Die Franzosen und die Pest in Ägypten (1798)

1798 besetzten die Franzosen Ägypten, wo sie drei Jahre lang blieben. Ein lokaler Historiker, ‘Abd al-Raḥmān al-Djabartī (1753-1825), führte während der ersten Monate der Besatzung ein Tagebuch. Darin ist unter anderem über die Pest zu lesen. Die Franzosen hatten eine panische Angst vor der Pest, die sich ihrer Meinung nach durch Miasmen ausbreitete: verfaulte, feuchte Luft und die Ausdünstungen von Kranken und Leichen. Sie ergriffen drastische Maßnahmen, von denen eine die Quarantäne war. Die verfaulte Luft versuchten sie durch das Verbrennen von Kräutern und Weihrauch zu verbessern. Pestärzte trugen eine lange spitze Nase, an deren Ende Duftstoffe angebracht waren und liefen manchmal mit einer Art Räuchergefäß herum.
Die Mitteilung von Al-Djabartī darüber, wie die Franzosen mit ihren Toten umgingen, ist fake news. Die Franzosen waren Besatzer und wurden von den Ägyptern gehasst.
Drei nicht zusammenhängende Fragmente aus dem Tagebuch:

„Später wurde klar, dass dieser Bishli mehr als vierzig Tage zuvor mit der Korrespondenz des Wesirs an ‘Ali Bey […] angekommen war, aber die Franzosen hatten ihn mit den Passagieren auf dem Schiff in Alexandria isoliert, aus Angst, die Pest hätte sie infiziert. Nach vierzig Tagen ließen sie sie von Bord gehen und gaben ihnen die Erlaubnis zu reisen, nachdem sie stark unter der Haft und der Enge gelitten hatten, wie auch unter dem Rauch, mit denen sie im Laderaum, d.h. in dem Bauch des Schiffes, desinfiziert wurden. Dazu kamen noch die Verteuerung und so weiter.“
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„An diesem Tag sagten sie den Menschen, dass sie ihre Toten nicht mehr auf Friedhöfen in der Nähe von Wohnhäusern begraben sollten, wie zum Beispiel auf den Friedhöfen von al-Azbakīya und al-Ruway’ī, sondern nur auf weit entfernten Friedhöfen. Diejenigen, die kein Grab auf dem Friedhof hatten, sollten ihre Toten in den Gräbern der Mamluken bestatten. Und wenn sie jemanden beerdigten, sollten sie die Tiefe der Gräber vergrößern. Außerdem befahlen sie den Menschen, ihre Kleidung, Möbel und Bettwäsche mehrere Tage auf den Dächern aufzuhängen und ihre Häuser auszuräuchern, um den Fäulnisgeruch zu beseitigen. All dies, wie sie behaupteten, aus Angst vor dem Geruch und der Ansteckung durch die Pest. [Die Franzosen] glauben, die Fäulnis sei in den Tiefen der Erde gefangen.. Wenn der Winter einsetzt und die Tiefen der Erde durch die Nilflut, den Regen und die Feuchtigkeit kalt werden, kommt das, was in der Erde eingeschlossen ist, mit seinen Verwesungsdämpfen heraus und lässt die Luft verrotten, wodurch eine Epidemie und die Pest entstehen.
Was [die Franzosen] selbst betrifft, so ist es bei ihnen Brauch, ihre Toten nicht zu begraben, sondern sie wie Hunde- und Tierkadaver auf Müllhaufen oder ins Meer zu werfen. Überdies sagten sie, dass sie informiert werden sollten, wenn jemand krank wurde. Dann würden sie eine bevollmächtigte Person schicken, um ihn zu untersuchen und herauszufinden, ob er die Pest hat oder nicht.”
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„An diesem Tag wurde in den Marktstraßen bekannt gegeben, dass Kleidung und Hausrat zwei Wochen lang in der Sonne aufgehängt werden sollten, und man wies die Scheichs der verschiedenen Viertel, Wohnstraßen und …(qlqāt?) an, diese Aktivität zu kontrollieren und zu inspizieren. Die Behörden ernannten für jede Straße eine Frau und zwei Männer, die die Häuser betreten und inspizieren sollten. Die Frau ging nach oben und informierte die beiden Männern beim Hinuntergehen, dass man die Kleider in der Sonne ausgebreitet hatte. [Die Familie] gab ihnen dann einige Münzen. Sie gingen erst, nachdem sie die Bewohner ernsthaft gewarnt und ihnen mitgeteilt hatten, dass in einigen Tagen auch eine Gruppe von Franzosen kommen würde, um die Häuser zu inspizieren. All dies wurde getan, um den Geruch der Pest aus ihren Kleidern zu vertreiben. Zu diesem Zweck schrieben sie Proklamationen aus, die sie wie üblich an die Wände anklebten.“

ثم تبين ان هذا البشلي حضر من مدة نيف واربعين يوما وبيده مكاتبات من الوزير خطابا لعلي بيك قابجي باشا الذي كان معينا بطلب المال والخزينة وحجزوه الفرنج في المركب في سكندرية مع الركاب خوفا من تعلق الطاعون بهم. فلما مضي عليهم اربعون يوما اخرجوهم واذنوهم في السفر بعد ان قاسوا الشدة من الحبس والضيق وثم الدخان الذي يبخروهم به من داخل العنبر وهو بطن المركب وزيادة على ذلك الغلا وغيره.

