Mohammed und die Juden

Dieses Thema ist zu groß und zu kompliziert, um es hier umfassend zu behandeln. An dieser Stelle werde ich nur erklären, weshalb es so schwierig ist.

Die drei wichtigsten alten arabischen Quellentexte, in den Juden vorkommen, passen nicht zu einander. Und auch die erhaltenen Fetzen alter Poesie, die fantastischen Erzählungen im Hadith sowie die Behandlung des Themas in späteren Geschichtswerken führen nicht weiter.
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1. Der Koran nennt die Juden bei Namen (yahūd) und erwähnt sie darüber hinaus, zusammen mit den Christen, auch als „die Leute der Schrift,“ (ahl al-kitāb). Die Juden werden bald zu den Gläubigen, bald zu den Ungläubigen gezählt. Ihre Sünden in der Vergangenheit werden mit religiösen Begriffen beschrieben, die zum Großteil mit denen im Neuen Testament parallel laufen: Die Juden haben Propheten getötet und wollten auch Jesus töten; sie haben sich nicht an die Regeln ihrer eigenen Thora gehalten und die Meisten betrachten sich als das auserwählte Volk — zu Unrecht! Viele dieser Sünden haben sie laut Koran übrigens mit den Christen gemeinsam.
In der Entstehungszeit des Korans kam noch der Vorwurf hinzu, dass die Juden die Schrift verfälscht (z. B. in Vers 4:46) und Teile davon den Gläubigen verheimlicht hätten (2:76), während sie andererseits die Echtheit des Korans nicht anerkannten. Ihr Monotheismus ist keineswegs lupenrein: Unter anderen betrachteten sie Esra (‘Uzair) als Sohn Gottes. Den wahren Gläubigen seien sie feindselig gesonnen. Wegen ihrer falschen Einstellung Schrift und Gesetz gegenüber wird Gläubigen geraten, sich mit Juden und Christen nicht anzufreunden (5:51).
Die Einwände gegen die Juden im Koran sind also vorwiegend religiöser Natur. Aber es werden auch Kriegshandlungen genannt, zu denen Juden angestiftet hätten (5:64). Die „Ungläubigen unter den Leuten der Schrift“ waren jedoch selbst untereinander uneins und haben deshalb den Kampf verloren. Gott hat sie aus ihren Festungstürmen heruntergeholt (33:26–27) und die Gläubigen haben ihre Häuser zerstört (59:2).
Was der Koran zu den Juden, bzw. zu den Leuten der Schrift zu sagen hat → Rubin schön zusammengefasst.
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2. Das Dokument von Medina1 (kitāb) war ein Bündnisvertrag zwischen Muhammad und den anderen Emigranten aus Mekka mit den Bewohnern Medinas, den „Helfern“, unter denen auch Juden waren. Einige Zitate aus → Wellhausens Übersetzung (1889):

  • Die Schutzgemeinschaft Gottes ist eine einzige und allgemeine; die Schutzgewähr verpflichtet alle. Die Gläubigen sind sich gegenseitig zu Schutz verpflichtet gegen die Menschen.
  • Die Juden, die uns folgen, bekommen Hilfe und Beistand; es geschieht ihnen kein Unrecht und ihre Feinde werden nicht unterstützt.
  • Die Juden der ‘Auf behalten zwar ihre Religion, bilden aber eine Gemeinde (umma) mit den Gläubigen.
  • Die Juden der Aus, ihre Beisassen und sie selber, haben die gleiche Stellung wie die Genossen dieser Schrift […].

Neben den ‘Auf und den Aus werden weitere Stämme erwähnt, jeder mit seinen eigenen Juden. Es scheint, dass diese in einer untergeordneten Position Teil des jeweiligen Stammes waren. Das Dokument muss sehr alt sein, es enthält etliche unverständliche Wörter und Termini. Wellhausens Übersetzung mag zu wünschen übrig lassen; zu befürchten ist aber, dass die anderen Übersetzungen auch nicht besser sind.
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3. Die Standarderzählung über Mohammeds Abrechnung mit den Juden aus Ibn Ishāqsira in der Bearbeitung von Ibn Hishām kennen Sie wahrscheinlich.2 Sie steht in jedem einführendes Buch zum Islam. Es gibt auch andere sira-Quellen, in denen sie vorkommt. Laut dieser Erzählung suchte Mohammed erst eine Annäherung an die jüdischen Stämmen in Medina, nämlich Quraiza, an-Nadīr und Qainuqā‘. Diese machten aber gemeinsame Sache mit seinen Feinden, verrieten ihn und wurden deshalb bestraft: Grund und Besitz wurden ihnen abgenommen, sie wurden vertrieben, zum Teil sogar ausgerottet, und in Arabien durften nie wieder Juden leben.
Diese Erzählung ist historiographisch jedoch fast nichts wert, denn sie ist vor allen Dingen eine ausführliche Exegese bestimmter Koransuren und will in einigen Punkten Präzedenzfälle für die Rechtsgelehrtheit bieten. Dies hat → Schöller in seinem Exegetisches Denken nachgewiesen. Das Buch erschien bereits 2008, wurde aber kaum wahrgenommen, womöglich weil es die – nicht nur von Muslimen – fast wie ein Dogma behandelte traditionelle Überlieferung widerlegt. Oder man fand es einfach zu schwierig: Das Buch ist nur für klassisch ausgebildete Arabisten genießbar.3
In der ganzen sira ist die Gesinnung oft ausgesprochen judenfeindlich. Merkwürdig ist aber, dass der Erzähler bei den Hinrichtungs- und Ausrottungsszenen manchmal den jüdischen Opfern gegenüber mitleidsvoll ist. Im alten Arabien war man nie so empfindsam bei der Ausrottung von Sippen, aber in diesem Fall durchaus. Warum ist noch unklar.
Die sira enthält auch ein großes Kapitel4 voller „Berichten“ von Streitgesprächen zwischen dem Propheten und einigen seiner Gefährten mit arglistigen jüdischen Rabbinern. Auch diese sind Koranauslegung, und zwar der Sura 2:1–100.
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Die drei in der Standarderzählung erwähnten selbständigen jüdischen Stämme kommen im „Dokument von Medina“ nicht vor; die dort genannten Juden wiederum nicht in der Standarderzählung. Der Koran nennt überhaupt keine Namen und redet weder von einem Bündnis noch von dessen Verletzung.
Wenn die Standarderzählung in der sira überwiegend Koranexegese ist, kann sie schwerlich als historische Quelle verwendet werden. Das »Dokument« wiederum muss von vor dem Bruch zwischen Muslimen und Juden datieren — aber wann ergab sich dieser Bruch? Als Muhammad noch lebte – oder erst hundert Jahre später? In einem gewissen Augenblick fingen die Muslime ja an, sich von den jüdischen Texten zu distanzieren, die sie anfangs schon bei ihrer Koranauslegung und in der sīra verwendet hatten, nämlich die Bibel und die jüdischen Prophetenlegenden. Diese sogenannten isrā’īlīyāt wurden ab dem 8. Jahrhundert von Muslimen immer unakzeptabeler gefunden. Es ist denkbar, dass die älteste Geschichte des Islams bei dieser „Entbibelung“ noch mal überholt worden ist und dass bei dieser Gelegenheit anti-jüdische Gefühle in die Vergangenheit zurückprojiziert wurden. Das macht es noch schwieriger zu erkennen, was zu Mohammeds Zeit wirklich geschah.
Es gab etliche moderne Autoren, die eine zusammenhängende Erzählung nachstreben, indem sie die drei heterogenen Hauptquellen mit einander in Einklang zu bringen versuchten. Meist sind sie von der Standarderzählung ausgegangen – deren fiktiver Charakter mittlerweile nachgewiesen ist – und haben ihre Interpretation der beiden anderen Quellen daran »angepasst«. Solche Harmonisierungsversuche können nicht befriedigen. Es ist ehrlicher zuzugeben, dass wir über die Geschehnisse wenig bis gar nichts wissen. Andere Autoren wissen oder spüren das; unter ihnen gibt es einige, die mit postmoderner Gleichgültigkeit erklären, dass es nicht wichtig ist, was damals wirklich geschah. Ihnen geht es ja um Analyse, Interpretation und Kontextualisierung der Erzählungen.

Was in Wirklichkeit geschehen oder vielmehr nicht geschehen ist, ist aber doch von Interesse. Dass zu Muhammads Umgang mit den Juden kein zuverlässige Auskunft existiert, hindert die Menschen nämlich nicht daran, das Thema zu instrumentalisieren. Moderne muslimische Judenhasser berufen sich auf die Standarderzählung, um die Juden noch mal so richtig hassen zu können. Moderne Muslimhasser berufen sich auf dieselbe Erzählung, um Mohammed als mordlustigen, von Hass erfüllten Antisemit zu schildern. Bis vor kurzem waren einige von ihnen vielleicht selbst noch Antisemiten; die islamische Standarderzählung, die sie für sich frisch entdeckt und glatt für wahr gehalten haben, macht es ihnen leichter auf Muslimhass umzusteigen, was einen Tick moderner erscheint. Und das, obwohl kein Mensch herausfinden kann, was damals wirklich geschah. Wenn man wenigstens das eingestehen würde, müsste man gleich viel weniger hassen und schimpfen.

6.9.2013 Auch veröffentlicht in zenith, Nov./Dez. 2013, S. 110–111.

ANMERKUNGEN
1. Auf Deutsch oft „die Gemeindeordnung von Medina“, auf Englisch „the constitution of Medina“ genannt. Ibn Isḥāq, arabische Text, 341–44; Deutsch in Wellhausen, 67–73, online hier; Englisch: Guillaume, 231–33, online hier; Watt 221-225, Lecker@. Humphreys bietet eine wertvolle Einführung zum „Dokument“; mit Bibliographie.
2. Ibn Isḥāq, arabische Text: 545–547, 652–661, 680–697; Deutsch: Rotter 160–162, 176–181, 204–207; Englisch: Guillaume 363–364, 437–445, 458–468 und viele andere Stellen.
3. Aber man könnte doch wenigstens sein „Zusammenfassung und Ergebnis“ zur Kenntnis nehmen, S. 463–468.
4. Ibn Isḥāq: Arabische Text: 361–400; Deutsch: Rotter116–123; Englisch: Guillaume 246–270.

BIBLIOGRAPHIE
– Ibn Isḥāq: Arabische Text: Das Leben Muhammed’s nach Muhammed Ibn Ishâk bearbeitet von Abd el-Malik Ibn Hischâm, Hrsg. F. Wüstenfeld, Göttingen 1858–60, Deutsche Übersetzung: Ibn Isḥāq, Das Leben des Propheten, Übers. Gernot Rotter, Kandern 1999.; Englische Übersetzung: A. Guilaume, The Life of Muhammad, A Translation of Isḥāq’s (sic!) Sīrat Rasūl Allāh, Oxford 1955.
– Moshe Gil, „The Constitution of Medina. A Reconsideration,“ Israel Oriental Studies 4 (1974), 44–65.
– R. Stephen Humphreys, Islamic History. A Framework for InquiryRevised Edition, London/New York 1991. Die S. 92–98 enthalten eine wertvolle Einführung in das „Dokument von Medina,“ mit Bibliographie.
– Michael Lecker, The ‘Constitution of Medina’. Muḥammad’s First Legal Document, Princeton, New Jersey 2004.
– Paul Lawrence Rose, Muhammad, „The Jews and the Constitution of Medina: Retrieving the historical Kernel,“ Der Islam 86 (2011), 1–29.
– Uri Rubin, „Jews and Judaism,“ Encyclopaedia of the Qurʾān. Hrsg. Jane Dammen McAuliffe, Leiden 2001–2006 (iii, 21–34).
– Günter Schaller, Die „Gemeindeordnung von Medina“. Darstellung eines politischen Instruments. Ein Beitrag zur gegenwärtigen Fundamentalismus-Diskussion im Islam, Augsburg, Univ.-Diss. 1983.
– Marco Schöller, Exegetisches Denken und Prophetenbiographie: eine quellenkritische Analyse der Sīra-Überlieferung zu Muḥammads Konflikt mit den Juden, Wiesbaden 2008.
– W. Montgomery Watt, Muhammad at Medina, Oxford 1956, insbes. S. 221-228.
– Julius Wellhausen, „Mohammeds Gemeindeordnung von Medina“ in Skizzen und Vorarbeiten iv, Berlin 1889, 65-83. Online hier verfügbar.

