Der Ameisenlöwe

In einem arabischen Text stieß ich auf das Wort layth, „Löwe“. Aber das passte nicht in den Kontext, es sollte eher ein Insekt sein, so etwas wie eine Spinne. Der syrische Name stand daneben: aryā dedēbābē, der „Fliegenlöwe“. Und in der Tat, das passte. Wir kennen ihn aber als Ameisenlöwe.
In der Antike gab es mehrere zusammengesetzte Tiere. Von den meisten hören wir nicht mehr, aber der Ameisenlöwe ist noch nicht ausgestorben. Im Gegenteil: 2010 war er noch das Insekt des Jahres. Er ist ein nachtaktiver Netzflügler: Myrmeleon formicarius aus der Familie der Ameisenlöwen (Myrmeleontidae).
Als geflügeltes Insekt ist er einer unter vielen. Außergewöhnlich ist jedoch die Larve dieses Tieres. Zur Beutefang gräbt die kleine Larve ein trichterförmiges Loch im lockeren Sand. Wenn eine Spinne oder Ameise hochläuft und auf der Schräge des Trichters landet, kann sie nicht mehr zurück. Die Larve wirft mit ihren Beinen noch mehr Sand auf, das Beutetier rutscht weiter nach unten und wird zwischen den starken Larvenkiefern zerquetscht.

Mich beschäftigte kurz die Frage, woher der Name „Ameisenlöwe“ stammt. Ein Löwe ist zwar auch ein Raubtier, hat aber ansonsten wenig mit diesem Tier gemeinsam, weder in der Größe noch im Verhalten.
Der Ameisenlöwe ist nicht selten und wurde wegen seiner Jagdtechnik von Menschen überall bemerkt. Die alten Griechen kannten ihn mit Sicherheit. Bei Aristoteles heißt er (vielleicht) λύκος, lykos, „Wolf,“ was ebenfalls schwer zu verstehen ist.

Der Name geht auf die Bibel zurück, genauer gesagt auf die griechische Übersetzung der Septuaginta von Hiob 4:11, ± 100 v. Chr. In Luthers Bibelübersetzung lautet der Vers:

  • „Der Löwe kommt um, wenn er keine Beute hat, und die Jungen der Löwin werden zerstreut.“

Der hebräische Text2 hat hier zwei Wörter, die beide „Löwe“ bedeuten: layish und lavī. Im Deutschen gibt es dafür nur ein Wort. Zweimal dasselbe Wort im selben Vers wäre unschön gewesen, aber zum Glück schafften die Jungtiere und die Umwandlung des zweiten Löwen in ein Weibchen etwas Variation. Die griechischen Bibelübersetzer fanden zweimal „Löwe“ offensichtlich auch nicht schön. Sie übersetzten deshalb das erste „Löwe“ als μυρμηκολέων (myrmēkoléōn), in der Tat wörtlich „Ameisenlöwe“, was auch immer das bedeuten mag.3 (Die lateinische Bibelübersetzung Vulgata ging in ihrer Verzweiflung noch weiter und übersetzte es als tigris, „Tiger”. Löwen und Tiger passen in Texten immer gut zusammen; deswegen.)

Was haben sich die Griechen bei ihrer Übersetzung gedacht, was für ein Tier haben sie sich vorgestellt und wie blieb der Name an dieser unliebsamen Larve hängen? Ich habe es (noch) nicht herausgefunden; Sie vielleicht? Ein Text, der vielleicht etwas weiter helfen könnte, ist Herodot (± 485–425 v. Chr), Historiae iii, 102. Dort handelt es sich um eine Wüste in Indien, in der Menschen Goldpartikel aus dem Sand gewinnen, der von sehr großen Ameisen aufgeworfen wird:

  • In dieser Wüste gibt es Ameisen, die etwas kleiner sind als Hunde, aber größer als Füchse. Ein paar wurden gefangen und leben im Tiergarten des persischen Königs. Diese Ameisen bauen ihre Höhlen unter der Erde und graben genau wie die griechischen Ameisen, denen sie sehr ähnlich sind.4

