Geschlechter und Neigungen im vormodernen Nahen Osten – 2a

Weibliche Männer: die Effeminierten im alten Medina
Ein mukhannath, Plural mukhannathūn, war körperlich ein Mann, aber neigte zu weiblichem Verhalten. Aus natürlicher Neigung, manchmal aber auch aus Affektiertheit, weil die zum Beispiel zu einem Beruf passte. Das Wort kann mit „effeminiert“, oder „geschlechtslos“ übersetzt werden. Heutzutage wird es auch von einem Mann gesagt, der sich anal penetrieren lässt, aber das war bei dieser Gruppe im ersten Jahrhundert des Islams nicht unbedingt der Fall, wie ein Artikel von Everett → Rowson belegt.

Es ist klar, dass mukhannathūn im siebten Jahrhundert im Musikleben von Medina eine wichtige Rolle spielten. Sie waren professionelle männliche Musiker, die in Frauenkleidern auftraten und wegen ihrer Musik, aber auch wegen ihres Witzes und Charmes geschätzt wurden. Vielleicht waren sie die Nachfolger der Sklavinnen, die in vorislamischer Zeit gesungen und getanzt hatten, aber unter islamischen Bedingungen nicht länger erwünscht waren. Ihre Künstlernamen klingen meist feminin. Es ist auch bekannt, dass es ihnen erlaubt war, Frauen unverschleiert zu sehen und in den für Männer verschlossenen Frauenquartieren ein und auszugehen.

Rowson befasst sich zunächst mit den Hadith-Texten, in denen mukhannathūn  erwähnt werden, die mit dem Propheten in Kontakt kamen. Offenbar betrachtet er diese Texte als Quelle für das gesellschaftliche Leben im siebten Jahrhundert. Ich selbst tendiere eher dazu, sie zwischen 700 und 900 zu datieren, in der Annahme, dass sie Rechtsauffassungen dieser etwas späteren Zeit widerspiegeln. Wie auch immer, sie enthalten interessantes Material und ich werde sie gerne mal separat behandeln, aber das kann noch dauern.

In seinem Artikel findet sich jedoch genug aus historischen Quellen zu den mukhannathūn, die in den frühesten Zeiten vor allem in Medina blühten, bis Kalif Sulaimān (reg. 715-17) ihre Aktivitäten verbot. Eine Hauptquelle ist das →Kitāb al-aghānī von Abū al-Faradj al-Iṣfahānī, aus dem zehnten Jahrhundert, das viel Material zu Sängern und Dichtern der alten Zeit bietet; unter ihnen auch mukhannathūn, die ausführlich behandelt werden, insbesondere Dalāl und Ṭuwais. Letzterer lebte von 632-711 und war auch als Pechvogel bekannt. Er sang Kunstmusik und verfasste Gedichte in der leichteren Metra hazadj und ramal, leichte Lieder, bei denen er sich selbst auf einem duff, einer Art Tamburin, begleitete. Er war witzig und charmant und hatte eine scharfe Zunge. Er bildete auch jüngere Musiker aus. Ṭuwais wurde oft zu Partys der jungen Leute in Medina eingeladen, während die Älteren ihn und seinesgleichen eher verachteten.1

Es gibt eine Geschichte über eine Gruppe junger Männer, die bei einem Ausflug außerhalb der Stadt in ein Unwetter gerieten und beschlossen, bei Ṭuwais Unterschlupf zu suchen, der dort mit seiner Familie lebte. Einige der Teilnehmer, z.B. ‘Abdallāh ibn Ḥassān ibn Thābit, hatten Vorbehalte: Er stehe unter dem Zorn Gottes, er sei ein verachtenswerter mukhannath, mit dem man nicht verkehren sollte. Aber andere sagten: „Sag das nicht, er ist ein witziger, charmanter Mensch, der uns gute Gesellschaft leisten wird.“2 Als Ṭuwais hörte, was sie redeten, befahl er seiner Frau, eine Ziege zuzubereiten und bot ihnen ein köstliches Mahl an. Anschließend unterhielt er sie mit Gesang und Tanz. Als sie ein bestimmtes Lied lobten, sagte er: „Das ist ein Liebeslied, das die Schwester von Ḥassān ibn Thābit auf jemanden vom Stamm der Makhzūm gemacht hat.“ Diese Indiskretion war seine Rache an ‘Abdallāh ibn Ḥassān ibn Thābit, den er dadurch zutiefst beleidigte.

Eine atmosphärische Geschichte, die unmöglich historisch sein kann, erzählt über einen gewissen Djamīla, einen bekannten mukhannath-Sänger aus Medina, der mit einer ganzen Truppe von Dichtern und Musikern beiderlei Geschlechts nach Mekka pilgerte und dort von Kollegen empfangen wurde, unter ihnen der berühmte Dichter ‘Umar ibn abī Rabī‘a. Als Djamīla gebeten wurde, in Mekka ein Konzert zu organisieren, antwortete er, dass er nicht bereit sei, Ernst mit Frivolem zu vermischen. Die ganze Gesellschaft zog dann nach Medina, wo in seinem Haus ein dreitägiges Musikfestival stattfand. Der zweite Tag war ganz der Darbietung der acht namentlich genannten mukhannathūn gewidmet, die als Gruppe getrennt blieben.3 Ihr Auftritt wurde sehr geschätzt.4

Dalāl soll schön und charmant gewesen sein, aber sein Humor war derb und fast blasphemisch. So soll er beispielsweise während des Gebets gefurzt und dabei gesagt haben: „Ich lobe Dich von vorne und von hinten.“5 Und als ein Imam rezitierte: „Und warum sollte ich nicht Demjenigen dienen, Der mich erschaffen hat?“ (Koran 36:22) rief Dalāl aus: „Keine Ahnung!“ Das brachte die Leute so zum Lachen, dass es ihre Gebete ungültig machte.6 Dalāl war auch als Liebesbote und Heiratsvermittler bekannt.

Zwei mekkanische mukhannathūn, Ibn Suraidj und al-Gharīd, hatten ihre Laufbahn als Totenklager begonnen, eine Rolle, die traditionell von Frauen ausgeübt wurde. Ihre „leichten“ Lieder begleiteten sie mit der Laute, nicht mit dem Tamburin wie in Medina.7

Nur bei zwei frühen mukhannathūn konnte festgestellt werden, dass sie sexuell an anderen Männern interessiert waren: Dalāl und al-Gharīd. Einige waren verheiratet, andere hatten einfach kein Interesse an Frauen. Sofern sie „ohne Geschlechtstrieb“ (ghair ūlī al-irba, Koran 24:31) waren, durften sie Frauen unverhüllt sehen. Sie hatten also Zugang zu den Frauengemächern, überbrachten Nachrichten und fungierten manchmal als Kuppler. Und das war der Grund, warum Kalif Sulaimān ihre Tätigkeiten verbot und sie einem Bericht zufolge sogar kastrieren ließ. Nicht weil sie unerlaubten Sex hatten, dekadent waren oder sich „widernatürlich“ verhielten, sondern weil sie bei den Frauen ein- und ausgingen, mit Musik und unverschämtem Verhalten Unmoral in ihnen erweckten und zu viel ausplauderten..

Gehört zu: Geschlechter und Neigungen im vormodernen Nahen Osten –1: Die Mädchen-Jungs des 8. Jahrhunderts. Die bache posh in Afghanistan
Geschlechter und Neigungen – 2a: Die Effeminierten im alten Medina
Geschlechter und Neigungen – 2b: Die Effeminierten im Hadith des Propheten
Geschlechter und Neigungen – 2c: Die khanīth, weibliche Männer in Oman
Geschlechter und Neigungen im vormodernen Nahen Osten – 3

ANMERKUNGEN
1. Aghānī ii:165 (die­ ältere Ausgabe@)
2. Aghānī ii:167
3. Die einzigen Namen, unter denen sie bekannt sind, sind weiblich anmutende Künstlernamen: Hīt, Ṭuwaiys („kleine Pfau“), ad-Dalāl („Koketterie“), Bard al-Fu’ād („Herzenskühle“), Naumat al-Ḍuḥā („Morgenschläfchen“), Qand („Zuckerl“), Raḥma („Barmherzigkeit“) und Hibat Allāh („Geschenk Gottes“).
4. Aghānī vii:118ff.; 128–33
5. Aghanī iv:59, 62, 64
6. Aghanī iv:281. (Neu)
7. Aghanī i: 95–97

BIBLIOGRAFIE
– Abū al-Faradj al-Iṣfahānī, Kitāb al-aghānī, 24 Bde., Kairo 1927–74.
– Everett K. Rowson, „The effeminates of early Medina,“ JAOS 1991, 671–93.
– H.G. Farmer/E. Neubauer, „Ṭuways,“ in EI2.
– A. Schaade/Ch. Pellat, „Djamīla,“‘ in EI2.

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Das islamische Bilderverbot

Sie sind wieder da: geköpfte Schaufensterpuppen in afghanischen Bekleidungsgeschäften (Abb.1). Aber nicht nur Frauenbilder schänden die an die Macht zurückgekehrten Taliban. Auch bei Männerbildern werden die Köpfe entfernt oder geschwärzt, etwa auf Werbeplakaten für Bodybuilding-Studios. Körperlichkeit an sich ist offenbar kein Problem, denn bis auf einen winzigen Slip sind solche Männer nackt – nur die Köpfe fehlen und somit das Leben.