Diakritische Zeichen: Ibn Isḥāq, Ibn Hišām, Quraiẓa, an-Naḍīr, Qainuqāʿ

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Al-Hakim: ein Verrückter auf dem Thron?

🇳🇱 In jedem politischen System landet schon mal ein Verrückter auf dem Thron. Nebukadnezar, Nero, Caligula, Iwan, Adolf, Bokassa und etliche andere—wie man weiß, passiert es auch heute noch. Aus dem arabischen Kulturkreis kann ich Ihnen den Kalifen al-Hākim (geb. 985, reg. 996-1021) anbieten, der aus seiner Hauptstadt Kairo heraus über ein Reich herrschte, das sich von Tunis bis in den Norden des heutigen Syriens erstreckte. Er gehörte zur Dynastie der Fātimiden, die schiitisch war nach ismailitischem Bekenntnis (die „Siebener-Schiiten”). Für sie hatte ein Kalif—oder ein Imam, wie sie ihn lieber nannten—absolute Macht und war so etwas wie ein Demiurg oder Messias.
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Dass al-Hākim geisteskrank war, meinte bereits Yahyā al-Antākī, ein christlicher Arzt und Historiker, der in Ägypten lebte, bis er dem Land 1014 entfloh. Er attestierte dem Kalifen Gehirnkrämpfe und Melancholie. Wie machte sich al-Hākims Geistesstörung bemerkbar? Er folgte seinem Vater auf dem Thron als er elf Jahre alt war. Mit fünfzehn wollte er nicht länger von seinem Vormund, dem Eunuchen Bargawān, gegängelt werden; er ließ ihn während eines gemeinsamen Spaziergangs ermorden. Das war die erste Äußerung seiner blutrünstigen Neigungen. Ein schönes Kind soll er eigenhändig getötet und ausgeweidet haben, einen Diener persönlich mit einem Hackbeil umgebracht haben, aber meistens überlies er dass Töten seinen Sklaven.
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Al-Hākim versuchte sein Reich in Ordnung zu bringen indem er Korruption und Machtmissbrauch am Hof und in den Verwaltungsorganen bekämpfte. Was anfangs vielleicht als eine gutgemeinte Säuberungsaktion erschien, erwies sich bald als ein Terrorregime. Der Kalif mochte Schnellverfahren und das Strafmaß war oft die Todesstrafe; dabei wurden Minister und hohe Beamte nicht verschont. Er hatte ja die absolute Macht, und jemand umbringen zu lassen war kinderleicht, wie er früh gelernt hatte. Während seiner Regierung sind unzählige Menschen, gerne auch aus der Elite, standrechtlich verurteilt und hingerichtet worden. Beim „Volk“ war er aber beliebt, und er war sogar bekannt für seine Zugänglichkeit und Gerechtigkeit.
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Mehr als die Hälfte der Einwohner Ägyptens zu jener Zeit waren Christen; Juden gab es ebenfalls. Die meisten Muslime waren Sunniten, während der Herrscher Schiit war. Weil viele Verwaltungsfunktionen in christlichen Händen waren, fielen seinen „Säuberungen“ viele Christen zum Opfer. Der Kalif ließ auch Kirchen, Klöster und gelegentlich eine Synagoge zerstören. Er enteignete die Besitztümer seiner Mutter und Schwester und ließ seinen Onkel Arsenios im Jahr 1010 sogar meucheln; der war der griechisch-orthodoxee Patriarch von Alexandrien und Jerusalem. Seine Mutter war nämlich eine Christin, und zwar eine griechisch-orthodoxe: orientiert an Konstantinopel — dem Feind! Es fanden erzwungene Bekehrungen zum Islam statt — obwohl der Koran das verbietet. Christen und Juden sollte erniedrigende, sie von den Muslimen absetzende Kleidung tragen, und sogar lächerlich große Unterscheidungsmerkmale im Badehaus. Spektakulär war die Zerstörung der Grabeskirche in Jerusalem 1009, die in Europa noch Jahrzehnte nachhallte und mit zum ersten Kreuzzug führte. Einige Jahre später war alles wieder anders: Zerstörte Kirchen durften wiederaufgebaut werden, manche sogar auf Staatskosten. Zwangsbekehrte Christen und Juden durften, falls sie das wünschten, zu ihrer alten Religion zurückkehren.
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Ab 1003 regnete es Dekrete (sigillāt), die die Sittlichkeit in Ägypten verbessern sollten. Als junger Mann hatte der Kalif sich noch gerne an den Volksfesten in Fustāt (Alt-Kairo) beteiligt. Die Christen, die dort wohnten, tranken gerne Wein und oft kam es zu Ausschreitungen. Es hatte ihm gefallen zuzuschauen, wenn Männer auf der Straße aneinander gerieten, sogar wenn das in eine blutige Schlacht zwischen Gruppen ausartete. Aber eines Tages meinte al-Hākim, dass die Unordnung und die Gewalt aus dem Ruder liefen. Per Dekret verbot er den Ausschank von Wein und die Teilnahme von Frauen am Nachtleben; sie sollten abends lieber zu Hause bleiben. Laut einem späteren Dekret sollten sie das auch tagsüber, es sei denn mit einer Sondergenehmigung, wenn es wirklich nötig war. Spazierfahrten auf dem Nil wurden verboten; später durften auch Männer nicht mehr abends auf die Straße: das ganze Nachtleben kam zum Erliegen. Wein und alles, was damit zu tun hatte, wie Krüge usw. wurden öffentlich vernichtet, Kneipen wurden zugemacht, Reben entwurzelt; sogar die Honigproduktion wurde gedrosselt, damit die Leute nicht in Honigwein Zuflucht suchen konnten. Musik, Schach und Ausritte in die Wüste wurden verboten, wie auch Erker an der Straße und sogar mulūḫīya, ein Gemüse, das Mu‘awiya, der bei den Schiiten so verhasste Rivale ‘Alīs, gerne gegessen hatte.
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Aber auch sunnitische Muslime wurden nicht verschont. Man machte ihnen klar, dass sie immer einer Irrlehre angehangen hatten, und sie wurden aufgefordert sich zu bekehren. Es wurden Kurse zum schiitischen Glauben gegeben und bald waren die Hörsäle zu klein, so viele Sunniten wollten dorthin, um ihren Job oder ihr Leben zu behalten. Mit allerlei Dekreten über Speisen und Details des Kultus wurden sie weiter belästigt. Erst in al-Hakims letzten Regierungsjahren, als der Kalif eher zur Mystik neigte, wurde aber der sunnitische Glaube wieder anerkannt, und fast sah es nun so aus, als wäre die Schia gar nicht mehr so wichtig.
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Wenn ein Dekret des Kalifen nicht befolgt wurde oder unausführbar war, wie etwa das Alkoholverbot, zog er es zurück und versuchte es später noch mal durchzusetzen. Oft genug aber wurden Dekrete auch „einfach so“ zurückgezogen, weil der Kalif auf andere Gedanken gekommen war. Er war tatsächlich bekannt für seine Launenhaftigkeit. Manch Untertan entschloss sich, wenn eine neue Anordnung in der Luft lag, eine Zeitlang aufs Land zu ziehen, wenn möglich in Besitz eines Schutzbriefs (amān).
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In seinen letzten Jahren wurde al-Hākim Asket. Er fühlte sich den Mystikern verwandt, trug vor lauter Bescheidenheit ein schlichtes, selten gewaschenes Gewand und machte oft nächtliche Ausritte auf einem Esel. Beim Volk wurde er noch beliebter, weil er viele Staatseigentümer verschenkte. Der stark verkleinerte Hof fragte sich inzwischen, ob der Herrscher überhaupt noch zurechnungsfähig sei. Der ließ unterdessen einen Propagandisten in seinem Palast wohnen, der dort an einem Buch arbeitete, in dem er die Göttlichkeit des Kalifen nachwies. Dieser hinderte ihn nicht daran.
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Im Februar 1021 unternahm der Kalif eines Abends wieder einen einsamen Ausritt auf seinem Esel, auf einem Hügel etwas außerhalb von Kairo. Diesmal kam er nicht zurück. Nach einigen Tagen wurden seine blutige Kleidung und der Esel gefunden. Anzunehmen ist, dass er ermordet worden war. Ein verschwundener Imam: eine in schiitischen Augen vertraute und schöne Vorstellung.

Nuance
Bis hierher habe ich das traditionelle Bild wiedergegeben, wie es beispielsweise Marius Canard in einem Artikel, der 1971 in der Encyclopaedia of Islam erschien, dargestellt hatte. Aber war der Kalif wirklich ein Geisteskranker? Wie so oft standen Gelehrte auf, die das Bild nuancierten, die neue Fakten entdeckten und alte als fake news entlarvten. Ein wenig schade ist das schon, denn es gibt ein enormes Bedürfnis nach markanten Fakten und Horrorgeschichten; aber die Wissenschaft ist streng. Meist erweist sich bei solchen Forschungen, dass die verrückten gar nicht so verrückt waren, oder wenigstens nicht ganz. Der babylonische König 
Nebukadnezar (reg. 605–562 v. Chr.) war dem Propheten Daniel 4:29–34 zufolge sieben Jahre lang geisteskrank, aber der Autor stand ihm feindselig gegenüber. Und vielleicht hat er ihn verwechselt mit König Nabonidus (reg. 556–539 v. Chr.), der als gestört galt und einige Jahre im arabischen Taima verbrachte — zur Kur vielleicht? Moderne Altphilologen haben längst nachgewiesen, dass „verrückte“ Kaiser wie Nero und Caligula zwar grausam und gewalttätig waren, aber nebenbei ganz vernünftige Dinge taten.
Auch al-Hākim ist Gegenstand solcher kritischen, nuancierenden Studien geworden, u.a. von Josef van Ess und vor allem Heinz Halm. Inzwischen erkennt man, dass viele Erzählungen über al-Hakim von Christen stammen, die unter ihm gelitten hatten, oder von Sunniten, die ihn im Nachhinein kaputtschreiben wollten, weil er Schiit war.
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Manche Gräueltaten z.B. können einfach gestrichen werden, wenn man bedenkt, dass die Autoren Christen waren und ihre „Klassiker“ kannten: So soll Al-Hākim Alt-Kairo (Fustāt) in Brand gesteckt haben und noch zwei Tage genüsslich vom Berg Muqattam aus auf die Flammen geschaut haben. Aber das ist natürlich ein narratives  recycling des großen Brandes von Rom, den Kaiser Nero befohlen haben soll. Ein Großbrand in Fustāt ist zu der fraglichen Zeit weder in Texten belegt noch archäologisch nachgewiesen.
Auch wird erzählt, der Kalif wusch sich sieben Jahre lang nicht, wohnte in einem unterirdischen Gewölbe, ließ seine Haare wachsen bis sie lang waren wie Löwenmähnen, und seine Fingernägel, bis sie Adlerklauen glichen. Dies hört sich an wie die Verrücktheit Nebukadnezars, wie sie Daniel beschrieben hatte. In den Augen christlicher Historiker eine schöne Parallele: Nebukadnezar musste wie ein Verrückter herumirren, weil er den Tempel in Jerusalem zerstört hatte; al-Hakim, weil er dort die Grabeskirche hatte abreißen lassen.
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Die berühmten bizarren Dekrete entsprachen bei näherer Betrachtung in weiten Teilen dem islamischen Recht. Auch in anderen Umgebungen wurden schon mal Weinfässer kaputt geschlagen oder Juden und Christen mit diskriminierenden Maßnahmen belästigt; nur nie so eindringlich und nie alles auf einmal. Al-Hākims Dekrete waren auffällig, weil niemand je die Regeln so streng angewendet hatte. Dass sie ständig aufs Neue erlassen werden mussten, zeigt, dass die Bevölkerung so viel Rechtschaffenheit nicht gewöhnt war. Frauen auf der Straße und Alkohol waren einfach nicht zu unterbinden. Die Scharia wird in ihrer vollen Pracht nur von Fundamentalisten für ausführbar gehalten, und al-Hākim war einer. Das war er sich selbst und seinem Stand verpflichtet: War er nicht der Messias?
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Andererseits musste der Kalif die Bevölkerung zufrieden halten. Mit der Abschaffung von Steuern und Zöllen befolgte er islamische Regeln und erfreute zugleich das Volk. Leider konnte die Staatskasse nicht ohne diese Einnahmen auskommen, so dass sie auch wieder eingeführt werden mussten. Auch seine Dekrete schaffte al-Hākim manchmal wieder ab, wenn sie nicht durchführbar waren oder wenn das die Stimmung im Volk hob. Auch seine wechselhafte Haltung der sunnitischen Mehrheit gegenüber wird so verständlich: in schwierigen Zeiten konnte er keine unzufriedene Massen Sunniten gebrauchen. Was reine Willkür zu sein schien, war eine pragmatische Strategie des Machterhalts.
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Eine generelle Christenverfolgung gab es nicht: Einen Tag nach der Zerstörung einer Kirche konnte ein Christ zu Minister ernannt werden. Al-Hākim konnte nicht allzu streng sein mit den Christen: Er brauchte sie ja für die Staatsverwaltung. Gelegentliche Plünderung von Kirchen und Klöstern erfolgte, wenn die Staatskasse leer war. Aus dem gleichen Grund konfiszierte er auch die Erbschaften der hingerichteten Funktionäre und das Vermögen seiner Mutter.
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Sogar die Gewohnheit des Kalifen, ganz bescheiden auf einem Esel zu reiten steht in einer Tradition: So verhält sich nämlich ein Messias (siehe hier oder zenith 4/2014).
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Für al-Hākim wird das Regieren nicht immer leicht gewesen sein. Soldaten maghribinischer und türkischer Herkunft kämpften ständig um die Macht und mussten in Schach gehalten werden. Als geistiger Führer oder gar der Messias der Schiiten (den Drusen zufolge sogar Gott selber!) herrschte er über ein Reich, das hauptsächlich von Sunniten und Christen bewohnt war. Das hätte eigentlich gereicht zum Verrücktwerden; um so mehr, weil er durch seine griechisch-orthodoxe Mutter selbst eine gehörige christliche Komponente hatte.
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Kurzum: al-Hākim war verhaltensauffällig, aber nicht total behämmert. Allerdings ein sehr strenger und unberechenbarer Herrscher, der viel mehr Hinrichtungen auf dem Buckel hatte als zu der Zeit üblich war. Volksnah, aber gerade dem Hof und den höheren Beamten gegenüber sehr misstrauisch.