وفيه نبّهوا على الناس بالمنع من دفن الموتى بالترب القريبه من المساكن كتربة الازبكية والرويعي ولا يدفنون الا بالقرافات البعيدة والذي ليس له تربه بالقرافه يدفن ميته في ترب المماليك وإذا دفنوا [يبالغوا] في تسفيل الحفر، وامروا ايضا بنشر الثياب والامتعة والفرش بالاسطحه عدة ايام وتبخير البيوت بالبخورات المذهبة للعفونه كل ذلك خوفا من رائحة الطاعون بزعمهم وعدوه ويقولون ان العفونة تستجن باغوار الارض فاذا دخل الشتا وبردت الاغوار بسريان النيل والامطار والرطوبات خرج ما كان مستجنا بالارض بالابخره الفاسده فيتعفن الهوا ويفسد ويحدث الوبا والطاعون، واما طريقتهم فانهم لا يدفنون موتاهم بل يرمونهم علي الكيمان مثل رمم الكلاب والبهايم او يلقونهم في البحر ومما قالوا ايضا: انه اذا مرض مريض يخبروهم عنه فيرسلون من جهتهم امينا للكشف عليه ان كان بالطاعون او لا ثم يرون رايهم فيه بعد ذلك.

وفي ذلك اليوم نودي في الاسواق بنشر الثياب والامتعة خمسة عشر يوما وقيدوا على مشايخ الاخطاط والحارات والقلقات بالفحص والتفتيش فعينوا لكل حارة امرأة ورجلين يدخلون البيوت للكشف عن ذلك فتطلع المرأة الى فوق وتنزل فتخبرهم بانهم ناشرين ثيابهم ويعطوهم بعض الدراهم ويذهبوا بعد ان يقرطوا على اصحاب الدار ويخبروهم ان بعد ايام ياتون جماعة الفرنج ويكشفوا ايضا، وكل ذلك حتى تذهب من الثياب رائحة الطاعون، وكتبوا يذلك مناشير ولصقوها بحيطان الاسواق على عادتهم في ذلك.

Quelle: Al-Jabartī’s Chronicle of the First Seven Months of the French Occupation of Egypt. Muḥarram – Rajab 1213|15 June – December 1798, (تاريخ مدة الفرنسيس بمصر), Hrsg. und Übers. S. Moreh, Leiden 1975, 75–6, 82, 91  ٤٩، ٥٥-٥٦ ٦٤-٦٥.

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Waguih Ghali, Snooker in Kairo

🇳🇱 Waguih Ghali, Snooker in Kairo. Mit einer Einführung von Diana Athill. Aus dem Englischen von Maria Hummitzsch. Beck, 2018.

Beim Schwimmen im Gezira Sporting Club in Kairo muss ich meine Kleider an einem Haken im Umkleideraum aufhängen und schaue manchmal neidisch auf die schönen verschließbaren Schubladen aus dunklem Holz. Keine Chance: die sind für Familien reserviert, die seit Generationen Mitglied sind. Es ist eine Gunst, dass ich in dem vornehmen Club überhaupt schwimmen darf, wo noch immer die feine Gesellschaft von Ägypten quatscht und tratscht, isst, trinkt und hin und wieder etwas Körperbewegung unternimmt.
Für Waguih Ghali (1927–1968) war es selbstverständlich, dass er über so eine Schublade verfügte. Zwar besaß er persönlich keinen Piaster, aber er gehörte zu einer steinreichen koptischen Sippe, der er gekonnt auf der Tasche lag. In seinem auf Englisch geschriebenen Roman Snooker in Kairo (1964) rechnet er damit weiter ab, indem er ein gleichermaßen humoristisches wie vernichtendes Porträt vom Club und von dessen Mitgliedern schreibt — wobei er sich selbst nicht schont.
Dazu bedient er sich einer intelligenten und einfühlsamen Erzählerfigur, der des Studenten Ram, der deutlich sein Alter Ego ist. Dass es mit der Oberschicht in Ägypten nach Nassers Revolution bergab geht, bejubelt Ram fast öffentlich. Aber 1957 sind die höheren Stände noch lange nicht kaputt. Ihr Grund und Boden ist zwar enteignet worden und sie müssen auf einen Teil ihres Hauspersonals verzichten, aber Cadillacs und italienische Roben kaufen sie noch immer und sogar in den Konzentrationslagern genießen sie eine Sonderbehandlung. Ram meint, dass Nasser nicht weit genug gegangen ist, nicht nur aus Groll seiner Verwandtschaft gegenüber, sondern auch aus aufrichtiger Enttäuschung, weil aus seinem naiven sozialistischen Ideal nichts wird. Andererseits ist er durch den Terror des neuen Regimes geschockt.
Sowohl seinen Sozialismus wie auch seine Besorgnis um die Menschenrechte verdankt Ram seiner englischer Schulung. Die Kreise, aus denen er stammt, sind ja gründlich verwestlicht. Zu Hause spricht man kein Arabisch, sondern Französisch, die Herren dazu noch Englisch: sie sind „Fremde im eigenen Land“. Ehrgeizige junge Männer, die den Anschluss an die Revolution nicht verpassen möchten, nehmen schnell Arabischunterricht bei einem jüdischen Freund, der die Sprache beherrscht. Aber den angry young man Ram und seinen besten Freund Font kotzt die neue Ordnung an. Sie fahren lieber mit einer kommunistischen jüdischen Millionärstochter (und auf deren Kosten) nach England, wo sie jahrelang hängen bleiben und in totale Verwirrung geraten.
In diesem Buch kommt nicht nur die erste arabische Revolution zur Sprache, es ist auch ein Migrationsroman. Er spielt sich fast zur Hälfte in England ab und spiegelt Rams Ambivalenz gegenüber der westlichen Kultur, aber auch die Verachtung der Engländer ihm gegenüber wider. Die anti-kolonialen Demonstrationen, an denen er sich in Ägypten begeistert beteiligt hatte, sind im Nachhinein bedeutungslos: alle noblen Standpunkte, die er sich zugelegt hatte, erweisen sich als englisches Fabrikat. Aber wie britisch er sich auch fühlt und wie gut er England auch kennen lernt, das Land ist doch nicht nobel genug um ihm ein Zuhause zu bieten: Er wird rassistisch beschimpft und bekommt sein Visum nicht verlängert.
Zurück in Ägypten kann er sich nicht mehr an das dortige Leben gewöhnen. Er spielt und er säuft, ist heimlich politisch aktiv und fühlt sich noch am meisten im Billardklub zu Hause, wo Font inzwischen hinter der Bar steht. Das Bier, das sie dort trinken, ist symbolisch: die englische Marke Bass, die sie gewöhnt waren, ist nach der Revolution nicht länger erhältlich. Deshalb brauen sie sich ihr eigenes Gesöff: ägyptisches Bier vermischt mit Wodka und Whisky.
Obwohl Snooker in Kairo einen melancholischen Grundton hat und ernste Problematik nicht scheut, ist es auch ein fröhlicher Schelmenroman. Ein Höhepunkt ist das Finale, wenn Ram, mitten in dem Haute-Couture-Laden, der für Damen eine Art Gegenstück des Sporting Club bildet, einem verhassten Neffen dessen Verlobte ausspannt: eine nicht-jüdische, nicht-kommunistische Millionärstochter. Im damaligen Ägypten eine sehr praktische Wahl. Ram ist jetzt endgültig für den Club gerettet und geht sofort eine gehörige Runde zocken, mit einem Pascha. Ob das ein happy end ist oder nicht, darf der Leser selbst entscheiden. Wie auch immer, das Buch endet mit schallendem Gelächter.
Dem Autor ist es schlimmer ergangen als seinem Alter Ego. Seine letzten Jahre hat er in Europa, zum Teil auch in Deutschland verbracht, als Arbeiter in Fabriken oder parasitierend, gequält von Armut, Alkoholismus, Spielsucht und immer schlimmer werdenden Depressionen. Schließlich hat er sich umgebracht, in der Wohnung seiner mütterlichen Freundin Diana Athill, die ihm später eine schöne Biografie gewidmet hat (After a funeral, 1986). Die Fragmente, die sie aus seinen Tagebüchern zitiert, wecken Verlangen nach mehr Texten von ihm, aber die gibt es nicht. Ghali wurde immer wütend, wenn man ihn einen Schriftsteller nannte, aber er war durchaus einer.