Die Taliban wollen damit die strikte Einhaltung des vermeintlichen islamischen Bilderverbots demonstrieren.. Tatsächlich gab es in islamischen Umgebungen von alters her Vorbehalte gegen die Darstellung beseelter Lebewesen, insbesondere von Menschen. In sunnitischen Moscheen gelten solche Darstellungen bis heute als unerwünscht, und Porträts des Propheten Mohammed und seiner Gefährten sind auch außerhalb der Moschee problematisch, aber nicht ganz unmöglich. Die generelle Abneigung gegen alles Bildliche, sofern sie jemals existiert hat, ist nach der Erfindung der Fotografie jedoch fast widerstandslos abgeschafft worden; sogar die frommsten Prediger lassen sich ablichten (Abb. 2).  

Im Koran gibt es auch kein solches allgemeines Verbot. Zwar wettert die Schrift gegen Götzenbilder (tamāthīl), aber das ist noch kein generelles Bilderverbot. Gab es im 7. Jahrhundert überhaupt noch Götzenbilder? → Hawting ist der Meinung, dass es mit dem Heidentum in 5. Jahrhundert wohl getan war und → Crone hat gezeigt, dass Götzenbilder im Koran nur in historischen Kontexten vorkommen, zum Beispiel in den Erzählungen über Ibrāhīms Kampf gegen die Götzen.

Hadithe sind diejenigen Texte, in denen Bilder (ṣūra/ṣuwar/taṣāwīr, auch tamāthīl) verpönt werden, freilich oft nur bedingt. Eine Übersicht aller Texte zum Thema in vielen Hadith-Sammlungen bietet → Van Reenen, The ‚Bilderverbot‘. Er hat nicht weniger als 325 Hadithe zum Thema gesammelt und beispielhaft klassifiziert und analysiert. Darunter sind aber viele Dubletten und Varianten – letztlich handelt es sich um wenige Basistexte. Nachfolgend einige Beispiele, die ich jeweils in der kürzesten Fassung zitiere:

  • Der Prophet hat gesagt: Engel betreten kein Haus, in dem sich ein Hund oder eine bildliche Darstellung befindet.1

Die Erwähnung des Hundes macht deutlich, um was es hier geht: So ein Haus ist unrein, ungeeignet für das Gebet..

  • Aischa erzählte: Eines Tages, als ich einen Vorhang mit Darstellungen von Lebewesen (tamāthīl) vor eine Nische aufgehängt hatte, kehrte der Prophet von einer Reise zurück. Als er ihn sah, zerriss er ihn und sagte: „Diejenigen, die am Tag des Gerichts die schwerste Strafe bekommen, sind diejenigen die Gottes Schöpfung nachahmen!“ Wir machten daraus ein (oder zwei) Kissen.2

So musste das Gebet nicht vor solchen Abbildungen verrichtet werden und man konnte seine Verachtung dafür ausdrücken indem man sich darauf setzte.

  • Ich habe Mohammed sagen hören: Wer in dieser Welt ein Bild (ṣūra) macht, den wird am Jüngsten Tag beauftragt, ihm Leben einzuhauchen, und das wird er nicht können.3

Gemäß dem Koranver 59:24 ist nur Gott muṣawwir, also „derjenige, der ein Bild (ṣura) macht“. Auch hier ist der Punkt, dass der Mensch sich nicht anmaßen sollte, Gottes Schöpferkraft nachzueifern.
In einigen Hadithen wird auch berichte, dass der Prophet Bilder, die sich auf und in der Ka‘ba befanden, vernichten ließ. Manchen Texten zufolge durfte jedoch eine Madonna mit Kind verschont bleiben.4

Unter den ersten Kalifen gab es das Bilderverbot offensichtlich noch nicht. Münzen lügen nicht: Im westlichen Teil des arabischen Reiches wurden weiterhin römische Münzen mit Kaiserbild verwendet, manchmal sogar mit drei Kaisern. In Persien gab es persische Münzen mit Kaiserbild und auf dem Revers einem Feueraltar mit zwei Priestern. Bei Nachprägungen wurden Kreuze entfernt und islamische Formeln hinzugefügt, aber die Kaiserbilder wurden nicht entfernt. Kalif ‘Abd al-Malik (reg. 685–705) ließ als erster muslimischer Herrscher sich selbst auf seinen Münzen darstellen, mit Schwert und Peitsche, damit jeder wüsste, was für eine Art Herrscher er sei (Abb. 3). 696 ließ er aber Golddinare nur mit Texten prägen: Sie enthielten einen Koranvers, das Glaubensbekenntnis und eine Jahreszahl (Abb. 4). Woher dieser Sinneswandel kam ist unklar — war der Kalif vielleicht verärgert, weil der römische Kaiser Justinian II (reg. 685–695, 705–711) Münzen prägen ließ mit seinem eigenen Bildnis auf der einen und Jesus Christus mit dem Kreuz auf der anderen Seite (Abb. 5)? Und hatte Justinian das wirklich getan mit der Absicht, seinen arabischen Rivalen zu ärgern? Vielleicht spielte es mit, aber der Kaiser wird seine eigenen Gründe gehabt haben, sei es innenpolitische oder persönliche. Auch der Kalif kann seine eigenen Gründe gehabt haben für seine neue Münze: Die passte natürlich gut zu der Islamisierung, die er gerade in seinem Reich durchführte.

Viele der Hadithe entstanden in der Mitte des 8. Jahrhunderts, also in der heißen Phase des christlichen Bilderstreits. Aber die Bildlosigkeit des Islams ist älter. Sowohl im Felsendom in Jerusalem (692) als auch in der Großen Moschee von Damaskus (708–715) fehlen Abbildungen von Menschen oder Tieren gänzlich. Was hätte man auch abbilden können? Für die starken Symbolbilder des Christentums (Kreuz, Fisch, Gottesmutter, Apostel) hatte der Islam keine Entsprechungen.

Ob und wie das islamische Bilderverbot mit dem Bilderstreit in der oströmischen Staatskirche in Verbindung steht, bleibt unklar. Streitpunkt für die Kirche war die Frage, ob und wie die Verehrung von Ikonen in Gotteshäusern zulässig sei. Gar nicht, sagte Kaiser Leo III im Jahre 726. Der Staatsapparat und die Armee folgten ihm, während die Mönche und die einfachen Gläubigen die Verehrung der Ikonen verteidigten und weiterhin praktizierten. Der bekannte Kirchenvater Johannes von Damaskus (ca. 675–750), der in der Nähe von Jerusalem lebte, also mitten im arabischen Reich, verfasste drei Traktate zur Verteidigung der Ikonenverehrung.

Kaiser Leo ließ inzwischen Münzen mit nur Text prägen, was vermuten lässt, dass er ‘Abd al-Malik nacheiferte (Abb. 6). War das islamische Bilderverbot der Anlass für den christlichen Bilderstreit oder war es doch eher umgekehrt? So genau weiß es niemand, aber es ist klar, dass im Islam das Bilderverbot kein so wichtiges Thema war, während der christliche Bilderstreit dreißig Jahre lang die Gemüter erhitzte und im neunten Jahrhundert noch einmal aufflammte. Im Christentum haben am Ende die Ikonen gesiegt; im Islam eben nicht. 

Das Bilderverbot galt jedoch nur im religiösen Kontext und wurde nicht einmal von allen Schriftgelehrten vertreten. In den Jagdschlössern der Umayyaden-Kalifen befanden sich profane Bilder und Statuen, sogar von nackten und halbnackten Frauen (Abb. 7–8), und sie dürften auch sonst nicht gefehlt haben. Vereinfachend kann man sagen, dass an der Wand hängende oder hochstehende Bilder verboten sind, weil dann die Gefahr der Anbetung besteht; dass Bilder an öffentlichen Plätzen, wo gebetet wird, nicht erwünscht sind, da sie diese verunreinigen; und dass man an Gottes Stelle nichts schaffen wollen dürfe – was besonders die Bildhauerkunst verhinderte. Im privaten Bereich hingegen waren Abbildungen von Lebewesen normal.

Die Kirchen haben die bildenden Künste im Laufe der Jahrhunderte stark gefördert, aber die Moschee hatte keine solche Funktion. Auch die Fürstenhöfe bestellten keine großen bildlichen Werke. Soweit ein Mäzenatentum existierte, förderte es Architektur und Arabesken; ansonsten nur kleinformatige Arbeiten. Es gibt traditionell viele Tier- und Menschenbilder als Dekoration auf Geschirr, als Illustrationen in Biologie- und Geschichtsbüchern, auf Textilien und Papier, Porträts und Gruppenszenen, sogar mit dem Propheten (Abb. 9–11), unzählige Miniaturen in Büchern, Puppen für das Puppentheater und „Volkskunst“‘: Groschendrucke und Wandmalereien von der Pilgerreise nach Mekka. Je später, desto mehr bildende Kunst es gab, so scheint es; aber es kann auch sein, dass viel verloren gegangen ist. In späteren Jahrhunderten entstanden auch einzelne Malereien, vor allem in der Türkei, in Persien und Indien (Abb. 12–15).