Alt Hist
Nun ist die Nuancierung bestehender Auffassungen eine Sache; es gibt aber auch propagandistische Geschichtsschreibung, die das Bild einer Person gänzlich revidieren kann. Stalin, zum Beispiel war, nachdem russische Historiker und Medien die Fakten neu gemischt hatten, ein Spitzenmanager, ein netter Kerl, unter dessen Regierung das Leben in der Sowjet-Union, wie er selber sagte, „besser, fröhlicher geworden ist“.
Zu al-Hākim findet man solche „Geschichtsschreibung“ unter anderem in der Encyclopaedia Iranica. Die ist ein meistens vorzügliches englischsprachiges Nachschlagewerk, das alle Themen zu Iran und zum schiitischen Islam behandelt.1 Den Artikel „Hākem be-Amr-Allah“ aber kann man nur parteiisch nennen. Nichts als Lob dort für diesen Kalifen, der sein Reich so schön zusammenhielt und sogar noch zu vergrößern wusste, der sich um die Sittlichkeit seiner Untertanen kümmerte und die Wissenschaft förderte. Kein Wort zu der Zerstörung von Kirchen, den Hinrichtungen, den Dekreten, der Vergöttlichung oder etwaigen Geistesstörungen. Der Mord an seinem Vormund Bargawan heißt dort zum Beispiel: „the latter’s removal“ (Hervorhebung von mir). Dass al-Hākim einen so schlechten Ruf hatte, liegt dem Autor zufolge nur an der feindseligen Haltung christlicher und sunnitischer Historiker.2 Der Autor ist Farhad Daftary, ein führender Ismailit, also von derselben Glaubensrichtung wie der Kalif.

Volksepik
Es gibt noch eine Textgattung, die sich mit al-Ḥākim beschäftigt hat: die Volksepik.3 Fantastische, vielbändige Heldengeschichten über historische Personen oder wenigstens unter Verwendung ihrer Namen waren in der ganzen islamischen Welt weit verbreitet. Das Klientel dürfte solche Erzählungen oft für Geschichte gehalten haben. Postum erschien auch eine Sīrat al-Hākim, „Lebensgeschichte al-Hākims“. Den fiktiven Lebenslauf des Kalifen aus diesen 1600 Seiten zusammenzufassen wäre verlorene Liebesmüh. Aber wo war der Kalif letztendlich geblieben? Für die seriösen Historiker war er wohl ermordet worden; den Drusen zufolge war er verschwunden. Die Volkserzähler „wussten“ aber, dass er nicht auf, sondern in dem Berg Muqattab (eine Verballhornung von Muqattam) verschwunden war. Er war ja mit 360 Schätzen vertraut gemacht worden; nur zwei Schätze blieben ihm verwehrt, in einer Höhle im Berg. Sein Rivale ‘Abd al-‘Azīz, der aus magischen Büchern viel Wissen gesammelt hatte, führte ihn in das Höhlensystem, das randvoll mit Gold und Juwelen war, und er wusste ihn dort unten zurückzulassen. Selbst eilte er nach Kairo, um die Macht zu ergreifen und für die Bluttaten des Kalifen Rache zu üben.
Der Kalif war also tief im Berg eingeschlossen, aber für seine Ernährung war gesorgt. Jahre später fand seine Tochter ihn dort, als er gerade verstorben war.

 

ANMERKUNGEN
1. Die EIr wird von Gelehrten außerhalb Irans herausgegeben. Von der Islamischen Republik Iran ist sie unabhängig. Siehe auch hier.
2. „Ḥākem also concerned himself with the moral standards of his subjects; many of his numerous edicts (sejellāt) preserved in later sources are of an ethico-social nature. He was also prepared to mete out severe punishment to high officials of the state who were found guilty of malpractice. Anṭāki and the Sunni historiographers have generally painted a highly distorted and fanciful image of this caliph-imam, portraying him as a person of unbalanced character with strange and erratic habits. However, modern scholarship is beginning to produce a different account on the basis of Ḥākem’s own edicts and the circumstances of his reign. As a result, Ḥākem is emerging as a tactful leader who was popular with his subjects.“
3. Auch Volksroman genannt, Arabisch: sīra sha’bīya; man spricht vielleicht besser von epischen Erzähltexten. Zur Gattung s. → Heath, Sīra.

BIBLIOGRAPHIE
– Marius Canard, „al-Ḥākim bi-Amr Allāh,“ EI2.
– Farhad Daftary, „Ḥākem be-Amr-Allāh,“ Encyclopaedia Iranica, XI/6, blz. 572-573, online hier (zuletzt gesehen am 12. Mai 2017).
– Josef Van Ess, Chiliastische Erwartungen und die Versuchung der Göttlichkeit. Der Kalif al-Hakim (386-411 H.), Abhandlungen der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse, Jg. 1977, Abh. 2.
– Heinz Halm, Die Kalifen von Kairo. Die Fatimiden in Ägypten (973–1074), München 2003, S. 167–304.
– Heinz Halm, „Der Treuhänder Gottes. Die Edikte des Kalifen al-Ḥākim,“ Der Islam 63 (1986), 11–72.
– Peter Heath, „Sīra sha‘biyya,“ EI2.
– Antje Lenora, Der gefälschte Kalif. Eine Einführung in die Sīrat al-Ḥākim bi-Amrillāh, Diss. Halle/Saale 2011. Hier herunterzuladen.
– Claudia Ott, „Wo versteckt sich al-Ḥākim? Eine Spurensuche in der Sīrat al-Ḥākim bi-Amrillāh und ihrer Berliner Handschrift.“ In H. Biesterfeldt and V. Klemm (Hrsg.), Differenz und Dynamik im Islam. Festschrift für Heinz Halm zum 70. Geburtstag, Würzburg 2012, 399–410.

Diakritische Zeichen: Al-Ḥākim, Fāṭimiden, Yaḥyā al-Anṭākī, Barǧawān, siǧillāt, Fusṭāṭ, Muqaṭṭam, Muqaṭṭab

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Mohammed: Eselreiter oder Kamelreiter?

Wie seine Zeitgenossen auch wird der Prophet Muhammad alle Reittiere benutzt haben, die zur Verfügung standen und für eine bestimmte Strecke geeignet waren: Esel, Maultier, Kamel oder Pferd.
Nachdem es in einem früheren Beitrag um das Maultier ging, kommen jetzt die Esel an die Reihe. Derselbe Herbert Eisenstein, der die Maultiere des Propheten beschrieben hat, hat auch diese behandelt.1
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Ya‘fūr
In derselben Geschenksendung aus Ägypten, in der zwei Sklavinnen und das Maultier Duldul waren, befand sich auch ein Esel namens Ufair. Zudem gab es den Esel Ya‘fūr, der Mohammed von Farwa ibn Amr geschenkt wurde, zusammen mit einem weiteren Maultier. Wie bei den Maultieren schwankt hier die Überlieferung und die Tiere werden oft verwechselt. Nach einer anderen Quelle etwa war Ya‘fūr unter der Kriegsbeute bei der Eroberung der Oase Khaibar im Jahr 628. Als der Prophet ihn bei der Gelegenheit nach seinem Namen fragte, antwortete der Esel:

  • Ich bin Yazīd ibn Shihāb. Gott brachte aus der Nachkommenschaft meines Ahnen sechzig Esel hervor, auf denen nur Propheten ritten. Ich habe gehofft, dass du mich reitest, da von der Nachkommenschaft meines Ahnen keiner außer mir übrig ist und von den Propheten keiner außer dir.

Mohammed und Gabriel

Mohammed und Gabriel

Er beklagte sich noch, dass sein Vorbesitzer, ein Jude, ihn oft schlug, weil er absichtlich stolperte, wenn er von ihm geritten wurde. Der Prophet gab dem Esel den neuen Namen Ya‘fūr und ritt ihn oft. Er konnte ihn auch einsetzen, wenn er einen seiner Gefährten herbeirufen wollte. Der Esel klopfte dann mit seinem Kopf an dessen Haustür, worauf der Bewohner nach draußen kam und verstand, dass der Prophet ihn bei sich sehen wollte. Das Tier soll 632 nach der Abschiedswallfahrt des Propheten gestorben sein. Nach einer schöneren Erzählung aber starb es am Todestag des Propheten, als es vor Kummer in einen Brunnen fiel — oder war es Selbstmord? Auf jeden Fall wurde sein Sterben so mit Bedeutung aufgeladen: So wie Mohammed der Letzte der Propheten war, war Ya‘fūr der letzte prophetische Esel.
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Der Esel als prophetisches und messianisches Reittier
Der Esel ist also mehr als bloß ein Reittier und wenn Mohammed in vielen Überlieferungen auf einem Esel reitet, hat das seinen Grund. Der Islamhistoriker Suliman Bashear hat zu diesem Thema einen detaillierten Artikel verfasst, aus dem ich hier das Wichtigste zusammenfassen werde.2
Schon seit Ewigkeiten galt der Esel als prophetisches Reittier. Auch für die im islamischen Sinne älteren „Propheten“ Abraham, Moses und Jesus war er ein normales Beförderungsmittel. Aber bei der Exegese heiliger Schriften können immer bedeutungsvolle Verbindungen entdeckt werden. Der Autor der jüdischen Schrift Pirqe de Rabbi Eliezer3 zum Beispiel glaubt, dass es durch die Jahrhunderte nur ein- und denselben Esel gegeben habe — das Tier muss nahezu unsterblich gewesen sein.4

  • Abraham stand früh am Morgen auf und nahm Ismael und Eliëser und Isaak, seinen Sohn, und gürtete den Esel. Dieser Esel war der Sohn der Eselin, die in der Abenddämmerung erschaffen wurde,5 wie es heißt: Da stand Abraham früh am Morgen auf und gürtete seinen Esel […].6 Das war auch der Esel, den Moses ritt als er nach Ägypten kam […].7 Und derselbe Esel wird in Zukunft von dem Sohn Davids geritten werden, wie es heißt: Juble laut, Tochter Zion! Jauchze, Tochter Jerusalem! Siehe, dein König kommt zu dir, ein Gerechter und ein Helfer, demütig und reitend auf einem Esel, auf einem Fohlen, dem Jungen einer Eselin. 8

Dieser Text aus Palästina datiert von nach 700; wie bekannt er in islamischen Kreisen war, ist unbekannt.
Der Esel ist also auch ein messianisches Tier: der Sohn Davids ist ja der erwartete Messias. Die Christen sind noch einen Schritt weitergegangen. Für sie war Jesus der Messias, der demzufolge bei seinem Einzug in Jerusalem auf einem Esel geritten sein musste: Jesus fand einen Esel und setzte sich darauf — wie geschrieben steht: Juble laut, Tochter Zion! … [usw. wie im Zitat oben ]“.9
Die frühen Muslime lasen fleißig die Bibel; viele dort vorgefundenen Verweise auf den kommenden Messias bzw. den Heiligen Geist bezogen sie auf Mohammed. Ihnen zufolge sollen Christen und Juden also aus ihren Schriften gewusst haben, dass es Mohammed geben würde, obwohl sie das nach ihrer Art meist leugneten. War die Bibel dann von Interesse für diese Muslime? Aber sicher! Sie oder ihre Väter waren ja Christ oder Jude gewesen und sie bildeten eine kleine Minderheit in einem Meer von Christen und Juden. Ein Hadith des Propheten empfiehlt ausdrücklich Texte von den Juden zu überliefern: Haddithū ‘an Banī Isrāʾīl. Überdies nahmen die Muslime in ihren Streitgesprächen mit Christen und Juden Bibeltexte zu Hilfe. Wenn die verwendeten Texte nicht  mit den wohlbekannten übereinstimmten, änderten sie sie — wobei sie ihrerseits natürlich meinten, dass die Juden oder Christen sie gefälscht oder unterschlagen hatten.