Hier gibt es immerhin riesige „Ameisen” (μύρμηκες, myrmikes), die allerdings bei weitem nicht die Größe eines Löwen erreichen. Manchmal hat man an das tibetische Murmeltier gedacht, aber es kann genau so gut ein Fantasietier sein—und letzteres trifft auch auf den biblischen Ameisenlöwen zu. Inder, die von großen Ameisen Gold wegnehmen, werden übrigens auch bei → Timotheus von Gaza (± 500) erwähnt).5

Soweit ich es überprüfen kann, kommt der griechische Name myrmēkoléōn in griechischen Texten, die älter als die Bibelübersetzung sind, nicht vor, und danach nur noch sporadisch in christlichen oder christlich beeinflussten Texten.
Das christliche Tierbuch Physiologus aus dem zweiten Jahrhundert erzählt von diesem Tier:

  • Elifas, der König von Theman, sagte: [Hiob 4:11]: „Der Ameisenlöwe ging zugrunde, weil er keine Speise fand.“ Der Physiologus sagte vom Ameisenlöwen, er sei vorne wie ein Löwe, hinten aber wie eine Ameise. Das Vatertier frisst Fleisch, die Mutter aber kaut Hülsenfrüchte. Wenn sie nun den Ameisenlöwe zeugen, zeugen sie ihn als ein Wesen von zweifacher Natur: Er kann kein Fleisch fressen wegen der Natur seiner Mutter und keine Hülsenfrüchte wegen der Natur seines Vaters; also geht er zugrunde, weil er keine Nahrung findet. (Übersetzung Schönberger)6

So wurde der Bibelvers „erklärt“. Wie es mit dem Überleben der Art weiter gehen soll, interessierte den Autor offenbar nicht. Möchten Sie die Predigt noch hören? Hier kommt sie:

  • So ist auch ein Mann mit zwei Seelen unbeständig auf all seinen Wegen (Jak. 1:7f). Man soll nicht auf zwei Wegen wandeln noch doppelzüngig reden beim Gebet. Wehe nämlich, heißt es, einem gespaltenen und sündigen Herzen, das auf zwei Wegen wandelt (Sirach 2:12). Es ist nicht schön, Ja Nein und Nein Ja zu sagen, sondern sprich Ja Ja und Nein Nein, wie es unser Herr Jesus Christus gesagt hat. (Mt 5:37, 2 Kor. 1:17f).
    Schön also hat der Physiologus vom Ameisenlöwen gesprochen.6

Findet er selbst! Es gibt Augenblicken, in denen ich es bedauere, dass das Christentum die westliche Welt erobert hat. Nun ja, davor hatte man viel mehr Götter, Opfer, Kaiserkult, Massaker in Arenen und viel weniger Nächstenliebe.