Im 19. Jahrhundert ermöglichten die Lithographie und die Fotografie die Verbreitung von Bildern in großem Umfang. Die ältesten Fotos aus Konstantinopel und Kairo datieren von etwa 1850; die ersten Porträtfotos von der Arabischen Halbinsel von 1861. Von da an wollten alle geknipst werden und das Bilderverbot verschwand. Natürlich war es nötig, dies religiös zu begründen, aber das erwies sich als relativ leicht: Bei diesen neuen Bildern läge ja jeder Gedanke an Verehrung fern und etwas kreieren taten die Fotografen ohnehin nicht, wo die Kamera das eigentliche Werk tat und das Abgebildete nur „wiedergab“. Das Fernsehen nahm die letzten Hemmungen weg. Nur in schwer islamistischen Kreisen wird es noch durchgesetzt: bis vor kurzem bei extremen Wahhabis und jetzt wieder bei den Taliban.

ANMERKUNGEN
1. Bukhārī, Libās 88: قال النبي ص لا تدخل الملائكة بيتا فيه كلب ولا تصاوير (varianten: صور ، تماثيل )
2 Bukhārī, Libās 91: […] وعن عائشة ر قالت: قدم رسول الله ص من سفر وقد سترت بقرام لي على سهوة لي فيه تماثيل فلما رآه رسول الله ص هتكه وقال: أشد الناس عذابًا يوم القيامة الذين يضاهون بخلق الله. قالت: فجعلناه وسادة أو وسادتين.
3. Bukhārī, Libās 97: سمعت محمدا ص يقول : من صوّر صورة في الدنيا كُلّف يوم القيامة أن ينفخ فيها الروح وليس بنافخ.
4. Al-Azraqī, Akhbār Makka wa-mā djāʾa fīhā min al-āthār, Hrsg. Rushdī aṣ-Ṣāliḥ Malḥas, 2 dln., Madrid 1965, 165: لما كان يوم فتح مكة دخل رسول الله ص … وأمر بطمس تلك الصور فطمست. قال: ووضع كفيه على صورة عيسى بن مريم وأمه عليهما السلام. وقال: امحوا جميع الصور الا ما تحت يدي، فرفع يديه عن عيسى بن مريم وأمه Auch S. 168–169.

BIBLIOGRAFIE
– Patricia Crone, „The Religion of the Qurʾānic Pagans: God and the Lesser Deities,“ Arabica 57 (2010), 151–200.
– G. R Hawting, The Idea of Idolatry and the Emergence of Islam. From Polemic to History, Cambridge 1999.
– Silvia Naef, BIlder und Bilderverbot im Islam, München 2007. Das französische Original: Y a-t-il une «question de l’image» en Islam?, Paris 2004.
– Daan van Reenen, „The Bilderverbot, a new Survey,” Der Islam 67(1), (1990), 27–77.

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Die Ka‘ba zerstört, der Koran verschwunden

Kurz vor dem Jüngsten Tag, also demnächst, werden nach sowohl christlichen wie auch islamischen Überlieferungen furchterregende Geschöpfe erscheinen, die der Menschheit das Leben schier unerträglich machen und Weh über die Erde verbreiten. Bei den Christen ist die Hauptfigur der Antichrist, bei den Muslimen der daǧǧāl, ebenfalls eine Art Antichrist.1 Aber Muslime kennen noch andere Endzeitgestalten: den Qaḥtānī, den Sufyanī und Ḏū as-Suwaiqatain. Überdies brechen zwei gewalttätige Völker los: Gog und Magog (Arabisch: Yāǧūǧ und Māǧūǧ) sowie ein Tier aus der Erde, und es ereignen sich Naturkatastrophen. Nach beiden Religionen wird dieser Schreckensperiode von dem wiederkehrenden, triumphierenden Jesus ein Ende gesetzt, und im Islam dazu noch von dem Mahdi. Es sind alte Prophezeiungen, die in Perioden der Ruhe und Wohlfahrt niemanden interessieren, aber in harten Zeiten immer wieder Menschen beängstigen.

Die wohl am wenigsten bekannte arabische Endzeitgestalt ist Ḏū as-Suwaiqatain, „der Dünnbeinige,“ der die Ka‘ba zerstören wird. Hier folgen zwei Hadithe zum Thema, überliefert von Bukhārī (810–870) bzw. Aḥmad ibn Ḥanbal (780–855):

  • Von ‘Abdallāh ibn ‘Umar: Ich habe den Propheten sagen hören: „Die Ka‘ba wird von Ḏū as-Suwaiqatain aus Äthiopien zerstört, der sie ihres Zierrats (ḥilya)2 beraubt und ihr die Hülle abzieht. Es ist, als ob ich ihn vor mir sehe: ein glatzköpfiges, krummbeiniges Männchen; er schlägt mit seiner Schaufel und seiner Spitzhacke darauf.“3
  • In einem Hadith des Hudaifa ibn al-Yaman heißt es: „Es ist, als ob ich einen Äthiopier vor mir sehe, mit roten Beinen und blauen Augen, mit einer platten Nase und einem dicken Bauch. Er hat seine Füße parallel auf die Ka‘ba gesetzt; er und einige Kumpane von ihm reißen sie Stein nach Stein ab und reichen einander die Steine weiter, die sie letztendlich ins Meer werfen.“4

Ein komischer Mensch ist das: Rote Beine und blaue Augen sind in Äthiopien rar, und dicke Bäuche ebenfalls. Aber „Äthiopisch“ steht im Hadith meist stellvertretend für „christlich“.5 Die Gefahr für die Ka‘ba kommt aus christlicher Ecke. Einer berühmten Erzählung zufolge versuchte Abraha, in vorislamischer Zeit der äthiopische Herrscher des Jemen, mit seinem Kriegselefanten Mekka zu erobern. Das sei durch göttliches Eingreifen misslungen, aber am Ende der Zeiten lasse Gott dann zu, dass Äthiopier das tun, was sie anscheinend schon immer tun wollten: die Ka‘ba abreißen. 

Was ist das mit den Beinen? Ḏū as-Suwaiqatain bedeutet wörtlich „der mit kleinen Unterschenkel/Beinen“. Eine Anzahl Araber, denen ich das Wort vorgelegt habe, deutete es spontan wie ich selbst: „kurze Beinchen“. Der Kommentator an-Nawawī (1234–77) ist aber der Auffassung, dass dünne Beine gemeint sind. Er fügt hinzu: „Von den Schwarzen ist bekannt, dass sie dünne Beine haben.“ Dem kann man beipflichten, insoweit es die Ureinwohner Nordostafrikas betrifft, die tatsächlich oft von schlanker und ranker Gestalt sind. Und die alte arabische Poesie beweist, dass er Recht hat.

Einige Klarheit über diese merkwürdige Gestalt gab mir nämlich die Lektüre von Manfred →Ullmann, Der Neger. Ullmann hat Hunderte alte arabische Verse gesammelt, in denen ein Ding, Tier oder Mensch mit einem Äthiopier oder einem anderem schwarzem Menschen verglichen wird. In etwa zwanzig Gedichtfragmenten wird ein Vogel Strauß mit einem Äthiopier oder einem Inder verglichen (S. 30–44). Die gemeinsame Eigenschaft, auf der das Vergleichen beruht, ist meistens das Schwarz der Haut und der Flügel und Deckfedern, aber es können auch die ranken Beine sein.
Ullmann zitiert S. 30 zum Beispiel ein Fragment des vorislamischen Dichters Ṣalā’a ibn ‘Amr, auch genannt al-Afwah al-Audī (gest. 570?). In seiner Übersetzung lautet es:

  • Ein [Straußenhahn] mit rotgefärbten Beinen […] Er gleicht einem schwarzen Abessinier mit dünnen Schenkeln, dem schwarze, unverständlich plappernde [Kinder] folgen, die Ringe in den Ohren haben.6

Nach der Lektüre dieses Verses wird der Hadith von Hudaifa verständlicher: Der Erzähler wollte wohl einen Äthiopier beschreiben, aber dann kam ihm der aus der Poesie bekannte Vergleich mit dem Strauß in den Sinn, schwarz und mit roten Beinen, der mit ihm durchging: Sowohl Strauße als auch Äthiopier sind ja für ihre dünnen Beine bekannt. Und während der Balz werden die Beine mancher Straußenarten tatsächlich rot! Der „dicke Bauch“ ähnelt natürlich dem dicken, dunklen Straußkörper, der mit seinen dünnen Beinen kontrastiert. Im Hadith wird nicht der Vogel Strauß mit einem Äthiopier verglichen, wie in der Poesie, sondern umgekehrt.