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Der Prophet als Eselreiter
Tatsächlich gibt es etwas wie einen Bibelvers, in dem Mohammed als Eselreiter angekündigt wird. Nur müssen Sie ihn nicht in der Bibel nachschlagen wollen: Er ist reine Erfindung, knüpft aber in seiner Gestaltung einigermaßen bei dem oben zitierten Vers zum Sohn Davids an. Bashear10 fand vier Varianten des vermeintlichen Verses, von denen ich nur die am leichtesten auffindbare auswähle:

  • […] Er wird erscheinen in Mekka und dies[e Stadt = Medina] wird die Wohnstätte seiner Hidschra sein. Er ist der Lachende, der Tödliche, der sich mit Brotstückchen und einigen Datteln zufrieden gibt, einen ungesattelten Esel reitet; in seinen Augen ist Röte, zwischen seinen Schultern ist das Siegel des Prophetentums und er trägt sein Schwert auf seiner Schulter […].11

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Der Prophet als Kamelreiter
Häufiger sind Texte, in denen die Erscheinung Mohammeds als Kamelreiter vorhergesagt wird. Ich zitiere wieder nur einen, damit es nicht zu lang wird. Ein jüdischer Gegner Mohammeds aus den Banū Nadīr erinnerte die Juden daran, dass sie einen Mann mit folgenden Eigenschaften zu erwarten hätten:

  • […] der Lachende, der Tödliche, in dessen Augen Röte ist, der aus dem Süden herankommt, der ein Kamel reitet und einen Mantel trägt, sich mit einem Brotstückchen zufrieden gibt und sein Schwert auf seiner Schulter hat […]12

Warum lässt man Mohammed erst auf einem Esel, dann auf einem Kamel reiten? Als Prophet stand er natürlich in einer Linie mit Jesus, aber vielleicht passte gerade der messianische Charakter Jesu manchen Muslimen nicht. Obwohl Jesus im Koran auch Messias (masīh) genannt wird, ist nach islamischem Glauben der masīh vor allem derjenige, der am Ende der Zeiten kommen wird um zusammen mit dem Mahdī den dadjdjāl, eine Art Antichrist, zu schlagen. Das wird nicht auf Mohammed bezogen: Er war ein normaler Mensch, wird nicht für den masīh gehalten — und sollte also keine entsprechenden Züge aufweisen.13
Oder aber die Verfasser dieser Texte haben nicht verstanden oder geschätzt, dass der Esel ein Symbol für Bescheidenheit war und ein nobles Kamel als eines Propheten würdiger erachtet.
Des Weiteren gab es bereits eine gottgelenkte Kamelstute (an-nāqa al-ma’mūra) in Mohammeds Leben: das Tier, auf dem er die Hidschra von Mekka nach Medina machte und das sich in Medina nicht auf die Stelle hinsetzen wollte, die man ihm anwies, sondern nur dort, wo es selbst sich dazu entschied — auf göttliches Geheiß, versteht sich.
Die vielen komplizierten Texte zum Thema sind schlecht zu datieren, aber sollten die Kamel-Überlieferungen tatsächlich späteren Datums sein, so könnte der Wechsel des Reittiers auch mit der „Entbibelung“ und Arabisierung des frühen Islams zu tun haben, von der hier und hier schon mal die Rede war: Ein biblisches wird durch ein echt arabisches Tier ersetzt.14

Mohammed und Jesus?

Mohammed und Jesus?

In manchen Texten ist sowohl von einem Eselreiter als auch von einem Kamelreiter die Rede. Nach al-Fārisī (gest. 902), dem Autor einer frühen Sammlung von Prophetenerzählungen, war es der biblische Prophet Jesaja, der für Vorhersagen wie die oben zitierten zuständig war:

  • Es wurde gesagt, dass es Jesaja war, der mit der Sache [der Verkündigung] Jesu und Mohammeds betraut wurde. Er sagte zu Aelia, das ist eine Stadt unweit von Bait al-Maqdis, genannt Jerusalem: „Freue dich, Jerusalem, der Eselreiter wird zu dir kommen (d.h. Jesus); danach wird der Kamelmann zu dir kommen (d.h. Mohammed).“ 15

Hier werden im selben angeblichen Jesajavers erst Jesus und dann Mohammed angekündigt, jeder auf einem passenden Reittier. In der Tat gibt es bei Jesaja einen echten Vers, in dem mit etwas Fantasie von einem Eselreiter und einem Kamelreiter die Rede ist: Und sieht er Reiter, Pferdegespanne, einen Zug Esel, einen Zug Kamele, so soll er aufmerksam Acht geben, mit großer Aufmerksamkeit!16 Jedoch das dort vorkommende Wort rèkèv, „Reiterschar” oder „Reiter“ im Plural, wurde hin und wieder auch als rokév „Reiter” im Singular gelesen; die hebräische Konsonantenschrift lässt das zu. Dann würden tatsächlich ein Eselreiter und ein Kamelreiter vorhergesagt.

Es gibt eine wilde Wucherung von noch viel mehr Texten, die Bashear alle ausarbeitet; diese wenigen mögen zur Orientierung in der Thematik dienen.
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Umar als Eselreiter
War der Esel als prophetisches Tier mit Ya‘fūr gestorben, als messianisches Tier hat er noch ein Nachleben gehabt. ʿUmar, der zweite Kalif (reg. 634–44), soll auf einem Esel von al-Djābiya auf den Golanhöhen nach Jerusalem geritten sein. Einmal abgesehen davon, dass er wahrscheinlich nie in Jerusalem war, ist diese Strecke so lang, dass ein Staatsoberhaupt unter Zeitdruck wohl kaum einen Esel benutzt hätte. Es gibt in der Tat Varianten, denen zufolge er erst am Jordan auf einen Esel umgestiegen sein soll. Ein Pferd zu nehmen um die Römer zu beeindrucken, wie manche ihm vorschlugen, soll er aus Bescheidenheit ausdrücklich abgelehnt haben. Die Verfasser solcher „Berichte“ werden mit Sicherheit den messianischen Charakter sowohl des Esels als auch des Einzugs in Jerusalem im Kopf gehabt haben. ‘Umar hatte ja den Beinamen Fārūq, auf Aramäisch parūqā, was „Erlöser“ bedeutet. ‘Umars Reittier wird in mehreren Texten ausführlich thematisiert und diskutiert.17 Bei at-Tabarī schließlich finden wir einen Kompromisstext, laut welchem er bei drei Besuchen in Syrien auf drei unterschiedlichen Reittieren geritten sei: Pferd, Kamel und Esel.18

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Burāq
Und dann gab es noch das Reittier Burāq, auf dem Mohammed eine Himmelfahrt (mi‘rādj) und eine nächtliche Reise nach Jerusalem (isrā’) vollzogen haben soll. Von diesem Tier gibt es Beschreibungen:

  • Dem Propheten wurde Burāq gebracht. Dies ist das Reittier, auf dem auch die Propheten vor ihm geritten waren und das seinen Huf bei jedem Schritt so weit setzt, wie sein Blick reicht. Er wurde auf das Reittier gehoben, und Gabriel begleitete ihn […].19

Der Prophet selbst soll gesagt haben:

  • […] und siehe da, da stand ein weißes Reittier, halb Maultier, halb Esel. An den Schenkeln hatte es zwei Flügel, mit denen es seine Hinterbeine vorantrieb, während es seine Vorderbeine dort aufsetzte, wohin sein Blick reichte […] Als ich mich dem Tier näherte um aufzusteigen, scheute es, doch Gabriel legte ihm die Hand auf die Mähne und sprach: „Schämst du dich nicht, Burāq, über das, was du tust? Bei Gott, kein edlerer hat dich vor ihm geritten.“ Da schämte es sich so sehr, dass es in Schweiß ausbrach, und hielt still, dass ich aufsteigen konnte.20

Al-Buraq4816-357Burāq gehört zur Gattung der fliegenden mythologischen Vierfüßler. Meist sind das fliegende Pferde (Pegasus; das mongolische Windpferd), aber in Indien gibt es auch die fliegende Kuh Kamadhenu. Und jetzt also dieses Zwischending zwischen Esel und Maultier. Von Burāq existieren viele Bilder, aber die sind spät entstanden. Oft hat er ein Menschengesicht bekommen; in Indien hat es wohl eine Beeinflussung durch die besagte Kuh gegeben.

Haben diese Reisen auf Burāq überhaupt wirklich stattgefunden oder nur im Traum oder in einer Vision? Die Diskussion darüber ist sehr alt; man findet sie schon in der Prophetenbiographie des Ibn Ishāq (gest. 767).21 Der immer vernünftige Korankommentator at-Tabarī (gest. 923) meint, dass die Reisen durchaus körperlich stattgefunden haben müssten: Um bloß eine Seele zu tragen wäre ja kein Reittier vonnöten gewesen.22

Auch veröffentlicht in zenith, 04/2014, S. 110–1 und online.

ANMERKUNGEN:
1. Eisenstein, Maulesel und Esel, 104–106.
2. Bashear, Riding Beasts on Divine Missions.
3. Pirqe de Rabbi Eliezer 31:

השכים אברהם בבקר ולקח את ישמעל ואת אליעזר ואת יצחק בנו וחבש את החמור. הוא החמור בן האתון שנבראת בין השמשות שנא׳ וישכם אברהם בבקר ויחבש את חמורו והוא החמור שרכב עליו משה בבואו למצרים שנאמר ויקח משה את אשתו ואת בניו וגו׳ הוא החמור שעתיד בן דוד לרכוב עליו שנאמר גילי מאד בת ציון הריעי בת ירושלים הנה מלכך יבא לך צדיק ונושע הוא עני ורוכב על חמור ועל עיר בן אתונות.

4. Im Koran 2:259 ist die Rede von einem Menschen (Propheten?), den Gott hundert Jahre lang tot sein ließ und danach wieder auferweckte — und seinen Esel ebenso. Ein sehr rätselhafter Vers, in dem ich mich jetzt nicht verlieren möchte.
5. Die Mutter dieses Esels, die in der Abenddämmerung des sechsten Schöpfungstags erschaffen worden ist, war auch die Eselin, auf der Bileam ritt (4. Mose 22:21–23).
6. 1. Mose 22:3.
7. 2. Mose 4:20.
8. Sacharia 9:9.
9. Johannes 12:13–15; auch Matthäus 21:1–6; Markus 11:1–10; Lukas 19:28–35; bei Matthäus und Johannes unter Bezugnahme auf den Sacharia-Vers.
10. Bashear, o.c., 47–51. Bashear verfügte in Jerusalem über eine unglaubliche Bibliothek, mit denen europäische Bibliotheken bei Weitem nicht mithalten können.
11. Al-Madjlisī, Bihār al-Anwār, laut Bashear Bd. xv, 206, aber er sagt nicht welche Ausgabe. In diesem Riesenwerk kann ich ohnehin nie etwas finden; ich bekenne: Ich habe es einfach aus dem Internet genommen. Es ist eine Schiitische Quelle; zu denjenigen, denen das nicht gefällt, kann ich sagen, dass es genauso gut sunnitische Quellen gibt.