(Verfasst 1991)

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Mahmud Taymur, Der Lohn. Übersetzte Kurzgeschichte

Mahmūd Taymūr, Der Lohn. Übersetzung Leslie Tramontini

Im Folgenden eine Kurzgeschichte aus dem Jahr 1925 von Maḥmūd Taymūr (1894–1973), jahrelang unangefochtener Meister der ägyptischen Kurzgeschichte. Als einer der Mitbegründer der modernen arabischen Literatur begann er in den 1920er Jahren, von Tschechow und Maupassant beeinflusst, in realistischem Stil zu schreiben. Später verfasste er auch Romane und Theaterstücke. Oft schrieb er über das einfache Volk und konnte mit psychologisch scharfer Beobachtungsgabe seinen Figuren hervorragende Tiefenschärfe geben. Taymūr vertrat den Anspruch, kritisch gesellschaftliche (Miss-)verhältnisse darzustellen, so unschön sie auch sein mögen. Dies brachte ihm oft genug Kritik ein, auch bei der hier übersetzten Geschichte, die von Menschen an den Rändern der Gesellschaft handelt und wie sie versuchen, ihr Leben in den Griff zu kriegen. Ohne Nostalgie oder falsche Anteilnahme beschreibt Taymūr ganz nüchtern und realistisch seine Figuren.

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Mahmūd Taymūr, Der Lohn

Zu den verwerflichen und schmerzlichen Wahrheiten des Lebens gehören auch die, die unter dem Schleier der Verborgenheit stattfinden. Der Erzähler, dessen Devise es stets ist, die Realität so zu beschreiben, wie sie ist, sieht es als seine Pflicht an, diese Verwerflichkeit bloßzustellen, wie hart auch immer sie sein mag.     Der Verfasser