Auch zu seinen blauen Augen gibt es einiges zu sagen. Das hier oben ist einfach eine falsche, oberflächliche Übersetzung von mir, die sicherlich auch viele Kollegen machen würden. Azraq bedeutet heutzutage zwar ‘blau’, aber bei Farben in alten Texten empfiehlt es sich, in Wolfdietrich →Fischers Studie zu den altarabischen Farbbezeichnungen einzutauchen. Ullmann und Fischer haben beide monumentale Beiträge zur Kenntnis des alten Arabisch geleistet, die leider von modernen Arabisten zu wenig konsultiert werden. Zu azraq bietet Fischer nicht weniger als acht Seiten (S. 47–55). Daraus wird bald ersichtlich, dass die Augen des Ka‘ba-Zerstörers ganz und gar nicht blau sind. Im alten Arabisch bedeutete azraq etwas wie „schillernd, glitzernd, changeant“; man denke an die schillernden oder flackernden Augen eines Raubtiers. Und diese furchterregende Augen hat der Erzähler wohl von der anderen Endzeitfigur, dem Antichrist (daǧǧāl) geborgt, der genau solche hat.  

Im ersten zitierten Hadith ist Ḏū as-Suwaiqatain „glatzköpfig, krummbeinig“. Damit weiß ich nicht viel anzufangen. Vielleicht will damit nur gesagt sein, dass er äußerst hässlich ist?

Die Ka‘ba wird also zerstört, aber es kommt noch schlimmer: Auch den Koran wird es in der Endzeit nicht mehr geben, nach einem Hadith, der von ad-Darimi (797–869) überliefert wird:

  • Von Abdallah ibn Mas‘ud: „Rezitiert den Koran oft, bevor er weggenommen wird.“ Es wurde gesagt: „Diese Bücher werden also weggenommen werden! Aber was is mit dem, was in den Herzen der Menschen [auswendig gelernt] ist?“ Er antwortete: „Eines Nachts wird etwas kommen und es wegnehmen und am Morgen werden sie ohne es aufwachen. Sie werden sogar den Satz: ‘Es gibt keinen Gott außer Allah’ vergessen und sie werden anfangen, die Sprüche und Dichtung der Heidenzeit zu rezitieren. Das ist, wenn das Urteil über sie ergeht (Koran 27:82).“7

Warum wurden solche Texte erzählt? Um die Gläubigen erschaudern zu lassen und sie zu ermutigen, auf das Jüngste Gericht vorbereitet zu sein, indem sie ihren Glaube pflegen: zu pilgern und den Koran zu rezitieren so lange es noch geht. Das Urteil steht ja bevor! So man will, kann man auch Trost daraus schöpfen. Wie schlimm die Zeiten auch sein mögen, noch sind die Ka‘ba und den Koran vorhanden.

BIBLIOGRAPHIE
– Wolfdietrich Fischer, Farb- und Formbezeichnungen in der Sprache der altarabischen Dichtung. Untersuchungen zur Wortbedeutung und zur Wortbildung, Wiesbaden 1965.
– Manfred Ullmann, Der Neger in der Bildersprache der arabischen Dichter, Wiesbaden 1998.

ANMERKUNGEN
1. Er stammt aus der Bibel, Matthäus 24:24. In der syrischen Übersetzung: mesīḥē daggālē, „falsche Messiasse“. Auch im Arabischen kommt die Wortkombination al-masīḥ ad-daǧǧāl häufig vor. Zu unterscheiden sind: der „normale“ daǧǧāl, der auf einer Insel im Westen festgebundene daǧǧāl, und Ibn Ṣayyād. Zum Letzteren s. Wim Raven, „Ibn Ṣayyād as an Islamic ‘Antichrist’. A reappraisal of the texts,“ in Wolfram Brandes und Felicitas Schmieder (hrsg.), Endzeiten. Eschatologie in den monotheistischen Weltreligionen, Berlin 2008, S. 261–291; hier herunterzuladen. Zu anderen daǧǧāl-Varianten s. David Cook, Studies in Muslim Apocalyptic, Princeton (NJ) 2002.
2. Textvariante: „ihrem Schatz (kanz)“. Was hierunter zu verstehen ist, ist fraglich. In unserer Zeit ist die Ka‘ba leer.
3. Aḥmad ibn Ḥanbal, Musnad ii, 220:

حدثنا عبد الله حدثني أبي ثنا أحمد بن عبد الملك وهو الحراني ثنا محمد بن سلمة عم محمد بن إسحق عن ابن أبي نجيح عن مجاهد عن عبد الله بن عمر، وقال سمعت رسول الله ص يقول: يخرب الكعبة ذو السويقتين من الحبشة ويسلبها حليتها، ويجرّدها من كسوتها، ولكأني أنظر إليه أصيلع أفيدع يضرب عليها بمسحاته ومعوله.

4. Al-Qasṭallānī, Irshād al-Sarī fī Sharḥ al-Bukhārī, dl. iii, Bulaaq 1304, p. 161::

كما ورد في حديث حذيفة مرفوعًا، كأني أنظر الى حبشي أحمر الساقين أزرق العينين أفطس الأنف كبير البطن وقد صف قدميه على الكعبة هو وأصحاب له ينقضونه حجرًا حجرًا يتداولونها حتى يطرحرها في البحر.

5. Wim Raven, „Some early Islamic texts on the negus of Abyssinia,“ JSS 33 (1988), 197–218, insbes. S. 216–18; hier herunterzuladen.

6. خَاضِبٌ … كَالأسْوَدِ الحَبَشِيِّ الحَمْشِ يَتْبَعَهُ سُودٌ طَمَاطِمُ فِي آذَانِهَا

7. Al-Dārimī, Sunan, Faḍā’il al-Qur‘ān 4:

عَبْدِ اللَّهِ بن مسعود قَالَ : ” أَكْثِرُوا تِلاوَةَ الْقُرْآنِ قَبْلَ أَنْ يُرْفَعَ ” قَالُوا : هَذِهِ الْمَصَاحِفُ تُرْفَعُ ! فَكَيْفَ بِمَا فِي صُدُورِ الرِّجَالِ ؟ قَالَ : ” يُسْرَى عَلَيْهِ لَيْلا فَيُصْبِحُونَ مِنْهُ فُقَرَاءَ ، وَيَنْسَوْنَ قَوْلَ لا إِلَهَ إِلا اللَّهُ“، وَيَقَعُونَ فِي قَوْلِ الْجَاهِلِيَّةِ وَأَشْعَارِهِمْ ، وَذَلِكَ حِينَ يَقَعُ عَلَيْهِمْ الْقَوْلُ

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Islamische Verkündigung

Nicht nur die Geburt Jesu wurde seiner Mutter verkündet, auch die des Mohammeds. So will es wenigstens ein kurzer, schwer datierbarer Text (zwischen 650-750 AD):

  • Die Menschen erzählen—und nur Gott weiß, was wahr ist—dass Āmina, die Mutter des Propheten, erzählt hat, während ihrer Schwangerschaft sei [eine Stimme?] zu ihr gekommen, die gesprochen habe: „Du bist schwanger mit dem Herrn dieses Volkes. Wenn er geboren wird, sag dann: ‘Lass den Einzigen ihn behüten vor dem Übel eines jeden Neiders,‘ und nenne ihn Mohammed.“ Als sie schwanger mit ihm gewesen sei, habe sie gesehen, wie ein Licht von ihr ausgegangen sei, in dem sie die Festungen von Busrā in Syrien habe sehen können.1

War es ein Engel, der zu Āmina kam? Wir wissen es nicht. Im Arabischen stehen hier passive Verbalformen: „Es wurde zu ihr gekommen … ihr wurde gesagt.“ Wer oder was das tat, bleibt ungesagt. 
Das Licht, durch das Festungen sichtbar wurden, die sich mehr als tausend Kilometer von Mekka befanden, ist das wundersame, von Ewigkeit an existierende „Licht Mohammeds“ (nūr Muhammad). In Busrā fing das Römerreich an. Die Āmina zugeschriebene Aussage verweist auf die künftige Eroberung dieses Reiches. Die Beschwörungsformel, die sie aussprechen soll, erinnert an die Suren 113 und 114 im Koran. Die beiden Suren (al-mu‘awwidhātān) schützen vor dem Bösen.

Überdies fällt die Übereinstimmung mit der biblischen Verkündigung ins Auge. Im Lukasevangelium bekommt der Vater von Johannes dem Täufer Besuch des Engels Gabriel, der dem Kind eine große Zukunft weissagt und sagt, dass er Johannes heißen solle. Auch die Mutter Jesu bekommt kurz vor ihrer Schwangerschaft Besuch von ihm. Zu ihr sagt der Engel:

  • Sei gegrüßt, Begnadigte! Der Herr [ist] mit dir. […] Fürchte dich nicht, Maria! Denn du hast Gnade bei Gott gefunden. Und siehe, du wirst schwanger werden und einen Sohn gebären, und du sollst ihm seinen Namen Jesus nennen. Dieser wird groß sein und Sohn des Höchsten genannt werden […].2

Die Verkündigungen an Āmina und an Maria haben einiges gemeinsam: 1. Besuch einer Stimme(?), bzw. eines Engels. 2. Verkündigung der Geburt eines großen Mannes. 3. Auftrag zur Namensgebung. 