ان خروجه يكون مخرجه بمكة وهذه دار هجرته وهو الضحوك القتال ، يجتزي بالكسيرات والتمرات ويركب الحمار العاري ، في عينيه حمرة وبين كتفيه خاتم النبوة ، يضع سيفه على عاتقه.

12. Al-Wāqidī, Kitāb al-magāzī, hg. Marsden Jones, 3 Bde., London 1966, i, 367:

أتاكم صاحبها الضحوك القتال في عينيه حمرة يأتي من قِبل اليمن يركب البعير ويلبس الشملة ويجترئ بالكسرة سيفه على عاتقه الخ

13. In der Wortkombination al-masih ad-dadjdjāl hat das Wort sogar einen sehr ungünstigen Klang: es entspricht dem Namen Antichrist bei den Christen.
14. Bashear, o.c., 39–47.
15. R.G. Khoury, Les légendes prophétiques dans l’Islam […] d’après le manuscrit d’Abū Rifāʿa ʿUmāra b. Wātīma b. Mūsā b. al-Furāt al-Fārisi al-Fasawī, Kitāb bad’ al-Halq wa-qisas al-anbiyā’ […], Wiesbaden 1978, S. 300. Ich habe zwei kleine Textänderungen vorgenommen.

وكان يقال ان أشعياء هو الذي عهد الي بني اسرائيل في أمر عيسى س ومحمد ص فقال لإيلياء وهي قرية قريبة من بيت المقدس واسمها أرشلم: ابشرى أرشلم سيأتيك راكب الحمار يعني عيسى س، ثم يأتيك من بعده صاحب الجمل، يعني محمد ص

16. Jesaja 21:7: וראה רכב צמד פרשים רכב חמור רכב גמל והקשיב קשב רב־קשב
17. Bashear, o.c., 68–71.
18. Muḥammad ibn Djarīr at-Tabarī, Ta’rīḫ ar-rusul wa-’l-mulūk (Annales), hg. M.J. de Goeje et al., Leiden 1879–1901, i, 2401: „Insgesamt ist Umar vier mal in Syrien eingeritten: das erste Mal auf einem Pferd, das zweite Mal auf einem Kamel, das dritte Mal hat er abgebrochen, weil die Pest wütete, und das vierte Mal auf einem Esel.“

فجميع ما خرج عمر الى الشأم أربع مرات، فأما الأولى فعلى فرس، وأما الثانية فعلى بعير، وأما الثالثة فقصّر عنها أن الطاعون مستعر، وأما الرابعة فدخلها على حمار.

19. Ibn Ishāq: Das Leben Muhammed’s nach Muhammed Ibn Ishâk bearbeitet von Abd el-Malik Ibn Hischâm, hrsg. F. Wüstenfeld, Göttingen 1858–60, 263; Das Leben des Propheten, Übers. Gernot Rotter, Kandern 1999, 80.
20. Ibn Ishāq, o.c. 264; o.c., 81–2. TEXT@
21. Ibn Ishāq, o.c. 264–6. TEXT@
22. At-Tabarī, Tafsīr zu Koran 17:1:

ولا دلالة تدلّ على أن مراد الله من قوله : { أَسْرَى بِعَبْدِهِ } أسرى بروح عبده، بل الأدلة الواضحة والأخبار المتتابعة عن رسول الله  ص أن الله أسرى به على دابّة يقال لها البراق؛ ولو كان الْإسراء بروحه لم تكن الروح محمولة على البراق، إذ كانت الدواب لا تحمل إلا الْأجسام .

BIBLIOGRAPHIE:
– Bashear, Suliman, „Riding Beasts on Divine Missions: An Examination of the Ass and Camel Traditions,“ JSS 37.1 (1991), 37–75.
– Eisenstein, Herbert, „Die Maulesel und Esel des Propheten,“ Der Islam 62 (1985), 98–107.
– Kister, Meir J., „Haddithū ʿan Banī Isrāʾīla wa-lā haraja. A Study of an early Tradition,“ in IOS 2 (1972), 215–39; online hier.
– Rubin, Uri, The eye of the beholder. The life of Muḥammad as viewed by the early Muslims. A textual analysis, Princeton 1995, insbes. S. 35–43.

Diakritische Zeichen: Yaʿfūr, ʿUfair, ʿAmr, Ḫaibar, Šihāb, Ḥaddiṯū ʿan Banī Isrāʾīl, Banū Naḍīr, masīḥ, daǧǧāl, ʿUmar, al-Ǧābiya, aṭ-Ṭabarī, miʿrāǧ, isrāʾ, Ibn Isḥāq, al-Maǧlisī, Biḥār al-Anwār, Kitāb al-maġāzī, Abū Rifāʿa ʿUmāra b. Wāṯīma b. Mūsā b. al-Furāṭ, Kitāb badʾ al-Ḫalq wa-qiṣas al-anbiyāʾ, Muḥammad ibn Ǧarīr aṭ-Ṭabarī, Taʾrīḫ

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Die heiße und die kalte Hölle

dsc_7917-thumb-1024xauto-67094Aus Bibel und Koran kennen wir die Hölle als einen extrem heißen Ort, ein ständig loderndes Feuer. Im arabischen Text Kitāb al-Azama (anonym; achthundert Jahre alt?) fand ich neben einer ausführlichen Beschreibung der uns bekannten Hölle auch ein Fragment zum Temperaturkontrast. Der Autor konnte hier, wie immer unter dem Deckmantel der Gottesfurcht, seine sadistische Seite mal wieder so richtig ausleben.

Mālik ist der Wärter der islamischen Hölle. In Koran 43:77 wird er kurz erwähnt, wenn die Gefolterten ihn fragen, ob der Herr ihnen nicht den Garaus machen kann. Nein, ist die Antwort, ihr bleibt hier! Darauf baut der nachfolgende Auszug aus dem Buch auf. Ein Hinweis vorab: Er ist die freie Fantasie eines uns unbekannten Autors und nicht Bestandteil des gängigen islamischen Gedankenguts.

  • (Übersetzter Text:) […] Da kommen die Schergen der Hölle (zabāniya; K. 96:18) hervor um die Tore wieder zu schließen. Die Bewohner der Hölle toben laut, weinen bitter und sagen: Mālik, warum hast du beschlossen die Tore wieder zu schließen? Er antwortet: Es ist notwendig, sie zu schließen und zu vernageln, denn in Gehenna gibt es nur Enge und Bestrafung; sie ist stockdunkel und voller Bestrafungen und Fesseln. 
Da toben sie laut und sagen: Mālik, zeige uns doch etwas, was die Folterung erleichtern kann. Er antwortet: Betet zu eurem Herrn, dass er die Fessel nicht noch fester anzieht. Das tun sie, aber jedes Mal, wenn sie beten, wird das siedende Wasser (hamīm) noch heißer für sie und die Schergen worden zornig und Feuerzungen schießen aus gegen sie, bis sie elend dran sind. Da flehen sie alle zusammen um Hilfe: Herr, foltere uns, wie Du willst, aber sei nicht zornig mit uns!
 Dann sagen sie: Mālik, gib uns etwas zu trinken, was unsere Eingeweide erquicken kann. Aber er sagt: Ihr Elenden, in Gehenna gibt es nur siedendes Wasser, flüssiges Kupfer und Ekelkost. Sie sagen: Dies halten wir nicht aus! Er sagt: Ob ihr es aushaltet oder nicht, macht keinen Unterschied; euch wird nur vergolten, was ihr getan habt. Sie toben alle durcheinander und rufen: Mālik, Mālik! – hundert Jahre lang. Darauf antwortet er: Was ist los, ihr Elenden? Dann sagen sie: Mālik, bring uns in die Kälte)!
 Die Schergen führen sie in die Kälte, die besteht aus Löchern, Tälern, Höhlen, Grotten, Särgen und Schluchten. Sie schleppen sie aus den Seen des Höllenfeuers und führen sie in die Kälte. Erfreut kommen sie an bei den Bergen aus dem Schnee und dem Eis der Kälte, bei den Löchern in der Kälte und den Hügeln der Kälte, die von Gottes Zorn sind. 
In der Kälte gibt es einen Wind, Sarsar mit Namen, der sie mitführt und sie über die Hügel zerstreut und ihr Fleisch ausbreitet, es abschneidet und es in die Kälte wirft. ‘Abdallāh ibn Salām sagte: Bei ihm, in dessen Hand meine Seele ist, die Schergen hören nicht auf ihr Fleisch abzuschneiden mit Messern von Gottes Zorn, während das Blut aus ihren Körpern strömt und sie nackt und barfuß in der Kälte sind. Die Folterung durch die beauftragten Schergen endet nie.
 Hundert Jahre lang rufen sie: Mālik, Mālik! Aber er sagt zu den Schergen: Gießt etwas Wasser aus der Kälte über ihre Köpfe! Sie tun, wie er es befohlen hat und es gefriert an ihren Körpern. 
Sie schreien und toben laut und rufen wieder hundert Jahre lang: Mālik, Mālik! Dann sagt Mālik: Wie geht es euch jetzt, Ihr Elende? Und sie sagen: Wir hatten gehofft, dass unsere Folterung durch die Kälte erleichtert worden wäre, aber sie ist noch schlimmer geworden, also bring uns wieder zurück ins Höllenfeuer! Dann sagt Mālik zu den Schergen: Bringt sie zurück ins Höllenfeuer! und das tun sie. Wenn sie in ihren Unterkünften im Höllenfeuer ankommen, spüren sie, dass es siebzigmal heißer ist als zuvor. 
Sie rufen hundert Jahre lang: Mālik! Dann fragt Mālik sie: Wie geht es euch jetzt, Elenden? Und sie antworten: Bring uns zurück in die Kälte.
  • ‘Abdallāh ibn Salām sagte: Sie werden abwechselnd hundert Jahre am einem Ort gefoltert und hundert Jahre am anderen.

Das Wort für „eisige Kälte“, zamharīr, kommt einmal im Koran vor (K. 76:13). Der Vers handelt allerdings nicht von der Hölle, sondern vom Paradies, dessen Bewohner sich bei moderatem Wetter entspannen und weder durch Sonne, noch durch Kälte belästigt werden — anders als das auf der Erde der Fall ist, sollte man dazu denken. Ich habe nur einen Hadith gefunden, in dem von Kälte in der Hölle die Rede ist:

  • Der Prophet sagte: „Die Hölle beklagte sich bei ihrem Herrn: ‘Herr, Teile von mir haben andere verzehrt.’ Dann bekam sie Erlaubnis, zweimal zu verschnaufen: einmal im Winter und einmal im Sommer. Das sind die extreme Hitze, die ihr im Sommer erleidet und die Eiseskälte (zamharīr), die ihr im Winter erleidet.“ 1

Darauf habe ich das Wort zamharīr in den Korankommentaren von Muqātil ibn Sulaimān, at-Tabarī, Ibn Kathīr und al-Qurtubī nachgeschlagen. Dort werden hauptsächlich Worterklärungen angeboten. At-Tabarī und al-Qurṭubī zitieren den obigen Hadith; überdies verweist al-Qurtubī auf eine Verszeile von al-A‘shā (± 570–625), die stark an den Wortlaut von Koran 76:13 erinnert.Kurzum, sowohl die Koranexegese wie auch der Hadith zum Thema sind äußerst dünn und können nicht die Inspirationsquelle der lebhaften Beschreibung in al-Azama gewesen sein. Der Autor muss also Zugang zu anderen Gedankenwelten gehabt haben. Ich habe einen jüdischen, einen christlichen und einen vorislamisch-persischen Text gefunden, wo es in der Hölle kalt ist. Die jüdische Legende zur Höllenfahrt Mosis redet sowohl von Kälte wie auch von Hitze:

  • Moses willigte ein und sah zu, wie die Sünder verbrannt wurden, die Hälfte ihrer Körper in Feuer eingetaucht, die andere Hälfte in Schnee, während Würmer, die in ihrem eigenen Körper ausgebrütet waren, über sie her krochen […]. 3

In der Hölle, wie sie in der christlichen Paulusapocalypse (Visio Sancti Pauli, nach 400) beschrieben wird, ist zumindest ein kalter Ort vorhanden:

  • Und wiederum erblickte ich dort Männer und Weiber mit zerschnittenen (oder: abgeschnittenen) Händen und Füßen und nackt an einen Ort von Eis und Schnee gestellt, wo Würmer sie verzehrten.4

In der Hölle des Ardā Wirāz Nāmag (Persisch, ca. 600) mangelt es eben so wenig an Kälte. Auch hier wird der Kontrast zwischen heiß und kalt als Foltermethode angewandt:

  • Dann sah ich die Seelen der Sünder, die ewig Strafen erlitten, wie Schnee, Graupel, Eiseskälte und die Hitze eines lodernden Feuers, Gestank und Steine und Asche, Hagel und Regen und viele andere Übel […].5 Auf die Seelen derjenigen, die in die Hölle gefallen waren, wurde von unten Rauch und Hitze geblasen und ein kalter Wind von oben.6

In einem Gebiet in der Hölle ist es nur kalt:

  • Ich sah die Seele eines Mannes, der einen Berg auf seinem Rücken trug, und er trug den Berg in Schnee und Kälte.7

Die Vorstellung einer kalten Hölle war in der Antike also ausreichend vorhanden um Azama zu inspirieren. Aber in keiner der drei obigen Quellen werden die Kälte und der Kontrast zwischen heiß und kalt so ausgearbeitet wie in Azama. So lange ich keine andere Quelle entdecke, betrachte ich das als einzigartig.8

Der arabische Text, meiner ʿAẓamaWebseite entnommen:

قال فتقدمُ الزبانية لترد الأبواب فيضجون أهل النار ضجّة عظيمة ويبكون بكاءً شديدًا ويقولون: يا مالك ما بال الأبواب قد عزمت على أن تردها؟ فيقول: لا بدّ من ردّها وتسميرها فليس في جهنم الاّ الضيق والنكال وهي سوداء مظلمة شديدة الأنكال والأهوال. قال فيضجون ضجة عظيمة ويقولون: يا مالك ما تدلنا على شيء يخفف عنا العذاب، فيقول: ادعوا ربّكم حتى لا يضيق عليكم القيود. قال فيدعوا فكلما دعوا يشتد عليهم الحميم وغضب الزبانية وتطاولت ألسنة النار حتى يكونوا في جهد جهيد،  فيستغيثون بأجمعهم: يا ربنا عذبنا بما شئت وكيف شئت ولا تغضب علينا. ثم يقولون: يا مالك اسقنا ماء تبرد به أكبادنا. فيقول: يا معاشر الأشقياء ليس في جهنم الاّ الحميم والمهل والغسلين. فيقولون: ليس نصبر على هذا فيقول أصبروا أو لا تصبروا سواء عليكم انما تجزون ما كنتم تعملون. قال فيصيحون باجمعهم وهم يقولون يا مالك مائة سنة فيجيبهم بعد مائة سنة: أي شيء بكم يا أيها الأشقياء فيقولون يا مالك أخرجنا الى الزمهرير، قال فتخرجهم الزبانية الى الزمهرير من الجباب والأودية والكهوف والمغاير والتوابيت والفجاج ويشيلوهم من بحار النار، ثم يسوقوهم الى الزمهرير فيحضرونهم وهم فرحين الى جبال من الثلج وأيضا زمهرير من الثلج وإلى جباب من الزمهرير وإلى آجام من الزمهرير وذلك كله من غضب الله تعالى. وفي ذلك الزمهرير ريح يقال له صرصر فتحملهم وتنسفهم في تلك الآجام فتنثر لحومهم وتقطعها وتطرحها في الزمهرير.  قال عبد الله بن سلام والذي نفس عبد الله بيده لا تزال الزبانية تقطع لحومهم بسكاكين من غضب الجبار والدم يسيل من أجسامهم وهم عراة حفاة في الزمهرير. والزبانية موكلين عليهم لا يفنى عذابهم أبدًا. ينادون: يا مالك مائة سنة. قال فيقول للزبانية صبوا فوق رؤوسهم من ماء الزمهرير فيفعلون ما امرهم به مالك فيجمد على أبدانهم فيصرخون ويضجون ضجة عظيمة،  ثم ينادون: يا مالك مائة سنة فيقول: ما حالكم يا أشقياء؟ فيقولون: إنما رجونا أن يخفف عنا العذاب بالزمهرير فلقد زاد عذابنا فردنا إلى النار.  فيقول مالك للزبانية: ردوهم الى النار فيردوهم فاذا وصلوا الى منازلهم في النار وجدوا النار قد زادت سبعين ضعفا عما كانت. فينادون: يا مالك مائة سنة فيقول لهم مالك: ما حالكم يا أشقياء؟ فيقولون: أخرجنا الى الزمهرير. قال عبد الله بن سلام رضي الله عنه يعذبون هاهنا مائة سنة وهاهنا مائة سنة.
وان الله لما فرغ من خلق النار جعلها على عظمها في متن الريح.

ANMERKUNGEN 1. Muslim, Masāǧid 185; Buḫārī, Mawāqīt 9 und einige andere Stellen.

وَحَدَّثَنِي عَمْرُو بْنُ سَوَّادٍ وَحَرْمَلَةُ بْنُ يَحْيَى وَاللَّفْظُ لِحَرْمَلَةَ أَخْبَرَنَا ابْنُ وَهْبٍ أَخْبَرَنِي يُونُسُ عَنْ ابْنِ شِهَابٍ قَالَ حَدَّثَنِي أَبُو سَلَمَةَ بْنُ عَبْدِ الرَّحْمَنِ أَنَّهُ سَمِعَ أَبَا هُرَيْرَةَ يَقُولُ قَالَ رَسُولُ اللَّهِ ص اشْتَكَتْ النَّارُ إِلَى رَبِّهَا فَقَالَتْ يَا رَبِّ أَكَلَ بَعْضِي بَعْضًا. فَأَذِنَ لَهَا بِنَفَسَيْنِ نَفَسٍ فِي الشِّتَاءِ وَنَفَسٍ فِي الصَّيْفِ. فَهْوَ أَشَدُّ مَا تَجِدُونَ مِنْ الْحَرِّ وَأَشَدُّ مَا تَجِدُونَ مِنْ الزَّمْهَرِيرِ.

2. .مُنَعَّمَةٌ طَفْلَةٌ كَالْمَهَاةِ لَمْ تَرَ شَمْسًا وَلَا زَمْهَرِيرَ, „an Komfort gewöhnt, zart wie eine wilde Kuh; sie hat weder Sonnenglut noch zamharīr erlebt.“
3. Louis Ginzberg, The Legends of the Jews, 6 Bde., Philadelphia 1955, ii, 313; weitere Hinweise v, 418.
4. Apokalype des Paulus 39, in: Neutestamentliche Apokryphen in deutscher Übersetzung. II. Apostolisches. Apokalypsen und Verwandtes, hrsg. W. Schneemelcher, Tübingen 19895, S. 664. Die ältere englische Übersetzung von M.R. James steht online.
5. Ardā Wirāz Nāmag: the Iranian ‚Divina commedia’, Ausg., Übers. und Kommt. Fereydun Vahman, London/Malmö 1986, 209. Eine ältere, weniger gute Übersetzung steht online.
6. ibid. 217. Andere Stellen ibid. 202, 210. 7. ibid. 206. 8. Klaus Gronau weist mich hin auf Thomas Mann, Doktor Faustus, wo Adrian Leverkühn ebenfalls eine Vision hat, in der Seelen von der Hitze in die Kälte und zurück getrieben werden.

Diakritische Zeichen: ḥamīm, ġislīn, Ṣarsar, ʿAẓama, at-Ṭabarī, Ibn Kaṯīr, al-Qurṭubī

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Enthaarungspaste

Wer hat die Enthaarungspaste erfunden? Das waren die Teufel und sie taten es auf Verlangen König Salomos. Dieser bekam nämlich Besuch der Königin von Saba, Bilqis, die behaarte Beine hatte, was er unattraktiv fand. Die Beine bekam er zu sehen, als sie über einen gläsernen Palastboden schritt und dabei ihr Kleid hochzog. So erzählt es wenigstens der arabische Autor ath-Tha‘labī (gest. 1035) in seinem Qisas al-anbiyā’ (Prophetenerzählungen)

  • Die Teufel hatten sich gegen Bilqis verschworen und Sulaimān (Salomo) von ihr erzählt: „Ihre Füße sind wie Eselspfoten und sie hat behaarte Beine, weil ihre Mutter eine Dschinnin war.“ Sulaimān wollte die Wahrheit wissen und ihre Füße und Beine sehen, und deshalb befahl er den Palast zu bauen.
    […]
    Als Bilqis kam, sagte man zu ihr: „Tritt in den Palast ein!“ Als sie [den Boden] sah, meinte sie, es sei eine Wasserfläche, also entblößte sie ihre Unterschenkel, um [das Wasser] zu durchwaten und auf Sulaimān zuzugehen. Dieser betrachtete sie und fand, dass sie prächtige Beine und Füße habe, nur dass ihre Beine behaart seien. Als Sulaimān das sah, wandte er sich ab und rief ihr zu, es sei nur ein Palast, der mit Glasplatten ausgelegt sei, und kein Wasser.
    […]
    Die Gelehrten sind sich nicht einig über das, was ihr widerfuhr, als sie sich Gott ergeben hatte. Die meisten sagten, Sulaimān habe sie danach heiraten wollen, aber habe gegen ihre dichte Beinbehaarung einen Widerwillen gespürt und gedacht: „Ist das hässlich!“ Darum habe er die Menschen nach einem Mittel gefragt, um sie zu entfernen, und sie sagten: „Ein Rasiermesser.“ Die Frau aber sagte: „Eisen hat mich noch nie berührt.“ Also habe Salomo darauf verzichtet, denn er habe gemeint, es schneide in ihr Bein. Dann habe er die Dschinn gefragt, die sagten: „Wir wissen es nicht.“ Darauf habe er die Teufel gefragt, aber diese hätten gelogen und auch gesagt: „Wir wissen es nicht.“ Als er aber stark darauf gedrungen habe, hätten sie gesagt: „Wir werden schon etwas finden, so dass ihre Beine blank wie Silber werden.“ Darauf hätten sie ihr eine Enthaarungspaste und ein Bad bereitet. (Ibn ʿAbbās sagt, das sei das erste Mal gewesen, dass eine Enthaarungspaste gesehen worden sei.) Dann heiratete Sulaimān sie.1

Wir haben es hier mit einem Stück Koranauslegung des Typs Midrasch zu tun (s. Tafsīr: Erweiterung). Bei den Christen ist diese Gattung nicht bekannt, aber bei den Juden schon. Als Grundlage wird ein Vers oder Fragment aus der Schrift genommen und drumherum wird eine Erzählung gebaut. Zu Grunde liegt in diesem Fall der folgende Koranvers:

      • Man sagte zu ihr: „Tritt in den Palast ein!“ Als sie [den Boden] sah, meinte sie, es sei eine Wasserfläche und entblößte ihre Unterschenkel. [Sulaimān] sagte: „Es ist ein Palast, der mit Glasplatten ausgelegt ist.“ Sie sagte: „Mein Herr! Ich habe gegen mich selber gesündigt. Ich ergebe mich nun zusammen mit Salomo Gott, dem Herrn der Menschen in aller Welt.“ 2

An diesem einen Koranvers hängt für die Muslime die ganze Erzählung über die behaarte Beine und das Mittel dagegen. In der obigen Übersetzung habe ich die Koranzitate kursiviert. Die Erzählung über Sulaimān und Bilqis ist viel länger, auch im Koran. Natürlich gehört sie zu den Legenden jüdischen Ursprungs (isrā’īlīyāt).3 Die islamischen Fassungen der Prophetenerzählungen gehen zurück auf die Erzähler aus dem ersten Jahrhundert des Islams, die den Auftrag hatten den Koran auszulegen und über den Propheten zu erzählen, aber auch über die früheren Propheten, wie Sulaimān einer war. Später wurden die Erzähler weniger geschätzt und es kamen die seriösen Schriftgelehrten, die ‘ulamā’, an die Reihe.

Ath-Tha‘labī schrieb einen seriösen Korankommentar, aber daneben noch sein berühmtes Buch Prophetenerzählungen, in dem er, wie er selber sagt, das Material habe loswerden können, das für den Kommentar nicht gut genug war. Die obige Erzählung fand er also schon zweitrangig. Trotzdem hat er — und haben die Muslime aller Jahrhunderte — die Prophetenerzählungen nicht wegwerfen wollen. In der Tat sind sie dazu viel zu unterhaltsam. Überdies ist zu bedenken, dass seriöse Korankommentare doch auch nicht selten auf Material von solchen Erzählern basieren, wenn es auch gesäubert, abgeflacht und in theologisch korrekte Form gebracht ist.