Umm Labiba betrat das Gemach ihrer Herrin, Frau Iqbal, um ihr mitzuteilen, dass der Kutscher da ist und seinen Lohn verlangt. Frau Iqbal zog die Augenbrauen hoch und befahl ihr, ihm auszurichten, er möge am Nachmittag wiederkommen. Wie befohlen ging Umm Labiba hinaus in der Hoffnung, den Kutscher mit seiner Lohnforderung auf den Nachmittag vertrösten zu können. Doch kaum stand sie ihm gegenüber, begann er auch schon mit hässlichem Gezeter, aus dem seine ganze Verachtung herausklang. Als sie ihm ausrichtete, was ihre Herrin gesagt hatte, provozierte dieser Aufschub seinen Zorn noch mehr und er begann zu schimpfen und zu fluchen.
Der Kutscher war zornig. Recht hatte er! Sechsmal hatte er die Dame bereits ausgefahren zu Spazierfahrten und Besuchen bei ihren jungen Freundinnen, und der ausstehende Lohn betrug dreihundert Piaster, von denen er noch keinen Pfennig gesehen hatte. Seine Ehefrau und fünf Kinder hatten nur mit Müh und Not etwas zu essen und anzuziehen! Wie sollte er da nicht losbrüllen vor Zorn, wo er doch nur sein gutes Recht und seinen gerechten Lohn einforderte! Sechsmal war er bereits gekommen und immer wieder abgewimmelt worden. Als weder Schreien noch Schimpfen etwas brachte, ging der Kutscher wutentbrannt zu seinem Stand zurück, wild entschlossen, seinen Lohn am Nachmittag einzuholen, koste es, was es wolle.
Frau Iqbal derweil kümmerte sich nicht um den Vorfall, als hätte sie das schon oft erlebt. Sie lief vor den Spiegel, brachte ihr Haar in Ordnung und begann, Schminke auf ihr faltiges Gesicht aufzutragen. Von Zeit zu Zeit seufzte sie leise auf. Sie war mittlerweile achtunddreißig Jahre alt. In ihrer Jugend war sie ein Ebenbild von Liebreiz und Schönheit gewesen. Mit zwölf Jahren wurde sie mit einem jungen Mann von schlechtem Charakter verheiratet, ein Zocker und Trunkenbold. Bei seinem Ableben nach acht Jahren gemeinsamen Ehelebens hatte er ihr seinen Stempel aufgedrückt und ihren Charakter beschmutzt. Mit zwanzig Jahren war sie Witwe. Er hatte sie auf den Weg der Verderbtheit geführt, ihr schamlose und widerwärtige Dinge beigebracht und ihr Herz mit Laster und Niedertracht vergiftet. Schon als junges Mädchen hatte er sie zur Sünde geführt, sie aufgestachelt, sogar von ihr verlangt, Alkohol und Drogen zu konsumieren. Er hatte sie sogar – nach einer kleinen Feilscherei mit seinen Kumpels – dem überlassen hatte, der sie wollte, und sie aufgefordert, mit Prostitution Geld zu verdienen.
Als ihr Mann starb, ließ er in seiner jungen Ehefrau die Geschwüre der Schande und der Niedertracht zurück und in ihrem Körper die Schmerzen der Krankheit. Mit achtunddreißig Jahren sah sie aus wie achtundfünfzig. Ihr Körper war dürr, ihr Gesicht grau, ihre Hautfarbe fahl, und der Schmerz malte ihr dunkle Ringe unter die Augen. Gestern noch ein Mädchen von sanftem Charakter, vollkommenen Zügen und hehren Empfindungen war Iqbal nun eine Zockerin geworden, krank und verdorben, süchtig nach allen möglichen Rauschgiften, vor allem Alkohol und Kokain. Sie hatte einen siebenjährigen Sohn, der seinen Vater nicht kannte. Geboren inmitten von Elend wuchs er in einer Atmosphäre von Schande und Laster auf. Iqbal war eine verzweifelte Frau geworden, ihre Schönheit vertrocknet, die Männer interessierten sich kaum mehr für sie. Als ihr erstes Gewerbe nicht mehr so gut lief, wurde sie „Kupplerin“ zwischen jungen Männern und liederlichen Frauen, nach wie vor bedroht von bitterster Armut und Not, die jederzeit über sie herfallen konnte. Sie lebte in einem Haus, das noch Anzeichen des ehemaligen ausschweifenden Lebens besaß, die nur dem mittellosen Mann gefallen. Sie lebte von Tag zu Tag, nein von Stunde zu Stunde, und verschloss ihre Augen vor dem, was die Zukunft bringen wird.
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Nachmittags zur festgelegten Stunde kehrte der Kutscher zurück und forderte lauthals seinen Lohn. Niemand antwortete ihm. Da ließ er sein Gefährt in der Obhut eines Jungen zurück und stürmte durch den kleinen Vorgarten bis zur Haustür. Aufgebracht klopfte und brüllte er. Iqbal war in ihrem Schlafzimmer und machte sich schön, wie immer. Sie war in ein durchsichtiges Negligé gekleidet, das sie noch aus den Zeiten des Überflusses hatte; ihr Haar hing offen herab, mit nackten Beinen, in dem geöffneten Ausschnitt kamen welkende Brüste zum Vorschein. Sie hörte den Kutscher toben und lächelte gleichmütig vor sich hin. Umm Labiba teilte ihr mit, dass der Kutscher in die Privatgemächer eindringen und nicht mit seinem schändlichen Geschimpfe aufhören wolle. Seelenruhig antwortete Iqbal:
—— Was soll ich deiner Ansicht nach tun? Ich habe kein Geld… .
Dem Kutscher war es mittlerweile gelungen, die Haustür zu öffnen. Er stürzte in die geheiligten Privaträume des Hauses. Zeternd betrat er die Diele und verlangte seinen Lohn. Umm Labiba eilte zu ihm, beschimpfte ihn wegen seiner Dreistigkeit und wollte ihn zurückhalten. Auf der Stelle solle er das Haus verlassen! Eine gute Viertelstunde überhäuften sie einander mit bissigen Worten, bis die Dienerin einsah, dass sie ihm nicht beikommen konnte. Als er sie schlagen wollte, rief sie ihre Herrin zu Hilfe.
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In dem Moment öffnete sich die Tür zum Schlafzimmer und Iqbal erschien auf der Schwelle mit ihrem durchsichtigen Nachthemd, geschminkt, mit nackten Armen und Beinen. Sie sprach, als hätte sie bislang nichts davon mitbekommen, was sich in ihrem Haus abspielte:
—— Was ist los, Umm Labiba?
Der Kutscher ließ Umm Labiba gar nicht erst zu Wort kommen und forderte seinen Lohn ein. Iqbal antwortete gespielt liebenswürdig:
—— Wozu diese ganze Aufregung, Meister? Komm, nimm deinen Lohn!