Kurzum, die arabische Erzählung bedient sich nicht nur des Korans, sondern auch der biblischen oder einer sehr verwandten Erzählung. Sie tut das, weil sie in einer Umgebung entstanden ist, in der der neue Prophet Mohammed sich gegenüber den längst existierenden „Propheten“ der Juden und Christen durchsetzen musste. Sie versucht eine christliche Verkündigung durch eine islamische zu ersetzen.

ANMERKUNGEN
1. Ibn Isḥāq: Das Leben Muhammed’s nach Muhammed Ibn Ishâk bearbeitet von Abd el-Malik Ibn Hischâm, hg. F. Wüstenfeld, Göttingen 1858–60, 102. Übers. G. Rotter: Ibn Isḥāq, Das Leben des Propheten, Kandern 1999, 30. ويزعمون – فيما يتحدث الناس والله أعلم – أن آمنة بنت وهب أم رسول الله ص كانت تحدث أنها أتيت، حين حملت برسول الله ص فقيل لها: أنك قد حملت بسيد هذه الأمة، فإذا وقع إلي الأرض فقولي: أعيذه بالواحد من شر كل حاسد ثم سمّيه محمدًا. ورأت حين حملت به أنه خرج منها نور رأت به قصور بُصْرى من أرض الشأم.
2. Bibel, Lukas 1:26–38.

Diakritische Zeichen: Buṣrā, nūr Muḥammad, al-muʿawwiḏātān

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Ansteckung: Widersprach sich der Prophet? – Fortsetzung

🇳🇱 Wie dargelegt auf S. 1 gefiel mir der Artikel von Butt & Shah zur Ansteckung im Hadith des Propheten ganz und gar nicht. Wie lese ich dann die von ihnen behandelten Texte?
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Meine Voraussetzungen bei der Lektüre von Hadithen sind folgende:
1. Die Aussagen des Propheten und Berichte über seine Verrichtungen stammen gemeinhin nicht von ihm, sondern von Gläubigen, die mindestens ein halbes, aber meistens ein oder zwei Jahrhunderte später lebten. Bestimmt gibt es auch Aussagen, die tatsächlich vom Propheten stammen, aber welche das sind, ist nicht herauszufinden und ich lasse mich davon nicht um den Schlaf bringen.
2. Die dem Propheten zugeschriebenen Aussagen enthalten Widersprüche. Die sollten nicht weggeschafft, sondern vielmehr geschätzt werden, weil sie zeigen, über welche Themen und Probleme die Gläubigen in den ersten Jahrhunderten des Islam diskutierten und wie sich ihre Diskussionen entwickelten.
2. Die islamische Hadithwissenschaft (‘ilm al-ridjāl), die ihre Blütezeit hatte zwischen ca. 770 und 1500, war damals sehr beeindruckend, aber heute nicht länger überzeugend. Die Behauptungen in den Quellen sind leicht zu entkräften, die Isnāde sind oft nachweisbar fiktiv.
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Die Zielsetzungen von Butt & Shah sind offenbar: festzustellen welche Hadithe korrekt überliefert sind und somit von Gläubigen als Grundlage für ihr Leben und Denken zu akzeptieren sind. Des Weiteren für die Zweifler nachzuweisen, dass der Prophet sich nicht widersprach. Und in diesem spezifischem Fall: nachzuweisen, dass es zwar Ansteckung gibt, aber dass die von Gott kontrolliert und gesteuert wird..
Mein Ziel ist vielmehr, für mein eigenes Vergnügen eine Anzahl spannende und manchmal raffinierte Texte in ihrem Zusammenhang zu lesen und nebenbei anhand der geführten Diskussionen die Entwicklung des Islams zu verfolgen. Keine Religion, keine Theologie, sondern Religionsgeschichte und -phänomenologie.
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Die meisten Hadithe, die Butt & Shah behandeln, habe ich neu übersetzt. Überdies habe ich noch einige Parallele und Varianten dazu gesammelt. Ideal wäre es, alle Hadithe zum Thema zu sammeln und mit einander zu vergleichen. Das wäre mir jetzt zu viel Arbeit, aber einige Hadithe drum herum lesen hilft bereits um besser zu verstehen was Sache ist.

Es gibt keine Ansteckung 

Essen mit Aussätzigen
Wenn es keine Ansteckung gibt, muss man Körperkontakt nicht fürchten. Ein Hadith erzählt, dass der Prophet mit einem Aussätzigen aß:

  • T1. Der Prophet nahm einmal die Hand eines Aussätzigen und tauchte die zusammen mit der seinigen in die Schüssel. Er sagte: „Iss in Vertrauen auf Gott und setze deine Hoffnung auf Ihn!“1

Butt & Shah haben noch einige Texte gefunden, die erzählen, wie bekannte Gefährten des Propheten ausdrücklich mit Aussätzigen aßen. Manchmal wurde sogar extra eine Mahlzeit mit ihnen organisiert.2 Auch Abū Bakr soll mit Aussätzigen gegessen haben.3 Abū Bakrs Tochter Aischa, die Frau des Propheten, trieb es arg bunt: sie soll einen aussätzigen Sklaven gehabt haben, der von ihrem Teller aß, aus ihrem Becher trank und oft auf ihrer Schlafmatte schlief—wobei sie sich um Ansteckung selbstverständlich nicht scherte.4
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Die generelle Verneinung: „Es gibt keine Ansteckung.“
Die Existenz einer Sache kann im Arabischen verneint werden durch die Negation , gefolgt durch ein Substantiv im Akkusativ. Lā ilāha, „Es gibt keinen Gott, lā adwā, „Es gibt keine Ansteckung. Eine Ausnahme kann mit Hilfe des Wörtchen illā, „außer“ formuliert werden, gefolgt durch das Ausgenommene, z.B.: Lā ilāha illā allāh, „Es gibt keinen Gott außer Allāh. Shah & Butt zitieren Autoren, die bei der Aussage „Es gibt keine Ansteckungdas Ausgenommene nur hinzudenken, und zwar: „Es gibt keine Ansteckung außer durch Aussatz, bars und andere Krankheiten.“ Dieses „Hinzudenken“ akzeptiere ich nicht. Das Ausgenommene soll in der Aussage explizit genannt werden, sonst gilt es nicht.

Es gibt einige Hadithe, in denen die Aussage lā ‘adwā separat vorkommt. Es kommt z.B. ein Bettler zum Propheten und der jagt ihn nicht weg, sondern gibt ihm etwas, wobei er sagt: „Es gibt keine Ansteckung“.5 Ein anderer Text handelt vom Kauf einer Anzahl Kamele, die sich als räudig herausstellen; eine der Parteien zitiert dann dasselbe Prophetenwort.6
Aber viel öfter wird die Ansteckung in einer Auflistung von drei oder vier Sachen geleugnet.

  • T2. Der Prophet hat gesagt: „Es gibt keine Ansteckung, keine Vogelschau und keinen Wüstendämon.“7
    T3. Der Prophet hat gesagt: „Es gibt keine Ansteckung, keine Vogelschau, keinen Seelenvogel und keinen Wurm in Bauch.“ 8
    T4. Der Prophet hat gesagt: „Es gibt keine Ansteckung, keinen Seelenvogel, kein Unwetter verursacht durch einen Stern und keinen Wurm in Bauch.“9

Was wird hier alles verneint?
Vogelschau, ṭiyara, die Deutung der göttlichen Zeichen anhand des Vogelflugs.
Ein Wüstendämon, ghūl, so glaubte man, belästigte und bedrohte Reisende in der Wüste; er konnte unterschiedliche Gestalten annehmen.
Der Seelenvogel, hāmma, war die Eule, in der man glaubte, dass die Seele eines Verstorbenen wohnte. Nein, sagt ein anderer Hadith: wenn man eine Eule schreien hört, ist das kein Mensch, sondern nur ein Tier.
Der ṣafar war ein bösartiger Wurm im Bauch. Dass es auch einen Monat gibt, der Ṣafar heißt, ist hier nicht relevant.
Der naw’ war ein Unwetter, von dem man glaubte, dass es durch den Aufgang eines bestimmten Sterns verursacht wurde.
Es sind alles Sachen und Glaubensvorstellungen aus vorislamischer Zeit, die durch den Islam abgeschafft oder verblasst sind. Indem man Ansteckung in solche Auflistungen platzierte, wollte man glaubwürdig machen, dass auch (der Glauben an) Ansteckung ein rückständiger Aberglauben sei und nicht länger zeitgemäß. Hier waren raffinierte Theologen am Werk! In Wirklichkeit ist die Debatte über die Ansteckung deutlich islamisch. Sie ist ein Teil einer großen Diskussion; s. dazu unten.

Ansteckung gibt es durchaus

In einigen Hadithen lässt man den Propheten oder einen seiner Gefährten Distanz zu Aussätzigen wahren, offenbar wegen der Ansteckungsgefahr.