ANMERKUNGEN:
1. Der Text ist aus der Sulaimānerzählung in aṯ-Ṯaʿlabī, Qiṣaṣ al-anbiyāʾ. Ausgabe und Seitenzahl zu nennen hat wenig Sinn, weil es unzählige Ausgaben gibt, alle gleich unkritisch.
2. Koran 27:44: ‎قِيلَ لَهَا ادْخُلِي الصَّرْحَ فَلَمَّا رَأَتْهُ حَسِبَتْهُ لُجَّةً وَكَشَفَتْ عَنْ سَاقَيْهَا قَالَ إِنَّهُ صَرْحٌ مُمَرَّدٌ مِنْ قَوَارِيرَ قَالَتْ رَبِّ إِنِّي ظَلَمْتُ نَفْسِي وَأَسْلَمْتُ مَعَ سُلَيْمَانَ للهِ رَبِّ الْعَالَمِينَ
3. Bei Ginzberg, The Legends of the Jews. Klicken Sie hier; dann scrollen Sie weiter bis zu den Wörtern „Benaiah conducted the queen to Solomon,“ dann haben Sie es. Für die Quellennachweise brauchen Sie schon Ginzbergs gedrucktes Werk.

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Ausländischer Wolf

Ein Fragment aus einer Prophetenerzählung von at-Tha‘labī:

In Koran 12:17 sagen Josephs Brüder, nachdem sie ihn in der Wüste zurückgelassen haben, zu ihrem Vater Jakob: وتركنا يوسف عند متعنا فأكله الذئب , wir […] ließen Joseph bei unseren Sachen zurück. Da fraß ihn ein Wolf. Die Erzählung fantasiert darum herum:

  • [Jakob] sagte zu ihnen: „Wenn es wahr ist, was ihr sagt, daß der Wolf Joseph gefressen hat, wo ist dann der Wolf? Bringt ihn her!“ Da gingen sie hin, nahmen ihre Stricke und Stöcke, zogen in die Wüste, jagten einen Wolf, packten ihn und fesselten ihn. Dann brachten sie ihn zu Jakob und legten ihn vor ihn hin.
    [Dann … stellte Jakob den Wolf zu Rede … .] Da redete der Wolf und sagte: „Nein, bei der Wahrheit deiner grauen Haare, Prophet Gottes! Ich habe deinen Sohn nicht gefressen. Euer Fleisch und Blut, ihr Propheten, ist uns verboten. Ich bin, fürwahr, ein Wolf aus dem Land Ägypten.“ Da sagte Jakob zu ihm: „Und was hat dich in das Land Kanaan geführt?“ Er sagte: „Ich bin gekommen, um Wölfe, die mit mir verwandt sind, zu besuchen!“1

Der jüdische Ursprung (isrā’īlīyāt) des Motivs ist offenkundig, es basiert auf 1. Mose 37:33–35. Jedoch die Legende des sprechenden Wolfs bei Ginzberg2 ist seiner Meinung nach arabischen Ursprungs. Hier habe ich etwas grob sein archaisierendes Englisch übersetzt. Der Wolf hat in dieser Fassung eine schöne weinerliche Ausrede. 

  • … stand Jakob auf und sprach zu seinen Söhnen, mit Tränen in den Augen: „Los, nehmt eure Schwerter und Bogen, geht aus ins Feld und sucht; vielleicht findet ihr den Körper meines Sohnes und bringt ihn mir, so dass ich ihn begraben kann. Haltet auch Ausschau nach wilden Tieren und fangt das Erste, dem ihr begegnet, packt es und bringt es hierher! Vielleicht wird Gott mit mir in meinem Kummer Mitleid haben und wird das Tier, das mein Kind gerissen hat, in eure Gewalt bringen, so dass ich mich an ihm rächen kann.“
    Am nächsten Morgen zogen Jakobs Söhne aus, um die Bitte ihres Vaters zu erfüllen, während dieser zu Hause blieb und um Joseph trauerte. In der Wildnis fanden sie einen Wolf, den sie fingen und lebendig zu Jakob brachten, mit den Worten: „Hier ist das erste wilde Tier, dem wir begegnet sind; wir haben es mitgebracht, aber vom Körper deines Sohnes haben wir keine Spur gefunden.“ Jakob packte den Wolf und sprach mit vielem Aufhebens: „Warum hast du meinen Sohn Joseph gefressen, ohne jede Furcht vor dem Gott der Welt und ohne Rücksicht auf das Leid, das du mir antun würdest? Ohne Grund hast du meinen Sohn gefressen; er hatte sich nicht eines Vergehens schuldig gemacht, und die Verantwortung für seinen Tod hast du auf mich abgewälzt. Aber Gott rächt denjenigen, der verfolgt wird.“
    Um Jakob zu trösten, öffnete Gott den Mund des Tieres: „So wahr der Herr lebt, der mich erschaffen hat, und so wahr du lebst, mein Herr: Ich habe deinen Sohn weder gesehen noch gerissen. Ich bin aus einem Land weit von hier gekommen, um meinen eigenen Sohn zu suchen, der ein Schicksal erlitten hat wie der deinige. Er ist verschwunden und ich weiß nicht, ob er tot ist oder lebt, und deshalb bin ich vor zehn Tagen hierher gekommen um ihn zu suchen. Als ich heute auf der Suche war, begegneten mir deine Söhne, sie packten mich und brachten mich zu dir, wodurch sie meinen Schmerz über meinen verlorenen Sohn noch vergrößerten. Dies ist meine Geschichte – und jetzt, Menschenkind, bin ich in deinen Händen. Du kannst dich meiner entledigen, wie es dir gut dünkt, aber ich schwöre bei dem Gott, der mich erschaffen hat: Ich habe deinen Sohn nicht gesehen und ihn nicht gerissen; nie ist mir Menschenfleisch in den Mund gekommen.“ Verwundert über das, was der Wolf gesagt hatte, ließ Jakob ihn ungehindert seines Weges gehen, aber er trauerte wie zuvor über seinen Sohn Joseph.

 

ANMERKUNG:
1. At-Tha‘labī, Qiṣaṣ al-anbiyāʾ, Cairo 1347 (= 1929), S. 81.

فقال لهم يعقوب: إن كنتم صادقين أنّ الذئب أكله فأين الذئب؟ أتوني به! فعمدوا الى حبالهم وعصيهم فأخذوها ومضوا الى الصحراء فاصطادوا ذئبًا وشدّوه وأوثقوه كتافًا، ثم حملوه الى يعقوب وأوقفوه بين يديه. فقال: حلّوا عقاله فحلّوه. فقال له يعقوب: أقبلْ فأقبل الذئب يتخطّى القوم حتى وقف بين يدي يعقوب منكسًا رأسه. فقال له يعقوب: أيّها الذئب أكلت ولدي وقرّة عيني وحبيب قلبي وثمرة فؤادي، لقد أورثتني حزنًا طويلاً وألمًا عظيمًا. قال فتكلّم الذئب قال: لا وحقّ شيبتك يا نبي الله ما أكلت لك ولدًا وإن لحومكم ودماءكم معشر الأنبياء لمحرّمة علينا. وإني لمظلوم مكذوب عليّ، وإني لذئب غريب من بلاد مصر. فقال يعقوب: وما أدخلك أرض كنعان؟ قال: جئت لأجل قرابة لي من الذئاب أزورهم وأصلهم.
(الثعلبي، قصص الأنبيا المسمّى بالعرائس، القاهرة ١٣٤٧، ص ٨١)

Übersetzung Heribert Busse, Islamische Erzählungen von Propheten und Gottesmännern. Qisas al-anbiya‘ oder ‚Ara’is al-magalis, Wiesbaden 2006, S.153.
2. Louis Ginzberg, The Legends of the Jews, Philadelphia 1954–59, i, 28–9, online hier; v, 332 Anm. 66: Yashar Wa-Yesheb, 85a–85b. „This legend seems to be of Arabic origin, since in genuinely Jewish legends animals do not speak.“

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Dhimmi (Kurzdefinition)

Ein Dhimmī (ذمي) war in den frühen islamischen Staaten ein Anhänger der jüdischen oder christlichen oder anderen Religion, der den Schutz des Staates im Tausch gegen Zahlung einer Kopfsteuer genoss.
Auch im Neudeutschen kommt das Wort dhimmi gelegentlich vor. Die Autorin Bat Ye’or hat es im Rahmen ihres virulenten Anti-Islamdiskurses wiederbelebt, den fremdenfeindliche Kreise in Europa gerne übernommen haben. Sie hat auch das englische Wort dhimmitude erfunden: das DhimmiSein, oder sich wie ein solcher verhalten. Dies ist nach ihrer Meinung die Lieblingstätigkeit europäischer Regierender, die vorauseilend vor dem islamischen Kalifat kapitulieren, das demnächst auf europäischem Boden etabliert werden wird. Außer für die Verblendeten ist davon aber nichts ersichtlich; es gibt keine Wirklichkeit, die diesen Fantasien entspricht.
Im 19. und 20. Jahrhundert ist das Fremdenrecht der Scharia nirgendwo angewandt. Wie es zuvor war und wann genau das Dhimmi-Konzept außer Gebrauch kam, müsste ich nachschlagen.
Auch in der heutigen islamischen Welt gilt der Begriff als veraltet. Christen und Juden bezahlen nirgendwo Kopfsteuer, tragen keine unterscheidende Bekleidung und müssen zur Armee wie jeder andere auch. Schlimmstenfalls gibt es einige halbgare Salafisten, die den Terminus dhimmī wieder einführen möchten. Das ist nichts als Größenwahn; das würde ja einen starken Islamstaat voraussetzen, den es aber nirgendwo gibt.

Freilich werden in vielen islamischen Umgebungen Christen und Juden als minderwertig betrachtet, gepiesackt oder vergrault. Das ist nun mal das Schicksal von Minderheiten. Mit den Begriffen dhimma oder dhimmi hat das aber nichts zu tun.

NACHSCHRIFT 2017: Tatsächlich hat der sog. Islamische Staat den Begriff wieder eingeführt und von Nichtmuslimen Kopfsteuer erhoben! S. hier. Aber der Horror ist fast wieder vorbei.

Kurzdefinitionen: Anlässe der Offenbarung, Fatwa, Hadith, Isnad, Isra’iliyatKalif, Koranauslegung, Muslim, Naskh, ProphetenerzählungenSabab an-nuzulSchariaSiraSunnaTafsirTaqiya,

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Dreihundert und

Im Film 300 versuchen dreihundert Spartaner und noch einige andere Griechen in der Schlacht bei den Thermopylen (480 v. Chr.) einer großen persischen Übermacht Paroli zu bieten. Die Zahl 300 wird schon beim griechischen Autor Herodot (± 480–425 v. Chr.) erwähnt.1

Dieselbe Zahl kommt auch in der Bibel vor: in der Gideonerzählung, im Buch der Richter.2 Auch dort wird von einer kleinen Schar von erlesenen Kriegern erzählt, die sich gegen eine Übermacht von Midianitern, gewaltig „wie eine Menge Heuschrecken,“ aufgestellt habe. In der Nacht vor der Schlacht hat jemand im feindlichen Lager einen Albtraum, nämlich dass Gideon siegen und das ganze Lager ihm in die Hände fallen wird. Der Sieg des kleinen Trupps wird mit ausdrücklicher Hilfe Gottes errungen.
Richter datiert, so viel ich weiß, auf ± 1000 v. Chr. und ist also erheblich älter als die griechische Erzählung. Dass Herodot das Buch der Richter gekannt hätte, das auf Hebräisch geschrieben ist und zu seiner Zeit nur von Juden in Mesopotamien und Palästina gelesen wurde, ist unwahrscheinlich. Er muss von sich aus auf die Zahl 300 gekommen sein, oder die Erzählung ist in irgendeiner abgeleiteten Form in der alten Welt zirkuliert.

Mit Sicherheit abhängig von der Bibel oder einer jüdischen Bearbeitung der Gideonlegende waren jedoch die arabischen Erzähler, die über Mohammeds Schlacht bei Badr berichteten.3 Dreihundert und noch einige Anhänger des Propheten, als Muslime grundsätzlich Elitekämpfer, überfallen dort eine erheblich stärkere Karawane der noch heidnischen Quraisch. Im feindlichen Lager hat jemand in der Nacht vor der Schlacht einen Traum, in dem die Niederlage vorhergesagt wird; genau so wie in der Gideonerzählung. Auch hier gelingt es der kleinen Schar, mit Gottes Hilfe die größere Gruppe zu besiegen.
Die ± 300 Mann, die Übermacht des Feindes, der Traum und die Hilfe Gottes: So viele Übereinstimmungen können kein Zufall sein; darauf hat Von Mžik bereits vor einem Jahrhundert hingewiesen.4 Es ist abermals ein Beispiel des jüdisch-christlichen Einflusses auf die Biographie des Propheten Mohammeds.