Der Mann erschrak über die veränderte Situation und starrte sie fragend an; er wusste nicht, ob sie log oder es ehrlich meinte. Als er zögerte, nahm sie ihn bei der Hand und führte ihn ins Zimmer. Der Kutscher war verwirrt und wusste nicht, wie ihm geschah oder was er sagen sollte. Sie meinte zu ihm.
—— Komm, nimm deinen Lohn. Warum kommst du nicht ins Zimmer? Bist du denn ein Fremder?
Und so betrat der Kutscher das Schlafzimmer an der Hand von Iqbal, die ihn wie einen Verurteilten abführte.
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Dieser Kutscher Shahata war ein Mann von achtundfünfzig Jahren, kräftig gebaut und muskulös, der zeitlebens nur Kutscher gewesen war. Er hatte als Stallbursche begonnen und in den Ställen gelebt, sie ausgemistet, das Geschirr geputzt und Pferde und Kutschen gewaschen. Dann war er zum Kutscher aufgestiegen und saß auf dem hohen Kutscherbock, gekleidet in die dazu gehörige Livree, die er sich von einem Altkleiderhändler gekauft hatte. Der Verdienst, der ihm durch Pferd und Kutsche zufloss, reichte nicht aus, seine fünf Kinder und Ehefrau, die krank zu Hause lag, zu ernähren und zu kleiden. Er hatte ein staubgraues Gesicht mit grauem Bart, den er nur dann rasieren ließ, wenn das Geld dafür reichte. Er war eine dreckige Gestalt, mit zerlumpten Kleidern und Zehen, die aus den abgewetzten Schuhen lugten. Über seine Hose hatte er einen dreckigen roten Schal gebunden; auf seinem Kopf saß ein Tarbusch mit schwarzem Rand und ohne Quaste. Doch trotz dieser Anzeichen von Elend und Armut, die ihm deutlich auf Kleidern und Gesicht geschrieben standen, sprach er die ganze Zeit nur über das „Glück“, nach dem zu streben sein alleiniger Sinn war. Man sah ihn hoch oben auf dem Kutschbock sitzen, ein Bein übers andere gelegt, wie er ein Liebes- oder Volkslied vor sich hin trällerte. Wenn ein hübsches Mädchen aus seiner Schicht vor ihm auftauchte, setzte er seinen Tarbusch mit dem schwarzen Rand schräg auf, wippte mit seinen abgewetzten Schuhen und zwinkerte ihr lächelnd zu:
—— Ach du Hübsche … Gemach, mein Herz verbrennt!
Wenn er junge Frauen aus der höheren Gesellschaftsschicht sah, wie sie sich mit dünnem durchsichtigen Gesichtsschleier oder leichter Burka, die ihre schönen Gesichtszüge nur erahnen ließ, in ihrem bezaubernden Gang wiegten, starrte er sie voll Sehnsucht an und seufzte leise zu sich selbst:
—— Ach alles für die Katz‘!
Und wenn das Schicksal ihm ein Liebespaar in die Kutsche setzte und er das hell aufklingende Liebeslachen, die entzückende Melodie der Küsse und das schamlose, rhythmische Klopfen der Liebesglut vernahm, schalt er in Gedanken seine Frau:
—— Ach ach wie schade, Umm Ahmad!
Dann überwältigte ihn der Liebeseifer und er beruhigte seine Nerven damit, Peitsche und Flüche auf die ausgemergelten, erschöpften Pferde niederprasseln zu lassen.
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Der Kutscher betrat also das Schlafzimmer, unsicher, ob die Dame es mit dem, was sie tat, ernst meinte oder nicht. Er sog den Duft von Puder und Parfum ein, der den Raum erfüllte. Seine aufgebrachten Nerven und seine funkelnden Augen erholten sich. Er ließ seine Blicke über Frau Iqbals Körper schweifen, wie sie im Zimmer hin und herging und den Schrankschlüssel suchte, wie sie diesen dann öffnete und seinen Inhalt umkrempelte, um ihm seinen Lohn zu geben. Er betrachtete sie mit kaltem Blick und unmerklich verzog sich sein Mund zu einem lüsternen Grinsen.
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Noch nie in seinem Leben war der Kutscher mit einer solch weißen Dame aus dieser Gesellschaftsschicht, der Schicht der Pseudo-Aristokratie, in einem Zimmer alleine gewesen. Noch nie hatte er eine Frau mit solcher Gestalt und solchen Gewändern gesehen, sah er doch daheim nichts anderes als seine dunkelhäutige, hässliche Ehefrau im schmutzigen blauen Hauskleid und zerrissenem schwarzem Kopftuch. Hatte er denn je eine solch zierliche Gestalt gesehen, bar aller Kleidung, unverhüllt bis auf ein durchsichtiges Nachthemd, unter dem weiche, zarte Beine hervorkamen, und dieser helle, rötlich gepuderte Teint, das geschminkte Gesicht und diese zauberhaften Augen. Nein, noch nie in seinem Leben hatte er so nackte Beine gesehen, so ein herabwallendes Haar bis zu den Schultern, und so weiße, sich erhaben reckende Brüste.
Der Kutscher sah Iqbal in diesem Augenblick nicht, wie sie war, mager, mit fahlem Gesicht und eingefallenen Augen hinter dem Schleier aus Schminke, Farbe und Makeup. Er sah die junge Frau, von der er Tag und Nacht träumte, ein hellhäutiges Mädchen, ihr strahlendes Gesicht versteckt unter dem durchsichtigem schwarzem Nikab oder einer leichten weißen Burka. Die, deren zauberhaftes Lachen er in seiner Kutsche vernahm, die, die ihren Körper vor ihm auf der Straße hin und herwiegte, die, die ihn mit ihrer melodiösen Stimme berührte.
Iqbal näherte sich ihm kokett und sagte mit sanfter, unterwürfiger Stimme:
—— Ich habe heute kein Geld, Meister. Kannst du nicht morgen wiederkommen?
Mitleidheischend schaute sie ihn an, mit einem Hauch von Koketterie. Seine Augen blitzten mit einem seltsamen Leuchten auf. Er lächelte und sagte scherzend:
—— Ich kann jetzt nicht mehr gehen, meine Dame. Wer A sagt, muss auch B sagen.
Iqbal lächelte wissend. Dann warf sie sich auf ihn, ohne sich um seine Verdrecktheit und seinen ekligen Geruch zu scheren, und drückte ihm einen berauschenden Kuss auf den Mund, so dass er fast in Ohnmacht fiel… .
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Gamal, Iqbals siebenjähriger Sohn, schaute durch den Türschlitz ins Schlafzimmer und zog sich dann lachend wieder zurück. Er traf Umm Labiba, die sich zu ihm herunterbeugte, und vertraute ihr in seiner Kindersprache flüsternd das Geheimnis an, das er im Zimmer gesehen hatte: Wie der Kutscher durch dieses einfache und schöne Mittel von seiner Lohnforderung Abstand nahm! .