Abstand halten von Aussätzigen

  • T5. ‘Umar sagte zu Mu‘ayqīb al-Dausī: „Komm näher, aber wenn es jemand anders als du gewesen wäre, hätte er eine Speerlänge von mir entfernt sitzen müssen.“ Er war aussätzig.10

Schaut nicht lange auf Aussätzige
Einen Aussätzigen sehen ist nicht immer vermeidbar, aber man soll schnell den Blick abwenden. Aus Rücksicht auf den Kranken? Wohl eher aus Angst vor dem bösen Auge. Eine bekannte Aussage des Prophet is ja: „Das böse Auge gibt es wirklich.“

  • T6. Der Prophet hat gesagt: „Schaut nicht lange auf Aussätzige!“ 11
    T7. Der Prophet hat gesagt: „Schaut nicht lange auf Aussätzige und wenn ihr mit ihnen spricht, lasst dann eine Speerlänge Abstand zwischen euch und ihnen.“ 12

Die beschleunigte Treuegelübde
Der Prophet empfing Delegationen aus den arabischen Stämmen, die zu ihm kamen um ihm Treue zu geloben. In einer Delegation soll ein Aussätzige gewesen sein, den der Prophet ungerne in seiner Nähe hatte. 

  • T8. In der Delegation der Thaqīf war ein Aussätziger. Der Prophet sandte ihm folgende Botschaft: „Geh zurück; wir haben deinen Treueid hiermit angenommen.“ 13

Fliehe vor einem Aussätzigen
Für regelrechte Panik wird manchmal auch Raum gelassen:

  • T9. Ich haben den Propheten sagen hören: „Fliehe vor einem Aussätzigen wie vor einem Löwen!“ 14

Räude
Auch bei Tieren ist Ansteckung bekannt:

  • T10. Der Prophet hat gesagt: „Gesunde und kranke Tiere soll man nicht zusammen trinken lassen.“ 15

Es gibt keine Ansteckung, oder doch, oder doch nicht

Oft ist zu beobachten, dass ein Hadith einen früheren Hadith wieder aufnimmt, aber um einiges beschneidet oder umändert, oder dass etwas hinzugefügt wird.16 Manche Texte wollen z.B. die Abschaffung der Vogelschau etwas nuancieren:

  • T11. Der Prophet hat gesagt: „Es gibt keine Ansteckung und keine Vogelschau, aber eine günstige Vorhersage/ein gutes Wort habe ich gerne.“ 17

Oder man rettete mittels eines Hadith eine vorislamische Überzeugung hinüber in die Zukunft.

  • T12. Der Prophet hat gesagt: „Es gibt keine Ansteckung und keine Vogelschau, aber das böse Auge gibt es wirklich.“ 18

Oder man nuanciert in die andere Richtung: In manchen Bereichen sind düstere Vorhersagen durchaus berechtigt:

  • T13. Der Prophet hat gesagt: „Es gibt keine Ansteckung und keine Vogelschau, aber böses Glück kommt bei drei Sachen vor: die Frau, das Haus und das Reittier.“ 19

Beim Thema Ansteckung ist noch etwas anderes los. Hier findet mittels Hadithe eine heftige Diskussion statt: Es gibt sowohl Pro-Hadithe wie auch Kontra-Hadithe.
Es gibt hier aber auch Hadithe, in denen die Diskussion innerhalb eines Hadiths stattfindet, indem er seine eigenen Hauptaussage kannibalisiert, zu leugnen versucht oder den Tenor umdreht. Einen existierenden Hadith konnte man nicht ignorieren: er war ja ein Wort des Propheten. Man behält ihn also bei, aber fügt etwas hinzu oder bastelt daran herum. Beim Thema Ansteckung ist das des Öfteren gemacht worden, z. B. in:

  • T14. Abū Huraira: Der Prophet hat gesagt: „Es gibt keine Ansteckung und keine Vogelschau, keinen Seelenvogel und keinen Wurm im Bauch, aber vor einem Aussätzigen sollst du fliehen wie vor einem Löwe!“ 20

Den ersten Teil des Hadith war bereits vorbeigekommen in T2–T4, aber der hinzugefügte Satz dreht den Tenor um: Keine Ansteckung, aber siehe zu, dass du davon kommst! So einen Text hatte Ibn Qutaiba vielleicht im Kopf, als er versuchte darzulegen, dass Ansteckung keine Ansteckung ist.21

An T3 ist eine kleine Diskussion hinzugefügt, wobei die Theologie in zweiter Instanz die realistische Sichtweise einfach einverleibt:

  • T15. Abū Huraira: Der Prophet hat gesagt: „Es gibt keine Ansteckung, keine Vogelschau, keinen Wurm im Bauch und keinen Seelenvogel.“ Es stand ein Beduine auf, der fragte: „Wie ist es denn mit Kamelen, die im Sand so prächtig aussehen wie Gazellen, und wenn ein räudiges Kamel dazu kommt, bekommen sie auch die Räude?“ Darauf sagte der Prophet: „Aber wer hat dann das erste angesteckt?“ 22

Im folgenden Text findet die Diskussion nicht im Text des Hadiths statt, sondern im isnād, so dass der Prophet außen vor bleibt:

  • T16. Abū Salama ibn ‘Abd al-Rahman ibn ‘Auf: Der Prophet hat gesagt: „Es gibt keine Ansteckung,“ aber er überliefert auch: Der Prophet hat gesagt: „Gesunde und kranke Tiere soll man nicht zusammen trinken lassen.“
    Abū Salama sagte: Abū Huraira hat uns beide Hadithe vom Propheten überliefert. Später hat er uns aber verschwiegen, dass der Prophet gesagt hat: „Es gibt keine Ansteckung“ und er blieb bei: „Gesunde und kranke Tiere soll man nicht zusammen trinken lassen.“
    Al-Hārith ibn Abī Dhubāb—das ist der Neffe Abū Hurairas—sagte: Ich habe dich schon noch einen anderen Hadith überliefern hören, Abū Huraira, aber den verschweigst du jetzt! Du hast auch erzählt, dass der Prophet gesagt hat: „Es gibt keine Ansteckung!“ Aber Abū Huraira weigerte sich das zuzugeben und sagte: „… nicht zusammen trinken lassen“.
    Al-Hārith drängte so lange, bis Abū Huraira sich erboste, Äthiopisch zu brabbeln anfing und sagte: Weißt du, was ich sage? Ich sage: Auf gar keinen Fall!
    Abū Salama hat gesagt: Bei meinem Leben, Abū Huraira hatte uns sehr wohl überliefert, dass der Prophet gesagt hat: „Es gibt keine Ansteckung!“ Ich weiß nicht, ob Abū Huraira dies vergessen hatte oder ob der eine Hadith den anderen abgeschafft hat.23

Ansteckung und Theologie

Die obigen Hadithe sind nach ihrem Tenor geordnet worden. Ein Datierungsversuch mit Hilfe der isnāde habe ich unterlassen. Trotzdem widerspiegelt diese Ordnung, wie ich hoffe, ihre Entstehungsgeschichte.
Dass bestimmte Krankheiten durch Ansteckung übertragen werden, war seit Menschengedenken bekannt. Bereits im Alten Testament werden Aussätzige aus der Gemeinschaft ausgestoßen. Im 6. und 7. Jahrhundert wütete die Pest im Nahen Osten. Wie diese Krankheit genau übertragen wird, wusste man nicht, aber dass sie ansteckend ist, wusste man durchaus! Viehzüchter beobachteten überdies, dass räudige Tiere gesunde Tiere anstecken.
Ansteckung wäre vielleicht nie Gesprächsthema geworden, wenn nicht Theologen deren Existenz geleugnet hätten. Dem Leugnern zufolge ist es Gott, der in jedem Einzelfall bestimmt, ob jemand krank wird oder nicht. Mit Schwangerschaft ist das genau so: Coitus interruptus ist nicht nötig, denn es ist Gott, der bestimmt, ob eine Frau schwanger wird oder nicht.23
Diejenigen, die die Ansteckung anerkannten, mussten sich darauf zur Wehr setzen. Das Phänomen wurde Gegenstand einer kleinen, aber ziemlich erhitzten Debatte zwischen Leugner und Realisten, die durch Hadithe und in Hadithen ausgetragen wurde. Beide Parteien schrieben ja ihre Auffassung dem Propheten zu.
Die Debatte war Teil der viel umfassenderen Diskussion zum freien Willen und dem Ratschluss Gottes, die von ca. 690–800 die Gemüter der islamischen Theologen beschäftigt hat. Es ist nicht die einzige Debatte, die man in der Hadithliteratur entdecken kann.