Wie zahlreich sollten, erzähltechnisch betrachtet, die Gegner bei Badr sein? Es sollten nicht so unwahrscheinlich viele wie bei Gideon sein; die Erzählkunst hatte im Lauf der Jahrhunderte schon Fortschritte gemacht. Dass ein Muslim einem Heiden überlegen ist, ist selbstredend. Dass er auch zwei schafft, liegt nahe: durch die Kraft seines Glaubens nämlich.5 Aber zehn, zum Beispiel, wäre wirklich zu viel; dann würde die Erzählung in eine andere Gattung abdriften. Figuren wie Superman, Asterix und Obelix, Bud Spencer und Terence Hill werden mit unbeschränkten Zahlen von Gegnern fertig, aber sie sind deutlich in fantastischen Erzählungen zu Hause. Und die sind ziemlich fade, weil darin die Kämpfe nicht spannend oder real vorstellbar werden. Die Gegner bei Badr belaufen sich auf insgesamt 950; das bedeutet: ein Muslim auf etwas mehr als drei Heiden. Das ist grenzwertig und neigt schon einigermaßen zum Fantastischen, aber wird es doch nicht. Die Erzählung will uns ja klar machen, dass die Schlacht mit Gottes Hilfe gewonnen worden sei, und in den Augen sowohl des Erzählers als der ersten Hörer ist daran nichts Fiktives oder Fantastisches. Die Wahrscheinlichkeit ist so für sie gerade noch nicht beeinträchtigt.

ANMERKUNGEN
1. Herodot, Historiae vii, 205.
2. Richter 7:2–22.
3. Ibn Isḥāq, in: Das Leben Muhammed’s nach Muhammed Ibn Ishâk bearbeitet von Abd el-Malik Ibn Hischâm, […] hrsg. F. Wüstenfeld, 3 Bde., Göttingen 1858–60, S. 428–9, 506, 516 (Arabische Texte). In englischer Übersetzung: A. Guillaume, The Life of Muhammad, A Translation of Isḥāq’s (so!) Sīrat Rasūl Allāh, Oxford 1955, S. 290, 336, 340.
4. Hans von Mžik, ‘Die Gideon-Saul-Legende und die Überlieferung der Schlacht bei Badr. Ein Beitrag zur ältesten Geschichte des Islām,’ Wiener Zeitschift für die Kunde des Morgenlandes 29 (1915), S. 371–383.
5. Das bestätigt ein Hadith: Muslim, @@@, @@@

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Frühreife Propheten

Eine kurze Suche in der online Fassung von Ginzberg, Legends of The Jews, macht klar, dass viele alte „Propheten“ auf wundersame Weise frühreif waren. Das gehörte einfach dazu. Einige Beispiele (meine Übersetzung):

  • „So wurde Abraham ohne Amme in der Höhle zurückgelassen, und er begann zu weinen. Gott sandte Gabriel herunter um ihm Milch zu trinken zu geben, und der Engel ließ den Milch aus dem linken kleinen Finger des Säuglings strömen, und er sog daran bis er zehn Tage alt war. Dann stand er auf, er konnte gehen und verließ die Höhle …“ — und begann sofort mit der Bekämpfung des Polytheismus.
  • „Bis zu seinem siebzehnten Lebensjahr besuchte Joseph häufig das Bet ha-Midrash, und er wurde so gelehrt, dass er seinen Brüdern die Halakhot, die er von seinem Vater gehört hatte überliefern konnte.  So kann er als ihr Lehrer betrachtet werden.“
  • „[Moses‘] Verwandten und ganz Israel wussten, dass das Kind für Großes vorbestimmt war, denn er war kaum vier Monate alt, als er zu prophezeien begann, sagend: ,In kommenden Tagen werde ich die Thora von der brennenden Fackel empfangen.‘“ 

Und so weiter und so fort. Frühreife ist auch ein Merkmal Jesu. Nach Lukas 2:41-52 wurde Jesus als Zwölfjähriger in Jerusalem im Tempel angetroffen, „mitten unter den Lehrern, wie er ihnen zuhörte und sie fragte. Und alle, die ihm zuhörten, verwunderten sich über seinen Verstand und seine Antworten.“
Das apokryphe Kindheitsevangelium des „Thomas des Israeliten“ (Ende 2. Jahrhundert) schildert den jungen Jesus als ein frühreifes Kind, das gleich schon in der Lage war, Wunder zu tun. Bereits als Fünfjähriger hatte er mit anderen Kindern zwölf Sperlinge aus Lehm gemacht. Als ein Jude sich bei Joseph beschwert hatte, weil dies am Sabbat geschehen war, und Joseph ihn darauf ansprach, klatschte er in die Hände und schrie den Sperlingen zu: „Fort mit euch!“ Die Vögel öffneten ihre Flügel und flogen mit Geschrei davon. In Koran 3:4–9 steht eine Erzählung, die stark daran erinnert. Aber dort verrichtet Jesus das Wunder nicht als Kind.
Im Kindheitsevangelium ist Jesus als junges Kind ausgesprochen flegelhaft und aggressiv. Er wusste noch nicht, wie er seine Gabe menschenfreundlich anwenden könnte. Einen kleinen Jungen, der ihm bei einem Kinderspiel im Wege saß, ließ er verdorren wie einen Baum. Zu einem anderen Knaben, der ihn an seine Schulter stieß, sagte er: „Du sollst auf deinem Weg nicht weitergehen!“ worauf der Knabe hinfiel und starb. Mit acht Jahren war er schon menschlicher geworden. Als er einmal bei der Ernte mithalf, brachte er eine unglaubliche Menge Weizen ein, rief alle Armen des Dorfes und schenkte ihnen den Weizen. Dies sind nur einige Beispiele.1

Über den Propheten Mohammed ist erzählt worden, dass er bei seiner Amme

  • „… aufwuchs wie kein anderer Bursche und feste Nahrung essen konnte bevor er zwei Jahre alt war.“ 2

Oder noch deutlicher:

  • „Er wuchs an einem Tag so viel wie andere Kinder in einem Monat, und als er sechs Monate alt war, vertrug er schon feste Ernährung.“3

Als er noch von seiner Amme betreut wurde, soll er schon Lämmer gehütet haben:

  • „Der Prophet hat gesagt: ‘Ich hatte eine Amme beim Stamm Sa‘d ibn Bakr, und als ich einmal mit einem Brüderchen hinter unseren Zelten die Lämmer hütete …“ 4

Auch dort wurde er von zwei Engeln im Bauch untersucht bzw. gereinigt: das ist die Erzählung der *Bauchspaltung.5 Als Junge saß er gerne bei der Ka‘ba: eine Parallele zu Jesus, der sich als Junge im Tempel Jerusalems zu Hause fühlte. In beiden Fällen wollten Andere die Jungen dort wegholen.6

Mehr Frühislamisches gibt es in den Hadithen zu Ibn Sayyād, eine antichrist-ähnliche Gestalt (dadjdjāl), den Mohammed noch kennen gelernt haben soll. Er war kein Prophet, aber wird als jemand dargestellt, der gerne tat, als ob er einer wäre. In seiner Rolle als Pseudoprophet musste auch Ibn Sayyād frühreif sein. Als neugeborener Säugling schrie er wie ein Junge von einem Monat, oder sogar zwei Monaten. Er trat schon als Schamane (kāhin) auf, als er noch ein Kind war und bei seiner Mutter wohnte. In einer anderen Erzählung „spielte er mit den Knaben und war selbst auch einer,“ als Mohammed ihn besuchte, um dessen beunruhigenden Eigenschaften in Augenschein zu nehmen.7

Dies alles zeigt, dass das jüdische Motiv „frühreifer Prophet“ im frühen Islam bekannt und geläufig war. Kein Wunder auch: Das Araberreich der Umayyaden war noch ganz mit christlichen und jüdischen Literaturen durchtränkt.

Was steckt hinter diesem Erzählmotiv? Mohammed soll vierzig Jahre alt gewesen sein, als er berufen wurde; Jesus ungefähr dreißig. Die Frage ist dann immer: Was taten sie vor ihrer Berufung? Etwa ein banales Leben führen? Sündigen vielleicht? Die Erzähler versuchen, die Propheten so früh wie möglich ihrer hohen Berufung würdig zu machen.

ANMERKUNGEN
1. Wilhelm Schneemelcher, Neutestamentliche Apokryphen in deutscher Übersetzung, I. Band, Evangelien, 5. Aufl., Tübingen 1987, 353–57. Englische Übersetzungen hier.
2. Ibn Ishāq: Das Leben Muhammed’s nach Muhammed Ibn Ishâk bearbeitet von Abd el-Malik Ibn Hischâm, hrsg. F. Wüstenfeld, Göttingen 1858–60, 105. Normalerweise blieb ein Säugling zwei bis zwei und halb Jahre an der Mutterbrust.
3. Ibn al-Athīr, an-Nihāya fī gharīb al-hadīth wal-athar, 5 Bde., Beirut (Dār al-Fikr) o.J., i, 277.
4. Ibn Isḥāq, o.c. 106.
5. Ibn Isḥāq, o.c. 106.
6. Ibn Isḥāq, o.c. 107–108.
7. Wim Raven, „Ibn Ṣayyād as an Islamic ‘Antichrist’. A reappraisal of the texts,“ in: Endzeiten. Eschatologie in den monotheistischen Weltreligionen, hrsg. Wolfram Brandes und Felicitas Schmieder, Berlin/New York 2008, 266–67. Den Artikel können Sie hier downloaden.

Diakritische Zeichen: Ibn Ṣayyād, daǧǧāl, Ibn Isḥāq, Ibn al-Aṯīr, an-Nihāya fī ġarīb al-ḥadīṯ wal-aṯar

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Isra’iliyat (Kurzdefinition)

Isrā’īlīyāt (اسرائيليات) sind an erster Stelle die Erzählungen mit ergänzender „historischer“ Auskunft zu den biblischen Personen, die im Koran erwähnt oder thematisiert werden. Diese Produkte der „Erzähler“ sind oft auf jüdische Prophetenerzählungen und Legenden oder auf reine Phantasie zurückzuführen. Oft findet man sie in → Ginzberg, Legends. Ebenfalls zu den isrā’īlīyāt werden allerlei erbauliche und unterhaltsame Erzählungen gerechnet, die in einer legendarischen Vergangenheit, in der „Zeit des Volkes Israel“ (‘ahd banī isrā’īl) situiert sind. 

Wie die islamische Überlieferung es will, können die Araber die jüdischen Erzählstoff über bekehrte Juden wie ‘Abdallāh ibn Salām und Ka‘b al-Ahbār gekannt haben, aber nötig ist das nicht. Die eroberten Gebiete waren voller Christen und Juden; ihre Literaturen waren überall und der Zugang dazu muss sehr leicht gewesen sein. Der Erzähler Wahb ibn Munabbih (± 654–728) war mit diesem Material sehr vertraut und hat es in seinen Schriften verbreitet.

Waren die frühen islamischen Texte noch mit isrā’īlīyāt durchtränkt, nach dem achten Jahrhundert gab es ein deutliches Misstrauen gegen sie und eine Tendenz sie zu marginalisieren oder gar unsichtbar zu machen.  Es erfolgte eine Entbibelung des Islams.

Isrā’īlīyāt findet man vor allem in koranexegetischen Werken (tafsīr), in Geschichtsquellen und in den Prophetenerzählungen (qisas al-anbiyā’).

BIBLIOGRAPHIE
– G. Vajda, Art. ‘Isrāʾīliyyāt’ in EI2.
– Art. ‘Isra’iliyyat’ in Wikipedia.
– Louis Ginzberg, The Legends of the Jews, Philadelphia 1909–, oder online, aber dort fehlen die Anmerkungen.

Kurzdefinitionen: Anlässe der Offenbarung, DhimmiFatwa, Hadith, IsnadKalif, Koranauslegung, Muslim, Naskh, ProphetenerzählungenSabab an-nuzulSchariaSiraSunnaTafsirTaqiya,

Diakritische Zeichen: isrāʾīlīyāt, ʿAbdallāh ibn Salām, Kaʿb al-Ahbār, qiṣaṣ al-anbiyāʾ

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