er stirbt oder getötet wird? Wer sich zurückwendet, wird Gott keinen Schaden zufügen. Aber Gott wird es denen vergelten, die dankbar sind.“ [K. 3:44]
    Bei Gott, es war, als hätten die Muslime nichts von der Offenbarung dieses Verses gewusst, bevor ihn Abū Bakr damals vortrug. Sie übernahmen ihn und führten ihn ständig im Munde. ʿUmar aber erzählte später:
    „Bei Gott, kaum hatte ich Abū Bakr den Vers vortragen hören, war ich so erschüttert, dass mich meine Füße nicht mehr trugen und ich zu Boden stürzte: Ich wusste jetzt, der Prophet war wirklich gestorben!“ 1

Der zitierte Koranvers treibt zur Nüchternheit: Das Leben geht weiter. Mohammed war ja „nur“ ein Gesandter; ein normaler Mensch und deshalb sterblich. Auch an anderen Stellen ist der Koran dazu eindeutig. Deshalb hatten die Erzähler nicht die Möglichkeit ihn weiterleben zu lassen oder seinen Aufenthalt auf Erden so enden zu lassen wie bei früheren Propheten. Von Henoch (Idrīs) erzählt die Bibel, dass „Gott ihn hinwegnahm“ (1. Mose 5:24); Elia (Ilyās) „fuhr im Wetter gen Himmel” (2 Könige 2:11) und auch Jesus „fuhr gen Himmel“ (Apostelgeschichte 1:9–11). Ein Erzähler fand eine Alternative: Mohammed sei vor die Wahl gestellt worden: sterben oder länger leben, und er habe den Tod gewählt. So sollte sein Dahinscheiden für seine Anhänger erträglicher werden:

  • […] von ‘Abdallāh ibn ‘Amr habe ich erfahren, dass der Freigelassene des Propheten Abū Muwaihiba Folgendes erzählt habe: Mitten in der Nacht ließ der Prophet mich zu sich kommen und sagte:
    „Mir wurde befohlen, für die Tote auf dem Baqī‘-Friedhof um Vergebung zu beten. So komme mit mir!”
    Ich ging mit ihm und als er mitten zwischen den Gräbern stand, sprach er:
    „Friede sei über euch, o ihr Volk der Gräber! Freut euch, dass ihr nicht mehr seid, wo die Lebenden sind! Wie Fetzen der finsteren Nacht nahen die Versuchungen, eine nach der anderen, die letzte schlimmer als die erste.“ Und zu mir gewandt fuhr er fort: „Mir wurden die Schlüssel zu den Schätzen dieser Welt und der Aufstieg ins Paradies nach einem langen Leben hier angeboten, und ich wurde vor die Wahl gestellt, mich dafür oder für die Begegnung mit meinem Herrn und den Eintritt ins Paradies schon jetzt zu entscheiden.”
    „Ich flehe dich an, nimm die Schlüssel für die Schätze dieser Welt, ein langes Leben darin und den Eintritt ins Paradies!“ bat ich ihn, doch er sprach:
    „Nein, bei Gott, Abū Muwaihiba! Ich habe mich entschieden, schon jetzt meinem Herrn zu begegnen und ins Paradies einzugehen.“
    Dann bat er für die Toten um Vergebung und nachdem er den Friedhof verlassen hatte, begann sein Leiden, durch das Gott ihn zu sich nahm.2

Laut einem Hadith geschah es in der Tat so:

  • Ya‘qūb ibn ‘Utba überlieferte mir von az-Zuhrī, der sich auf ‘Urwa beruft, die folgenden Worte Aischas:
    An jenem Tag kam der Prophet von der Moschee zurück und legte das Haupt in meinen Schoß. Da trat ein Mann aus der Familie Abū Bakrs ein. In der Hand trug er ein grünes Zahnputzholz,3 und als ich den Blicken des Propheten entnahm, dass er das Holz gerne gehabt hätte, fragte ich ihn: „Möchtest Du das Zahnputzholz?“
    Er bejahte. Ich nahm das Hölzchen, kaute es für ihn weich und gab es ihm. Er rieb sich damit so gründlich die Zähne, wie ich es noch nie bei ihm gesehen hatte, und legte es beiseite. Dann bemerkte ich, wie mir sein Kopf auf meinem Schoße schwer wurde, und als ich ihm darauf ins Antlitz sah, waren seine Augen starr. Er sprach:
    „Ja! Die höchste Gefährtenschar im Paradies!“4
    „Bei Dem, Der dich mit der Wahrheit gesandt hat! Du wurdest vor die Wahl gestellt und hast gewählt! antwortete ich, und der Gesandte Gottes verschied.5