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Meister Shehata verlangt seinen Lohn

BIBLIOGRAFIE
Der arabische Text der Kurzgeschichte „al-Ugra’“ ist aus: Maḥmūd Taymūr, Al-shaykh Gum‘a wa-aqāṣīṣ ukhrā, Kairo, 2. Aufl. 1927, 25–35. Online hier: Taymur UGRA Text. Die Erzählung erschien erst unter dem Titel „al-Usṭā Shaḥāta yuṭālibu bi-ugratihi“ (Meister Shehata verlangt seinen Lohn) in al-Fagr, No. 5 (10.2.1925).

Sekundär:
– John J. Donohue SJ und Leslie Tramontini (Hgg.), Crosshatching in Global Culture. A Dictionary of Modern Arab Writers: An Updated English Version of R.B. Campbell’s “Contemporary Arab Writers”, 2 Bde., Beirut/Würzburg 2004, (BTS 101a/b), Bd. 2, Ss.1108–1115, mit einer autobiographischen Skizze des Autors.
– Rotraud Wielandt, Das erzählerische Frühwerk Maḥmūd Taymūrs. Beitrag zu einem Archiv der modernen arabischen Literatur, Beirut 1983 (BTS 26).
– G. Widmer, „Übertragungen aus der neuarabischen Literatur. I. Maḥmūd Taimūr,“ Die Welt des Islams, 13 (1932), 1–103. (Einsehbar über JSTOR.)

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Ali Mubarak und der Trickle-Down-Effekt

🇳🇱 Wer Arabisch aus dem 19. Jahrhundert lesen mag, landet irgendwann bei ‘Alī Pāshā Mubārak (1823–1893). Dieser vielseitig talentierter Ägypter hätte ursprünglich Imam oder Ähnliches werden sollen, aber er rang sich durch zu einem militärischen Ingenieurstudium, studierte darauf fünf Jahre in Frankreich, war im Aufbau und in der Organisation des Unterrichts in seinem Land tätig und hatte einige Male ein Ministeramt inne. Sein Name ist u.a. verbunden mit der Gründung der Nationalbibliothek und der pädagogischen Hochschule (Dār al-‘ulūm), beide in Kairo, und mit zahllosen öffentlichen Bauaufträgen, wie dem Wiederaufbau des Staudammes bei al-Qanāṭir al-Khairīya nördlich von Kairo. Neben seinen öffentlichen Ämtern fand er noch Zeit dicke Bücher zu schreiben. (Biblio-, Bio- und Autobiografie folgen später.)
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Heute ein übersetztes Fragment aus seinem ‘Alam ad-Dīn, das 1882 erschien und 1486 Seiten und 125 Kapitel zählt. Oder vielmehr „Gespräche“ (musāmarāt), denn es werden Dialoge geführt, die allerdings sehr hölzern sind. Das Werk hat einige Züge eines Romans: es gibt Personen und so etwas wie eine Handlung:
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‘Alam al-Dīn, ein Absolvent der religiösen Azhar-Universität in Kairo, der im Buch meist „der Scheich“ genannt wird, hat große Mühe über die Runden zu kommen und seine Familie zu ernähren. Das Angebot eines namenlos bleibenden englischen Orientalisten ist deshalb sehr willkommen: der Scheich darf diesen Khawwāga (d.h. ein europäischer Herr) als Führer und Dolmetscher in Ägypten begleiten. Später geht er auch mit nach Europa und er nimmt sogar seinen Sohn mit, der sich zweimal in ein französisches Mädchen verliebt. In Frankreich gesellt sich ein gewisser Ya‘qūb zu ihnen: ein ägyptischer Matrose, der dort schon länger wohnt und ihnen als Führer und Gesprächspartner dient.
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Aber die Handlung bleibt dünn, hat kein Ende und wird ständig durch informative Einschübe unterbrochen, die der Autor nützlich findet, über Sachen wie die Eisenbahn, die Korkeiche, den Holzwurm und noch vieles mehr. Wenn man diese Teile überspringt, bleibt kein sehr dickes Buch übrig. Allgemeiner Tenor: Man darf mit Ausländern verkehren und besonders mit Orientalisten, die auf Grund ihrer Kenntnisse schon fast Muslime sind; man darf auch Sachen aus Europa übernehmen. Offensichtlich ist, wie viel Europa dem alten Ägypten verdankt und wie leicht Europäer sich zum Islam bekehren würden, wenn sie bloß den Koran und den Islam kennen würden. Eheschließungen zwischen ägyptischen Männern und europäischen Frauen sind im Prinzip möglich. Frauen sollen auch zur Schule gehen, damit sie angenehme Gesprächspartner für ihre Männer sein können.
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Im 101. Kapitel lässt Mubārak seine Personen ein wenig über den Unterschied zwischen reich und arm und den trickle-down-Effekt1 sinnieren. Obwohl er von zu Hause aus nicht sehr vermögend war, wird er später in seinem Leben so viele Besitztümer erworben haben, dass seine Gedankengänge wie von selbst die eines Reichen sind.
Ein Fragment wie das folgende ist an sich nicht übermäßig interessant. Nur wenn man miteinbezieht, wo und wann es geschrieben ist, und dazu noch andere Texte aus der Zeit liest, wird es sinnvoll, ihm Aufmerksamkeit zu schenken, zum Beispiel im Vergleich mit dem eher zum Sozialismus neigenden Fāris al-Shidyāq in Sāq ‘alā sāq (1855). Hier folgt die Übersetzung:

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„„„Der Scheich sagte: „Immer wenn ich durch Paris laufe, verwundert es mich, wie groß es ist, wie viele Einwohner es hat und wie sie Tag und Nacht auf den Beinen sind.“ Der Scheich litt unter seinem Aufenthalt in der Stadt, wegen des vielen Verkehrs, den er ständig sah, und der Geräusche von Mensch und Tier, die er ständig hörte. Denn die Kutschen fahren an und ab, Tag und Nacht, und ihre Räder rattern, indem sie gegen die Steine stoßen, mit denen die Straßen belegt sind. Die Fenster der Häuser und Gebäude klappern im Wind und wenn sie auf und zu gehen. Betrunkene und Nachtschwärmer und dazu noch der Verkehr bringen Unruhe, verwirren den Geist und stören die Konzentration.
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Er sagte zu Ya‘qūb: „Wohnten wir doch außerhalb, das wäre angenehmer und gesünder.“ Ya‘qūb antwortete: „Der Scheich hat Recht, denn auch der Khawwāga leidet unter dem Wohnen in dieser Stadt, aber dass er hier eine Unterkunft gesucht hat, ist, weil sie nah an seiner Arbeit und seinen Freunden ist. Er hat mir eine Wohnung beschrieben, die geräumiger ist als diese, die auf einen Park sieht und etwas abseits von der Straße liegt; wenn der Khawwāga wüsste, wie sehr ihr zu leiden habt, würde er sofort dorthin umziehen.“ Darauf pries der Scheich sie beide und sagte: „Paris ist eine der prachtvollsten Städte der Welt, weil es Kunstwerke, schöne Sachen, Kostbarkeiten und Kuriositäten enthält und die Menschen so wohlhabend sind und die Gebäude so schön, aber ich denke, dass das Leben der Armen hier elend ist, weil so viele Menschen dicht aufeinander wohnen.“
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Ya‘qūb sagte: „Vielleicht haben die Armen es in Paris besser als irgendwo sonst. Denn so wie die Reichen sich sehr anstrengen um viel Gewinn zu erzielen, so haben auch die Armen ihre Manieren ihr Brot zu verdienen und ihren Vergnügungen nachzugehen, je nach ihrer Situation. Die Armen entsprechen in jeder Stadt ja immer den Reichen. Je größer die Stadt wird und je reicher die Reichen, desto mehr nehmen auch die Existenzmöglichkeiten der Armen zu, denn indem sie überall Stellen haben und Dienste leisten, können sie mehrere Sachen zu gleicher Zeit verfolgen, was man nur sieht, wenn man gut darauf Acht gibt. Ein Hausmeister zum Beispiel beschränkt sich nicht auf seinen Job; nein, man sieht auch, wie er und seine Familienmitglieder noch dazuverdienen. Denn der Mann repariert auch Schuhe und Sandalen, die Frau näht Kleider, die Tochter singt und studiert Gesang und der Sohn zerreibt Zutaten von Farbstoffen. Und wenn man darauf achtet, kann man in den Straßen arme Leute sehen, die auf dem Boden und im Schlamm altes Eisen und Nägel einsammeln, und Männer und Kinder, die die Pferde der Menschen striegeln, und noch andere, die den Hunden das Haar scheren oder Streichhölzer, Bonbons und Getränke für Kinder verkaufen. Es gibt Lumpenhändler und Kräuterverkäufer und Leute, die Blätter mit Nachrichten oder den Spielplänen der Theater anbieten. Alle diese Tätigkeiten sind auf den ersten Blick von wenig Nutzen, aber oft genug bringen arme Leute es dadurch zu Grundbesitz und Vermögen, so dass sie zu den höheren Ständen gerechnet werden, und ich glaube, auch Sie haben abends diese Leute gesehen, die das Papier und die Knochen wegräumen, die man auf die Straße geworfen hat?“ „Ja,“ sagte der Scheich und Ya‘qūb fuhr fort: „Das sind Sachen, von denen viele leben und mit denen sie das Brot für ihre Familien verdienen. Und dann gibt es noch ganze Gruppen, die leben von Schmeichelei, Schwindel, Spionage, Betrug und dergleichen, wie man das in Großstädten vorfindet.“
Der Sohn des Scheichs sagte: „In Kairo gibt es viele Leute, die Zigarettenstummel sammeln, den Tabak herausholen und davon neue Zigaretten drehen um sie auf der Straße zu verkaufen und vom Ertrag zu leben. Andere sammeln Glasscherben und verkaufen sie an die Hersteller von Armbändern für arme Frauen, und so weiter.“
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Darauf sagte der Sheikh: „Gott—gelobt und gepriesen sei er—hat es seinen Knechten leicht gemacht, auf allerlei Arten Lebensunterhalt zu finden. Er ist wirklich der Ernährer (razzāq) und er hat für jedes Geschöpf seine Art des Broterwerbs gemacht. … .’ ”””