ANMERKUNGEN
1. Abū Dāwūd, Ṭibb, 24/3925; Tirmidhī, Aṭ‘ima 19a; Ibn Mādja, Ṭibb 44/3542: أن رسول الله ص أخذ بيد مجذوم فوضعها معه في القصعة وقال: كل ثقةً بالله وتوكلا عليه.
2. Butt & Shah, Concept 62.
3. ‘Abd al-Razzāq al-Ṣan‘ānī, Muṣannaf 19509 عن معمر أن أبا بكر كان يأكل مع الأجذم.
4. Ṭabarī, Tahdhīb al-āthār, zitiert bei Butt & Shah, Concept 62-63.
5. ‘Abd ar-Razzāq aṣ-Ṣan‘ānī, Muṣannaf 19511: عبد الرزاق عن معمر قال: بلغني أن رجلا أجذم أتى النبي ص كأنه سائلا فلم يعجله و جهّزه النبي ص وقال: لا عدوى
6. Ḥumaydi, Musnad 706; Bukhārī, Buyū‘ 36; Aḥmad ibn Ḥanbal, Musnad ii, 455, 531.
7. Muslim, Salām 107–109, vgl. Aḥmad ibn Ḥanbal Musnad iii, 293, 312, 382: عن جابر قال: قال رسول الله ص: لا عدوى ولا طيرة ولا غول.
8. Ibn Mādja, Ṭibb 43/3539 .عن ابن عباس أن نبي الله ص قال: لا عدوى ولا طيرة ولا هامة ولا صفر In anderen Kombinationen: Bukhārī, Ṭibb 45; Aḥmad ibn Ḥanbal, Musnad ii, 450 u.a.
9. Muslim, Salām 106; Abū Dāwūd, Ṭibb 24/3912: أبي هريرة أن رسول الله ص قال: لا عدوى ولا هامة ولا نَوْء ولا صفر
10. ‘Abd ar-Razzāq aṣ-Ṣan‘ānī, Muṣannaf 19510: أن عمر بن الخطاب قال لمعيقيب الدوسي: ادنُ فلو كان غيرك ما قعد مني الا كقيد رمح، وكان أجذم.
11. Aḥmad ibn Ḥanbal, Musnad i, 233, Var. 299; Ibn Mādja, Ṭibb 44/3543:
سمعت ابن عباس يقول قال رسول الله ص: لا تديموا الى المجذومين النظر
12. Aḥmad ibn Ḥanbal, Musnad i, 78: حسين عن أبيه قال رسول الله ص: لا تديموا الى المجذومين النظر وإذا كلمتموهم فليكن بينكم وبينهم قيد رمح.
13. Ibn Mādja, Ṭibb 44/3544, Aḥmad ibn Ḥanbal, Musnad iv, 390 رجل من آل شريد يقال له عمرو عن أبيه قال : كان في وفد ثقيف رجل مجذوم، فأرسل إليه النبي ص: ارجع فقد بايعناك; Muslim, Salām 126: عمرو بن الشريد عن أبيه قال: كان في وفد ثقيف رجل مجذوم، فأرسل إليه النبي ص: بايعناك فارجع; Aḥmad ibn Ḥanbal, Musnad iv, 389: عمرو بن الشريد عن أبيه قال قدم على النبي ص رجل مجذوم من ثقيف ليبايعه فأتيت النبي ص فذكرت ذلك فقال ائته فأخبره أني قد بايعته فليرجع. Die Delegation empfang der Prophet kurz vor seinem Tod. Je später im Leben des Propheten eine Aussage oder Handlung von ihm platziert wird, um so weniger wahrscheinlich ist es, das er diese noch „abgeschafft“ (naskh) hätte, d.h. ungültig gemacht durch eine neue Aussage oder Handlung.
14. Aḥmad ibn Ḥanbal, Musnad ii, 443; Var. ‘Abd ar-Razzāq aṣ-Ṣan‘ānī, Muṣannaf 19508: سمعت رسول الله ص يقول: فر من المجذون فرارك من الأسد
15. Aḥmad ibn Ḥanbal, Musnad ii, 406, 434: قال رسول الله ص: لا يورد الممرض على المصح; Mālik, ‘Ayn 18 ابن عطية أن رسول الله ص قال: لا عدوى ولا هام ولا صفرولا يحُل المُمرض على المُصح وليحلُلْ المصح حيث شاء. فقالوا: يا رسول الله وما ذاك؟ فقال رسول الله ص: إنّه أدَّىل
16. Beispiele auch im Text über Frauen in der Moschee.
17. Muslim, Salām 111; Var. Bukhārī Ṭibb 43, 54; Aḥmad ibn Ḥanbal, Musnad iii, 130, 154, 173, 178, 251, 276, 278: قتادة عن أنس أن نبي الله ص قال: لا عدوى ولا طيرة ويعجبني الفأل الصالح
18. Aḥmad ibn Ḥanbal, Musnad ii, 222, 420, 487: . أبو هريرة قال رسول الله ص قال: لا عدوى ولا طيرة والعين حق
19. Aḥmad ibn Ḥanbal, Musnad ii, 153, 174, 180; Abū Dāwūd, Ṭibb 24/3921: عن عبد الله بن عمر أن رسول الله ص قال: لا عدوى ولا طيرة وأنما الشؤم في ثلاثة في المرأة والدار والدابة/الفرس.
20. Bukhārī, Ṭibb 19: .أبو هريرة قال رسول الله ص: لا عدوى ولا طيرة ولا هامة ولا صفر وفر من المجذوم كما تفر من الأسد
21. S. oben S. 1 und Butt/Shah, Concept 72–3.
22. Muslim, Salām 101, 102, 103; Bukhārī Ṭibb 25, 54; Aḥmad ibn Ḥanbal, Musnad ii, 267 أبو هريرة: قال رسول الله ص: لا عدوى ولا صفر ولا هامة فقال أعرابي: يا رسول الله فما بال الإبل تكون في الرمل كأنها الظباء فيجيء البعير الأجرب فيدخل فيها فيجربها كلها؟ قال: فمن أعدى الأول؟. Varianten Aḥmad ibn Ḥanbal, Musnad i, 269, 328; ii, 434; ‘Abd ar-Razzāq aṣ-Ṣan‘ānī, Muṣannaf 19507; Ibn Mādja, Ṭibb 10/86.
23. Muslim, Salām 104: وحدثني أبو الطاهر وحرملة وتقاربا في اللفظ قالا أخبرنا ابن وهب أخبرني يونس عن ابن شهاب أن أبا سلمة بن عبد الرحمن بن عوف حدثه أن رسول الله ص قال لا عدوى ويحدث أن رسول الله ص قال لا يورد ممرض على مصح قال أبو سلمة كان أبو هريرة يحدثهما كلتيهما عن رسول الله ص ثم صمت أبو هريرة بعد ذلك عن قوله لا عدوى وأقام على أن لا يورد ممرض على مصح. قال فقال الحارث بن أبي ذباب وهو ابن عم أبي هريرة قد كنت أسمعك يا أبا هريرة تحدثنا مع هذا الحديث حديثا آخر قد سكت عنه كنت تقول قال رسول الله ص لا عدوى فأبى أبو هريرة أن يعرف ذلك وقال لا يورد ممرض على مصح فما رآه الحارث في ذلك حتى غضب أبو هريرة فرطن بالحبشية فقال للحارث أتدري ماذا قلت قال لا قال أبو هريرة قلت أبيت قال أبو سلمة ولعمري لقد كان أبو هريرة يحدثنا أن رسول الله ص قال لا عدوى فلا أدري أنسي أبو هريرة أو نسخ أحد القولين الآخر. Auch Bukhārī, Ṭibb 53; Abū Dāwūd, Ṭibb 4/3910.
23. Einem Hadith zufolge fragte man einmal den Propheten, ob es erlaubt sei, den Coitus interruptus anzuwenden. Er antwortete: „Es schadet euch nicht, wenn ihr es sein lasst, denn jedes Lebewesen, von dem Gott die Erschaffung vorherbestimmt hat bis zum Tage der Auferstehung, wird geboren werden.“ So in Muslim, Nikāḥ 125: لا عليكم أن لا تفعلوا ما كتب الله خلق نسمة هي كائنة إلى يوم القيامة إلا ستكون.

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Ansteckung, oder: Widersprach sich der Prophet? 

🇳🇱 Aus dem Internet wehte mir ein Artikel über Ansteckung im Hadith des Propheten zu.1 Er wurde von zwei pakistanischen Gelehrten verfasst und innerhalb der islamischen Hadithwissenschaft scheint mir das ein solider Artikel. An europäischen Universitäten könnte er als Beispiel benutzt werden um die islamische Wissenschaft kennen zu lernen. Mir selbst hat es mal wieder klar gemacht, warum islamische Wissenschaft mich so langweilt und ich nichts damit zu tun haben möchte.
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Gibt es Ansteckung? In Hadithen des Propheten wird die Frage manchmal mit ja, manchmal mit nein beantwortet. Hatte der Prophet denn zwei Meinungen zum selben Thema oder hat er im Lauf seines Lebens drastisch die Meinung geändert?2 Die Zielsetzung der beiden Autoren steht gleich ganz vorne im Abstract: Both categories of ahādīth seem contrary to each other and demand a detailed insight into this matter in order to remove the apparent contradiction between them. Den ihres Erachtens scheinbaren Widerspruch wegschaffen, das ist ihr Ziel. Sie wollen nachweisen, dass die Aussagen des Propheten einander nicht widersprechen, und zwar mit Hilfe der jahrhundertealten Hadithwissenschaft. 