So war der Tod Mohammeds auch etwas Besonderes geworden, aber doch ganz anders als bei den anderen Propheten. Das biblische Motiv der Hinwegnahme war hier einfach nicht einsetzbar, weil der Koran in seinen Aussagen über die Normalität und Sterblichkeit des Propheten ganz eindeutig ist. Die Hadith-Literatur verneint darauf einfach den Unterschied: alle Propheten seien wie Mohammed gestorben:

  • Az-Zuhrī überliefert von ‘Ubayd ibn Abdallāh ibn ‘Utba, der es von Aischa gehört hatte: Ich habe den Propheten oft sagen hören: „Gott nimmt keinen Propheten zu sich, ohne ihn vor die Wahl zu stellen.“ Als der Prophet im Sterben lag, war das Letzte, das ich ihn sagen hörte: „Nein, lieber die höchste Freundesschar im Paradies.“ Dann wählt er uns also nicht, dachte ich, und erst dann verstand ich was die Worte bedeuten: dass kein Prophet stirbt bevor er nicht vor die Wahl gestellt worden ist.6
  • Mālik hat gehört, dass Aischa gesagt habe: Kein Prophet stirbt, bevor er nicht vor die Wahl gestellt worden ist. Ich habe ihn sagen hören: „O Gott, die höchste Freundesschar im Paradies!“ und dann verstand ich, dass er von uns gehen würde.7

Ich denke nicht, dass das Thema hiermit erschöpft ist. Bei Gelegenheit werde ich mal nachschlagen, ob Ginzbergs The Legends of the Jews noch etwas bietet.

ANMERKUNGEN
1. Ibn Isḥāq: Das Leben Muhammed’s nach Muhammed Ibn Ishâk bearbeitet von Abd el-Malik Ibn Hischâm, hg. F. Wüstenfeld, Göttingen 1858–60, 1012–13. Übersetzung: Ibn Isḥāq, Das Leben des Propheten, übers. Gernot Rotter, Kandern 1999, 256–7.
2. Ibn Isḥāq o. c., 1000; Übers. Rotter 252.
3. Ein Zweig des arāk-Baums (Salvadora persica), der gekaut und im Mund hin und her bewegt wird, wie Süßholz bei uns.
4. Ar-rafīq al-aʿlā, vgl. Koran 4:69.
5. Ibn Isḥāq o. c., 1011; Übers. Rotter 255–6, mit einer Korrektur von mir.
6. Ibn Isḥāq o. c., 1008.
7. Mālik, Djanāʾiz 46.

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Koranverse erweitert und vergrößert

Koranverse können in Erzählungen erweitert und vergrößert werden. Soweit ich jetzt überblicken kann, ist Erweiterung eine Sache der Koranexegese (tafsīr), während Vergrößerung in der Mohammedbiographie (sīra)  und den Prophetenerzählungen (qisas al-anbiyā’) stattfindet. Bestimmt gibt es auch Überlappungen zwischen beiden Verarbeitungsweisen.
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Eine Erweiterung (amplification) geht wie folgt: Ein Vers oder einige Wörter aus der Schrift werden herangezogen und mit einer kurzen Erzählung spielerisch umkleidet. Dies bietet dem Erzähler die Gelegenheit einiges schwer Verständliche zu erklären.
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Der Koranvers: Und Abraham sagte: „Ich will zu meinem Herren gehen. Er wird mich rechtleiten.“ „Mein Herr! Schenk mir einen von den Rechtschaffenen!“ Und wir verkündeten ihm einen braven Jungen,1 ist zum Beispiel der Ausgangspunkt einer exegetischen Erzählung:

  • Als Ibrāhīm (Abraham), der Freund Gottes, sich von seinen Leuten getrennt hatte und er nach Syrien emigrierte, auf der Flucht mit seiner Religion, sowie Gott sagt: „Ich will zu meinem Herrn gehen,“ bat er zu Gott, dass Er ihm bei Sarah einen Sohn schenken würde von den Rechtschaffenen: „Mein Herr, gib mir einen von den Rechtschaffenen!“ Als seine Gäste, die Engel, die zu der umgeworfenen Stadt gesandt waren, bei ihm abstiegen, verkündeten sie ihm einen braven Jungen.2