ANMERKUNG
1. Trickle-down-Effekt: Die Annahme, dass der Reichtum der Reichen nach und nach durch deren Konsum und Investitionen in die unteren Schichten der Gesellschaft durchsickern würde. Normalverdiener und arme Menschen wissen längst, dass dem nicht so ist.

BIBLIOGRAFIE
– ‘Alī Bāshā Mubārak, ‘Alam al-Dīn, 4 Bde., Alexandrien 1882, 1235–8.
– Andrea Geier, Von den Pharaonen zu den Khediven. Ägyptische Geschichte nach den Ḫiṭaṭ des ‘Alī Mubārak, Frankfurt am Main 1998.
– Rotraud Wieland, Das Bild der Europäer in der modernen arabischen Erzähl- und Theaterliteratur, Beirut 1980, 48–72 und Index unter ‘Alī Mubārak.

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Haqqis „Jungfrau von Dinschaway“

Anbei der arabische Text des Kurzromans ʿAḏrāʾ Dinšawāy (Die Jungfrau von Dinshaway) von Maḥmūd Ṭāhir Ḥaqqī, Kairo 1964 (die Erstauflage war 1906). Ich habe nun mal diese pdf-Datei und es wäre Schade sie wegzuwerfen. So müssen Sie nicht noch mal in die UB rennen.

Haqqis Werk ist einer der frühesten ägyptischen Romane, der einen großen Einfluss gehabt hat sowohl auf die Entwicklung des ägyptischen Nationalismus wie auch auf die der Romankunst. In den Worten von Samah Selim, S. 93:

The novel dramatizes the events that took place in the Delta village of Dinshaway in 1906. A party of British officers out pigeon hunting near the village was attacked by a group of peasants to whom the pigeons belonged. In the confrontation that followed, an officer was severely wounded and subsequently died of sun-stroke. The British reprisal was swift and brutal — a military trial ended in the execution of four villagers — and the popular outrage that ensued eventually led to Lord Cromer’s departure from Egypt.

Sekundärliteratur:
– Saʿd al-Ǧabalāwī, Three pioneering Egyptian novels, Fredericton NB 1986.
– Roger Allen, „History of the Egyptian Novel. Its Rise and Early Beginnings,“ IJMES 1988, Vol.20(3), S. 397-397.
– Samah Selim, The Novel and the Rural Imaginary in Egypt, 1880-1985, S. 92ff.

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Der älteste ägyptische Roman

(Zielgruppe: Menschen, die arabische Literatur auf Arabisch lesen)

Vor Jahren habe ich mal im Schnäppchenkeller der Brill’schen Buchhandlung in Leiden für einen lächerlichen Preis zwei arabische Bücher von Nakhla Sālih gekauft, „vormals Übersetzer bei der Ägyptischen Eisenbahn“ (gest. 1899).1 Das eine war ein Reisebeschreibung durch Syrien und Palästina, das andere ein Roman mit dem Titel Qissat Fu’ād wa-Rifqa mahbūbatihi (Die Geschichte von Fu’ād und seiner geliebten Rifqa). Das besondere an dem letzten Werkchen ist, dass es auf 1289 (= 1872) datiert und der älteste ägyptische auf arabisch geschriebene Roman überhaupt ist.2 Oder besser gesagt: Kurzroman, denn er zählt nur 48 Seiten. Es ist eine Liebesgeschichte, inspiriert von Abbé Prevost, Manon Lescaut. Das Exemplar habe ich der UB in Leiden geschenkt. In Deutschland finden Sie ein Exemplar in der Staatsbibliothek Berlin, und in Kopie auch hier, damit Sie es zur Hand haben. (Text und Umschlag und Titelseite2) Nicht dass es ein literarisches Meisterwerk ist, aber als ältester Roman verdient es im Rahmen der Literaturgeschichte schon einige Aufmerksamkeit.
Sollten Sie je arabische Bücher im Originaldruck aus dem 19. Jahrhundert entdecken, retten und bewahren Sie diese, oder sorgen Sie für ein gutes Zuhause. Sie sind rar.

ANMERKUNGEN
1. J. Brugman, An Introduction to the History of Modern Arabic Literature in Egypt, Leiden 1984, 207 (schreibt zu Unrecht Nakhīla).
2. C. Brockelmann, GAL ii, 491, S ii, 749; iii, 378.

أقدم رواية عربية:  قؤاد ورفقة  لنخلة صالح  pdf

Diakritische Zeichen: Naḫla Ṣāliḥ, Qiṣṣat Fuʾād wa-Rifqa maḥbūbatihi

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