ANMERKUNGEN
1. Aristoteles, Historia Animalium 623a: Τῶν δ’ ἀραχνίων καὶ τῶν φαλαγγίων ἔστι πολλὰ γένη, τῶν μὲν δηκτικῶν φαλαγγίων δύο, τὸ μὲν ἕτερον ὅμοιον τοῖς καλουμένοις λύκοις μικρὸν καὶ ποικίλον καὶ ὀξὺ καὶ πηδητικόν· καλεῖται δὲ ψύλλα· τὸ δ’ ἕτερον μεῖζον, τὸ μὲν χρῶμα μέλαν, τὰ δὲ σκέλη τὰ πρόσθια μακρὰ ἔχον, καὶ τῇ κινήσει νωθρὸν καὶ βαδίζον ἠρέμα καὶ οὐ κρατερὸν καὶ οὐ πηδῶν. Τὰ δ’ ἄλλα πάντα, ὅσα παρατίθενται οἱ φαρμακοπῶλαι, τὰ μὲν (623a.) οὐδεμίαν τὰ δ’ ἀσθενῆ ποιεῖ τὴν δῆξιν. Ἄλλο δ’ ἐστὶ τῶν καλουμένων λύκων γένος.
2. Job 4:11: לַיִשׁ אֹבֵד מִבְּלִי-טָרֶף וּבְנֵי לָבִיא יִתְפָּרָדוּ.
3. Job 4:11, LXX: μυρμηκολέων ὤλετο παρὰ τὸ μὴ ἔχειν βοράν, σκύμνοι δὲ λεόντων ἔλιπον ἀλλήλους.
4. Hdt. Hist. iii, 102.2: ἐν δὴ ὦν τῇ ἐρημίῃ ταύτῃ καὶ τῇ ψάμμῳ γίνονται μύρμηκες μεγάθεα ἔχοντες κυνῶν μὲν ἐλάσσονα ἀλωπέκων δὲ μέζονα: εἰσὶ γὰρ αὐτῶν καὶ παρὰ βασιλέι τῷ Περσέων ἐνθεῦτεν θηρευθέντες. οὗτοι ὦν οἱ μύρμηκες ποιεύμενοι οἴκησιν ὑπὸ γῆν ἀναφορέουσι τὴν ψάμμον κατά περ οἱ ἐν τοῖσι Ἕλλησι μύρμηκες κατὰ τὸν αὐτὸν τρόπον, εἰσὶ δὲ καὶ αὐτοὶ τὸ εἶδος ὁμοιότατοι: ἡ δὲ ψάμμος ἡ ἀναφερομένη ἐστὶ χρυσῖτις.
5. Tim. Gaz., De animalibus (Περὶ ζῴων), xxxii, 2,3, Hrsg. Haupt 1869, 20; Übers. Rabinowitz und Bodenheimer 1949, 37.
6. Physiologus (Φυσιολόγος) , Griechisch/Deutsch, Hrsg und Übers. Otto Schönberger, Stuttgart 2001, Nr. 20, S. 37: Ἐλιφὰζ ὁ Θαιμανῶν βασιλεὺς ἔλεξε˙ «μυρμηκολέων ὤλετο παρὰ τὸ μὴ ἔχειν βοράν». ὁ Φυσιολόγος ἔλεξε περὶ τοῦ μυρμηκολέοντος ὃτι τὰ μὲν ἐμπρόσθια ἔχει λέοντος, τὰ δὲ ὀπίσθια μύρμηκος. ὁ μὲν πάτηρ σαρκοφάγος ἐστίν, ἡ δὲ μήτηρ ὄσπρια τρώγει. ὃταν δὲ γεννῶσι τὸν μυρμηκολέοντα, γεννῶσιν αὐτὸν δυο φύσεις ἔχοντα, καὶ οὐ δύναται φαγεῖν κρέα διὰ τὴν φύσιν τῆς μητρός οὐδε ὄσπρια διὰ τὴν φύσιν τοῦ πατρός˙ απόλλυται οὔν διὰ τὸ μὴ ἔχειν τροφήν.
Οὓτω καὶ πᾶς ἀνὴρ δίψυχος ἀκατάστατος ἐν πάσαις ταῖς ὁδοῖς αὐτοῦ. οὐ χρὴ βαδίζειν δύο τρίβους οὐδὲ δισσὰ λέγειν ἐν τῃ προσευχῇ· οὐαὶ γάρ, φησί, καρδίᾳ δισσῇ καὶ ἁμαρτωλῷ ἐπιβαίνοντα ἐπὶ δύο τρίβους. οὐ καλὸν εἰπεῖν τὸ ναὶ οὖ, καὶ τὸ οὖ ναί, ἀλλὰ τὸ ναὶ ναί, καὶ τὸ οὖ οὖ, καθὼς εἶπεν ὁ Κύριος ἡμῶν Ἰησοῦς Χριστός.
Καλῶς οὖν ἔλεξεν ὁ Φυσιολόγος περὶ τοῦ μυρμηκολέοντος

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