Die kursiv gedruckten Wörter sind Korantext; der Rest ist darum herum erzählt. Im Judentum würde man von „Midrasch“ reden. Die Absicht ist offenbar, den Vers näher zu erklären, indem auf verspielte Weise etwas mehr erzählt wird, und ihn ins größere Ganze der Heilsgeschichte zu platzieren.
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Von Vergrößern (blow up) kann man reden, wenn ein Koranvers die Basis einer längeren Sira-Erzählung bildet, die zwei oder mehr Seiten in Beschlag nehmen kann. Ob die Absicht Koranauslegung oder vielmehr die Koranisierung bereits vorhandenen narrativen Materials ist, ist nicht immer eindeutig.
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Ein Beispiel ist die Erzählung zu den Teufelsversen (English: Satanic verses). Diese Erzählung hat als Quelle den Vers: Und wir haben vor dir keinen Gesandten oder Propheten geschickt, ohne daß ihm, wenn er etwas wünschte, der Teufel in seinen Wunsch unterschoben hätte. Aber Gott tilgt dann, was der Teufel (dem Gesandten oder Propheten) unterschiebt. Hierauf legt Gott seine Verse (eindeutig) fest.3
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Die Erzählung werde ich jetzt anhand der koranischen Elemente kurz zusammenfassen; in vollständiger Form kommt es später *hier.
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wenn er etwas wünschte: Mohammed wollte seinen ungläubigen Stadtgenossen, die ihm in die Quere kamen und ihn verfolgten, durch Anerkennung ihrer drei Göttinnen entgegenkommen.
dass ihm […] der Teufel […] in seinen Wunsch unterschoben hätte: Er bekam vom Teufel zwei falsche Koranverse eingegeben, die er in Sura 53 einfügte. Die Mekkaner freuten sich.
aber Gott tilgt […], was der Teufel […] unterschiebt: Gabriel erscheint um dem Propheten bestrafend zuzureden und die falschen Verse zu tilgen.
hierauf legt Gott seine Verse (eindeutig) fest: Der Prophet bekommt die richtige Fortsetzung der Sura offenbart.4
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Ein zweites Beispiel: die Verschwörung der ungläubigen Mekkaner, die sich am Vorabend der Hidschra des Propheten entledigen wollen. Die ganze Erzählung wird irgendwann *hier übersetzt werden.
Quelle ist Koran 8:30: Und damals, als die Ungläubigen gegen dich Ränke schmiedeten, um dich einzusperren oder zu töten oder zu vertreiben! Sie schmieden Ränke, aber auch Gott schmiedet Ränke. Gott ist der beste, der Ränke schmiedet.5

Eine Zusammenfassung der Erzählung zeigt wie sie mit dem Koranvers zusammenhängt:

als die Ungläubigen gegen dich Ränke schmiedeten: der Gemeinderat Mekkas kommt im Rathaus zusammen um einen Plan über den „Fall“ Mohammed zu schmieden. Der Teufel ist anwesend als Berater.
um dich einzusperren: einer der Vorschläge ist, den Propheten einzusperren und verhungern zu lassen.
oder zu vertreiben: ein anderer ist, ihn aus der Stadt zu vertreiben.
oder zu töten: der dritte und letzte Vorschlag (im Koranvers der zweite) wird vom Teufel gutgeheißen: Die mekkanischen Gegner werden Mohammed mit zwölf Mann töten, um die Blutschuld zu streuen.
sie schmieden Ränke: noch ein Hinweis auf die Beratschlagung.
aber auch Gott schmiedet Ränke: Gott hat einen Gegenplan. ‘Alī soll sich im Bett des Propheten schlafen legen. Die Gegner werden zeitweilig geblendet, so dass sie den Propheten nicht sehen können, wenn er entwischt.
Gott ist der beste, der Ränke schmiedet: Gottes List ist erfolgreich und der Prophet kann entkommen und seine Hidschra antreten.6
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Es gibt in diesen letzten beiden Erzählungen Elemente, wie z.B. der Auftritt des Teufels, die sicherlich nicht koranisch sind. Wer weiß: vielleicht war der ursprüngliche Stoff sogar überhaupt nicht koranisch. Aber der Aufbau in dieser Form folgt dem der Verse auf dem Fuße.
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In Siratexten gibt es noch einige Stellen, an denen ein Koranvers die Grundlage einer Erzählung bildet.7 Es wird deutlich sein, dass wir es in solchen Fällen nicht mit Geschichtsschreibung zu tun haben.

ANMERKUNGEN:
1. Koran 37:100–1: ‎وَقَالَ إِنِّي ذَاهِبٌ إِلَىٰ رَبِّي سَيَهْدِينِ رَبِّ هَبْ لِي مِنَ الصَّالِحِينَ فَبَشَّرْنَاهُ بِغُلَامٍ حَلِيمٍ . Übersetzung Paret.
2. Ath-Thaʿlabī, Qisas al-anbiyā’, Beirut 2004, S. 95. Idem, übers. H. Busse, Wiesbaden 2006, S. @.
3. Koran 22:52: ‎وَمَا أَرْسَلْنَا مِنْ قَبْلِكَ مِنْ رَسُولٍ وَلَا نَبِيٍّ إِلَّا إِذَا تَمَنَّىٰ أَلْقَى الشَّيْطَانُ فِي أُمْنِيَّتِهِ فَيَنْسَخُ اللهُ مَا يُلْقِي الشَّيْطَانُ ثُمَّ يُحْكِمُ اللهُ آيَاتِهِ وَاللهُ عَلِيمٌ حَكِيمٌ . Übersetzung Paret.
4. At­-Tabarī, Ta’rīkh al-mulūk wal-rusul, hg. M.J. de Goeje et al, Leiden 1890 ff, i, 1192–5.
5. وَإِذْ يَمْكُرُ بِكَ الَّذِينَ كَفَرُوا لِيُثْبِتُوكَ أَوْ يَقْتُلُوكَ أَوْ يُخْرِجُوكَ ۚ وَيَمْكُرُونَ وَيَمْكُرُ اللهُ وَاللهُ خَيْرُ الْمَاكِرِينَ
6. Ibn Ishāq: Das Leben Muhammed’s nach Muhammed Ibn Ishâk bearbeitet von Abd el-Malik Ibn Hischâm, hg. F. Wüstenfeld, Göttingen 1858–60, 323–329.
7. Z. B. Koran 3:199 und die Geschichte der muslimischen Migranten bei dem abyssinischen Negus, Ibn Ishāq: o.c., 323–329. Cf. W. Raven, „Some early islamic Texts on the Negus of Abyssinia,” JSS 33/2 (1988), S. 197–218, insbes. S 201; online hier.

Diakritische Zeichen: qiṣaṣ al-anbiyāʾ, Aṯ-Ṯaʿlabī, aṭ­-Ṭabarī, Taʾrīḫ, Ibn Isḥāq

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Höllenstrafen

Nach islamischer Überlieferung machte Mohammed eine Reise durch Himmel und Hölle. Der älteste Bericht hierzu steht in der sīra des Ibn Ishāq (gest. 767). Später ist eine ganze Himmelfahrtliteratur (*mi‘rādj) entstanden, der auch Dante Vieles zu verdanken hat.
In den jüdischen und christlichen Literaturen gab es schon etliche solche Reiseberichte, bekannt unter dem Namen Apokalypse. Einer von denen ist in der Bibel gelandet: die Apokalypse oder Offenbarung des Johannes. Andere hat man hierzu für nicht gut genug befunden, aber sie sind dennoch erhalten: unter den Namen Henoch, Moses, Petrus, Paulus und noch anderen. In der persischen Literatur muss diese Art Erzählung schon viel länger existiert haben.
Die Hölle wird meist mit mehr Gusto beschrieben als das Paradies. Horror und Sadismus sind nun mal spannender als ewige Freude. Das menschliche Bedürfnis, das heutzutage durch Horrorfilme aus Hollywood bedient wird, wurde damals durch Texte dieser Art befriedigt. 
Aus der Erzählung der Himmelsreise Mohammeds folgt hier ein kleines Detail. Der Prophet besichtigt in der Hölle verschiedene Sündergruppen:

  • Darauf sah ich Männer mit Lefzen wie Kamele; in ihren Händen hatten sie faustgroße Stücke Feuer, die sie in ihren Mund warfen und die von hinten wieder herauskamen. Ich fragte Gabriel, wer sie waren. Er sagte: „Das sind Menschen, die unrechtmäßig den Besitz der Waisen verzehrt haben.
  • “Darauf sah ich Männer, die mageres, stinkendes Fleisch vor sich stehen hatten, und fettes, leckeres Fleisch daneben, aber nur von dem stinkenden Fleisch konnten sie essen. „Wer sind diese da?“ fragte ich Gabriel. Er sagte: „Das sind die, die nicht die Frauen nahmen, die Gott ihnen erlaubte, sondern Frauen nachstellten, die Gott ihnen verboten hatte,“ 1

Die Berichte sind also nach einem bestimmten Muster aufgebaut: „Ich sah …, ich fragte den Begleiter: Wer/was …? … und er sagte: … .“ Die vorangegangenen apokalyptischen Texte sind ähnlich aufgemacht. In der Paulusapokalypse sieht es wie folgt aus:

  • Und ich sah einen anderen Menschen im feurigen Flusse bis an die Knie. Es waren aber seine Hände ausgestreckt und blutig, und Würmer gingen aus seinem Munde und aus seinen Nasenlöchern, und er war seufzend und weinend, und ausrufend sagte er: Erbarme dich meiner, denn mir wird mehr Leid zugefügt, als den übrigen, die in dieser Strafe sind. Und ich fragte: Wer ist dieser, Herr? Und er sagte zu mir: Dieser, den du siehst, ist Diakon gewesen, der die Opfergaben aufaß und hurte und das Rechte angesichts Gottes nicht tat. Deshalb bezahlt er unaufhörlich diese Strafe.2

Und im vorislamischen persischen Buch Arda Viraf so:

  • Und ich sah die Seele eines Mannes, dessen Augen ausgestochen waren und dessen Zunge abgeschnitten war. Er war in der Hölle an einem Fuß aufgehängt; sein Körper wurde stetig mit einem zweiseitigen kupfernen Kamm geharkt und ein eiserner Nagel war in seinen Kopf getrieben. Ich fragte: „Wer ist dieser Mann und welche Sünde hat er begangen?“ Srōš, der Fromme, und der Gott(?) Ādur sagten: „Dies ist die Seele des gottlosen Richters, dessen Aufgabe in der Welt es war, die Gottlosen zu verurteilen, aber er nahm Schmiergelder und sprach lügenhafte Urteile. 3

In der jüdischen Legende, von der ich nur die englische Fassung von Ginzberg4 zur Verfügung habe, wird die Frage ausgelassen:

  • Darauf sagte Nasargiel zu Moses: „Komme und siehe wie die Sünder in der Hölle verbrannt werden.“ […] Moses sah wie die Sünder verbrannt wurden, die eine Hälfte ihres Körper in Feuer und die andere in Schnee getaucht, während Würmer, die in ihrem eigenen Fleisch ins Leben gekommen waren, über sie krochen und die Engel der Vernichtung sie unaufhörlich schlugen. Nasargiel sagte: „Diese sind die Sünder, die Inzest, Mord und Götzendienst betrieben haben, die ihre Eltern und Lehrer verflucht haben und die, wie Nimrod und andere, sich selbst Götter nannten.“

Es ist offenkundig, dass die Erzählung von Mohammeds Himmelsreise in einer langen Tradition steht. Der persische Text ist nicht so alt, aber weil Paradies und Hölle persische Erfindungen sind, ist es wahrscheinlich, dass auch dieses Motiv schon viel länger existiert.
Dies waren nur einige Beispiele. Die Texte, vor allem Arda Viraf, handeln von einer ganzen Reihe von Sündern, über die immer nach demselben Muster erzählt wird.

Anmerkungen
1. Ibn Isḥāq: Das Leben Muhammed’s nach Muhammed Ibn Ishâk bearbeitet von Abd el-Malik Ibn Hischâm, hg. F. Wüstenfeld, Göttingen 1858–60, 269.   (± 760)
2. „Apokalype des Paulus,“ in: Neutestamentliche Apokryphen in deutscher Übersetzung. II. Apostolisches. Apokalypsen und Verwandtes, hrsg. W. Schneemelcher, Tübingen 19895, S. 663. (@. Jh.; das ganze Werk in englischer Übersetzung hier.)
3. Ardâ Wirâz Nâmag. The Iranian ‘Divina Commedia’, hrsg. Fereydun Vahman, London/Malmö 1986, S. 214. (6. Jh.; das ganze Werk in einer älteren englischen Übersetzung hier.)
4. Louis Ginzberg, The Legends of the Jews, Philadelphia 1954–59, ii, 312; Quellennachweis v, 416–18. Es kann sein, dass die Frage fehlt, weil Ginzberg die Erzählung etwas verkürzt hat.

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Umars Bekehrung. Eine verborgene Schrift

Zum Bericht über die Bekehrung des Apostels Paulus in der Apostelgeschichte der Bibel gibt es in der Prophetenbiographie (sīra) eine Parallele in der Erzählung von der Bekehrung des ‘Umar ibn al-Khattāb, der später Kalif wurde. Beide Männer hatten zuerst die neue Religion aufs Heftigste bekämpft, beide werden nach einer unerwarteten Bekehrung ihre energischsten Verteidiger. Die Bekehrung des Paulus geschah urplötzlich, als ihn auf dem Weg nach Damaskus eine Vision überkam, die seine Augen blendete.1 Bei ʿUmar kam die Wende ebenso blitzartig, als er in der Wohnung seiner Schwester Fātima mit dem Koran konfrontiert wurde. Der Koran spielt die Hauptrolle bei seiner Bekehrung; das ist fein islamisch gedacht.
Der noch unbekehrte ‘Umar—kurz angebunden wie immer—stürmt ins Zimmer seiner Schwester und fragt in barschem Ton, was das zu bedeuten habe. Es kam sogar zu Handgreiflichkeiten. Fātima verbirgt das Blatt mit dem Korantext, und zwar, indem sie sich daraufsetzt. Heutige islamische Koranverehrer würden es wohl nie wagen, auf so eine Idee zu kommen, aber so steht es in der Prophetenbiographie von Ibn Isḥāq aus dem achten Jahrhundert.2 Zu der Zeit waren die Menschen noch nicht so zimperlich. ‘Umar will das Blatt sehen, aber seine Schwester weigert sich es herauszugeben, mit der Begründung, dass er unrein sei und der Koran nur von Reinen berührt werden dürfe. Nachdem er sich gereinigt hat, liest ʿUmar das Blatt dann doch — und wird bekehrt.

Es ist offensichtlich: der Erzähler hatte hier die Koranverse 56:77–79 im Kopf, einen Passus, in dem ebenfalls der Koran im Mittelpunkt steht:  انه لقرآن كريم في كتاب مكنون لا يمسه الا المطهرون „Es ist wirklich ein vorzüglicher Koran, in einer verborgenen Schrift, die nur Reine berühren dürfen.“ Über die verborgene Schrift (kitāb maknūn) ist im Laufe der Jahrhunderte viel Tiefsinniges gesagt worden: Sie werde von Gott im Himmel aufbewahrt usw. Aber der Erzähler dieser frühen Geschichte hat daran nicht gedacht. Er hat den beiden Wörtern eine einfache, etwas derbe Deutung gegeben, indem er Fātima das Blatt auf ihre Weise „verbergen“ ließ.

Auch veröffentlicht in zenith Juli/August 2013, 94–95.

ANMERKUNGEN
1. Bibel, Apostelgeschichte 9:3.
2 Das Leben Muhammed’s nach Muhammed Ibn Ishâk bearbeitet von Abd al-Malik Ibn Hischâm, hrsg. F. Wüstenfeldt. 2 Bde., Göttingen 1858-60, S. 224. Übersetzung: Ibn Isḥāq, Das Leben des Propheten, übers. Gernot Rotter, Kandern 1999, S. 71-74. Hier finden Sie meine Übersetzung der ganzen Erzählung.

Diakritische Zeichen: ʿUmar ibn al-Khaṭṭāb, Fāṭima

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Sira in Alt-England?

In der bekannten Erzählung aus der Prophetenbiografie (sīra) des Ibn Ishāq1 über die erste Koranoffenbarung kommt der Engel Gabriel zum schlafenden Mohammed mit einer Decke aus Goldbrokat, auf der Schriftzeichen stehen.
– Rezitiere! befiehlt Gabriel ihm.
– Ich kann nicht rezitieren, erwidert Mohammed, worauf der Engel dessen Hals kräftig zudrückt.
– Rezitiere! sagt Gabriel abermals.
– Ich kann nicht rezitieren, erwidert Mohammed, worauf dasselbe noch mal passiert.
– Rezitiere! sagt Gabriel zum dritten Mal.
– Was soll ich denn rezitieren, antwortet Mohammed jetzt, und darauf wird ihm die Sure 96 des Korans offenbart.

Dies hat eine Parallele in einer Erzählung des Briten Beda Venerabilis (673–735) über den Laienbruder Cædmon, der von Gott den Auftrag und die Gabe bekommt, geistliche Lieder zu dichten und zu singen. Das geht so:
Der Laienbruder Cædmon kann weder singen noch Harfe spielen. Nachts in seinem Schlaf bekommt er einen Besucher, der sagt:
– Cædmon, singe mir etwas!
– Ich kann nicht singen, erwidert er.
– Du musst aber singen!
– Was soll ich dann singen?
– Singe über den Anfang der Schöpfung!
Nach dieser Antwort fing er gleich an Loblieder auf Gott, den Schöpfer, zu singen, die er noch nie gehört hatte … .2

Die Erzählung steht in Bedas Kirchengeschichte, die ca. 731 vollendet worden ist. Die Übereinstimmung ist vom Skandinavisten Von See entdeckt worden und die Orientalisten Sellheim und Schoeler haben einstimmend darauf hingewiesen.3 Die beiden Letzten folgern, dass die Prophetenbiographie also schon ca. 730 in England bekannt gewesen sein muss. Unmöglich ist dies nicht; Spanien war damals schon von den Arabern erobert worden, und von dort war England nicht mehr weit. Damit wäre dann auch bewiesen, dass die arabische Erzählung schon lange bevor Ibn Ishāq sie ± 760 in sein Buch aufnahm existierte.
Aber das Motiv bei Beda kann doch auch in England ohne arabische Quelle, einfach unter Einfluss der Bibel entstanden sein? Auch die spricht von Propheten, die protestieren, wenn sie beauftragt werden zu sprechen, und das erst können, nachdem Gott es ihnen ermöglicht hat, nämlich Moses (2. Mose 4:1, 10, 13) und Jeremia (Jeremia 1:6). Das Schema: zwei Mal sich weigern, das dritte Mal einwilligen, scheint mir weltweit vorzukommen und ein typischer Zug oraler Literatur zu sein. Die Cædmongeschichte beweist gar nicht, dass die sīra so früh in England bekannt war.

ANMERKUNGEN
1. Ibn Ishāq: Das Leben Muhammed’s nach Muhammed Ibn Ishâk bearbeitet von Abd el-Malik Ibn Hischâm, uitg. F. Wüstenfeld, Göttingen 1858–60, 152–
2. Beda Venerabilis, Historia Ecclesiastica gentis Anglorum iv, 24, Latein mit englischer Übersetzung: … adstitit ei quidam per somnium, eumque salutans, ac suo appellans nomine: ‘Cædmon,’ inquit, ‘canta mihi aliquid.’ At ille respondens: ‘Nescio,’ inquit, ‘cantare; nam et ideo de conuiuio egressus huc secessi, quia cantare non poteram.’ Rursum ille, qui cum eo loquebatur, ‘Attamen,’ ait, ‘mihi cantare habes.’ ‘Quid,’ inquit, ‘debeo cantare?’ Et ille, ‘Canta,’ inquit, ‘principium creaturarum.’ Quo accepto responso, statim ipse coepit cantare in laudem Dei conditoris uersus, quos numquam audierat, …;  Thereupon one stood by him in his sleep, and saluting him, and calling him by his name, said, “Cædmon, sing me something.” But he answered, “I cannot sing, and for this cause I left the banquet and retired hither, because I could not sing.” Then he who talked to him replied, “Nevertheless thou must needs sing to me.” “What must I sing?” he asked. “Sing the beginning of creation,” said the other. Having received this answer he straightway began to sing verses to the praise of God the Creator, which he had never heard, … (Bede’s Ecclesiastical History of England, transl. A. M. Sellar, London 1907).
3. K. von See, ‘Caedmon und Muhammad,’ in Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur 112 (1983), 225–233; R. Sellheim, ‘Mohammeds erstes Offenbarungserlebnis […],’ in JSAI 10 (1987), 13ff.; G. Schoeler, Character und Authentie der muslimischen Überlieferung über das Leben Mohammeds, Berlin/New York 1996, 61.

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