Ihre unausgesprochenen Voraussetzungen sind:
1. Korrekt überlieferte Hadithen gehen auf den Propheten zurück. Sie enthalten Aussagen, die er wirklich getan hat und die dort beschriebenen Handlungen hat er tatsächlich verrichtet. Korrekte Hadithe sind deshalb eine hervorragende historische Quelle.
2. Der Prophet hatte immer Recht und widersprach sich nie. Allerdings kann eine spätere Aussage von ihm eine frühere abschaffen. Nicht weil er sich geirrt hätte, aber die Umstände änderten sich, so dass manchmal eine neue Aussage nötig war.
3. Die jahrhundertealte Hadithwissenschaft (Blütezeit ca. 770–1500) gilt noch. Was die alten Bücher zu den Überlieferern mitteilen ist meist zuverlässig und die Methoden um die Korrektheit einer Überliefererkette festzustellen sind immer noch dieselben.
4. Eine Voraussetzung der Autoren zu diesem spezifischen Thema: Ja, Ansteckung existiert. Sie sind modern und lebenserfahren genug um das einzusehen und das taten sie
schon bevor sie diesen Artikel schrieben.
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Jetzt zur Ansteckung. Die meisten Menschen wussten und wissen, dass es so etwas gibt, und es gibt Hadithe, in denen das vorausgesetzt wird. Aber es gibt auch eine Aussage des Propheten: „Lā ‘adwā, „Es gibt keine Ansteckung,“ und wir haben einen Bericht über den Propheten, in dem er mit einem Aussätzigen isst und seine Hand in dieselbe Schüssel taucht wie der—wodurch er gezeigt habe, dass keine Ansteckung zu befürchten sei. Mit diesem Widerspruch mussten die Autoren und die Muslime im Allgemeinen fertig werden.
Die Autoren haben eine Anzahl Hadithe zum Thema gesammelt. Ich übersetze hier ihre Übersetzungen aus dem Englischen. Meine eigenen Übersetzungen kommen auf S. 2.

  • T1: Der Prophet hat gesagt: „Es gibt keine ‘adwā (keine ansteckende Krankheit wird ohne Gottes Erlaubnis übertragen), keinen ṣafar (kein schlechtes Omen im Monat Ṣafar) und keine hāmma (kein schlechtes Omen in Zusammenhang mit einer Eule)“ Da stand ein Beduine auf und sagte: „Prophet, warum stehen denn die Kamele im Sand so prächtig da wie Gazellen und wieso werden sie, wenn ein räudiges Tier dazu kommt, alle räudig?“ Der Prophet antwortete: „Aber wer hat denn das erste angesteckt?“3
  • T2: Der Prophet nahm bei einem Essen die Hand eines Aussätzigen und tauchte die mit der Seinigen in die Schüssel. Er sagte: „Sag: Im Namen Gottes und in Vertrauen auf ihn!“ 4
  • T3: Der Prophet hat gesagt: „Es gibt keine ‘adwā (keine ansteckende Krankheit wird ohne Gottes Erlaubnis übertragen), keinen ṣafar (kein schlechtes Omen im Monat Ṣafar) und keine hāmma (kein schlechtes Omen in Zusammenhang mit einer Eule)“ und fliehe vor einem Aussätzigen, wie vor einem Löwen!“5 
  • T4: Der Prophet hat gesagt: „Schaut nicht ständig auf Aussätzige!“6
  • T5: Der Prophet hat gesagt: „Die Pest ist eine Katastrophe, die über die Kinder Israels gesandt wurde oder über Menschen, die vor euch lebten. Wenn ihr hört, dass in einem Gebiet die Pest herrscht, geht dann nicht dorthin. Aber wenn sie ausbricht in einem Gebiet, in dem ihr schon seid, flüchtet dann nicht vor ihr!“7 

Die beiden pakistanischen Autoren zitieren und kommentieren das, was sie in alten Kommentaren und anderen Quellen aus vielen Jahrhunderten zu diesen Hadithen fanden. Sie stellen fest, dass die alten Gelehrten zwei Methoden anwandten: tardjīḥ, das Gegeneinander-Abwägen von Hadithen, meist aufgrund der isnāde, und taṭbīq oder djam‘, von dem ich nicht genau weiß, was es ist, das aber das am meisten dem Harmonisieren oder dem Weginterpretieren ähnlich sieht.

Leugnung der Ansteckung
Diejenigen, die Ansteckung leugnen, finden Unterstützung in der deutlichen Aussage des Propheten in T1: „Es gibt keine Ansteckung,“ und deren Bestätigung in einer Handlung von ihm in T2, wo er mit einem Aussätzigen isst—wenn Gefahr für Ansteckung bestanden hätte, hätte er das nicht getan. Es werden noch vier Texte zitiert, die erzählen, wie bekannte Gefährten des Propheten ausdrücklich mit Aussätzigen aßen und somit nach dessen Vorbild handelten. Manchmal sollen sie sogar regelrechte Abendessen mit Leprosen gegeben haben!8 Aischa, die Frau des Propheten, habe es auch bunt getrieben: Sie soll einen aussätzigen Sklaven gehabt haben, der aus ihrer Schüssel aß, aus ihrem Becher trank und oft auf ihrem Schlafplatz schlief—wobei sie sich um Ansteckung keine Sorgen machte, versteht sich.
Ein Text wie T4: „nicht ständig auf Aussätzige schauen,“ in dem Ansteckung vielleicht – aber nicht notwendigerweise – vorausgesetzt wird, wird von den Leugnern beseitigt, weil der isnād schwach ist. Dasselbe gilt für zwei nicht-prophetische Überlieferungen, die empfehlen zwischen sich und einem Aussätzigen eine, bzw. zwei Speerlängen Abstand zu wahren. Die Schwäche eines isnāds nachzuweisen ist eine klassische islamische Manier um einen unerwünschten Hadith zu beseitigen. Eine andere Methode ist einen Text als durch einen späteren Text abgeschafft (mansūkh) zu betrachten. Von T3: „Fliehe vor einem Aussätzigen…’ wird gesagt, dass er von T2, in dem der Prophet mit einem Aussätzigen isst, abgeschafft worden ist.
Die Gelehrten, die T3 nicht verwerfen, haben im Lauf der Jahrhunderte verschiedene andere Wege gefunden um ihn zu entschärfen. Sie sagen zum Beispiel: Man soll nicht aus Angst vor Ansteckung vor einem Aussätzigen fliehen, sondern um den armen Mann nicht zu verletzen. Dasselbe gilt beim Anschauen: Es geht nicht um Ansteckung, sondern um Diskretion, Rücksicht.
Oder wer meint, durch einen Aussätzigen Schaden zu erleiden, seinen Geruch oder seine Nähe nicht zu ertragen oder wer eine Abneigung gegen ihn spürt, der soll davonlaufen. Man bleibt ihm fern, wie man auch eine überhängende Mauer oder ein kaputtes Schiff meidet.
Oder ganz kompliziert: Man soll vor einem Aussätzigen flüchten, weil man sonst, wenn man krank wird, vielleicht denken könnte, dass es durch Ansteckung kommt—was der Prophet ausgeschlossen hat. Diese Begründung kommt häufig vor: bereits Abū ‘Ubayd (gest. 838) sagt, dass man gesunde Tiere nicht mit kranken Tieren trinken lassen soll, denn wenn sie dann krank werden, könnte man zu der Irrmeinung verführt werden, dass es Ansteckung gäbe. In Wirklichkeit werden die gesunden Tiere krank durch den Willen Gottes und durch nichts anderes.
Das ist tatsächlich der Grund, warum Ansteckung überhaupt geleugnet wird. Es ist immer von neuem ein göttlicher Ratschluss, der bestimmt, ob man krank wird oder nicht.

Anerkennung der Ansteckung
Auch diejenigen, die glaubten, dass es Ansteckung gibt, konnten nicht alle Hadithe einfach hinnehmen. Zwar verfügten sie, neben ihren eigenen Beobachtungen von Ansteckung, über einige mehrfach und korrekt überlieferte Hadithe (T3, T5 und vielleicht T4), die diese bestätigten, aber einige andere, die deutlich die Ansteckung leugnen, mussten sie unschädlich machen. T2, in dem der Prophet mit einem Aussätzigen isst, hielten sie für nicht korrekt überliefert; der schadete also nicht viel. Blieb noch die korrekt überlieferte und glasklare Aussage des Propheten: „Es gibt keine Ansteckung“ (T1/3), aber dafür fand man unterschiedliche Lösungen:
– Man entkräftet die Aussage, indem man etwas hinzudenkt: Natürlich gibt es Ansteckung; was der Prophet meinte ist: „Es gibt keine Ansteckung außer durch Aussatz, bars und andere Krankheiten.“ Deshalb soll man durchaus vor einem Aussätzigen fliehen.9
– Andere denken etwas anderes dazu: „Es gibt keine Ansteckung von Natur aus, mit anderen Worten: Es ist Gott, der entscheidet, ob Ansteckung erfolgt oder nicht. Als Beweis dafür konnte dienen, dass der Prophet ruhig seine Hand zusammen mit der eines Aussätzigen in die Schüssel tauchte. Ein gewisser al-Turbushtī, ein Gelehrter aus dem 13. Jahrhundert, fand diese Auffassung die beste, gerade weil sie Übereinstimmung zwischen Hadithen zu diesem Thema ermöglicht.10
– Noch andere Gelehrten meinten, dass die Aussage: „Es gibt keine Ansteckung“ nicht die Ansteckung selbst leugnen will, sondern den Glauben, dass es Ansteckung durch etwas anderes als Gott gibt.11 Die rhetorische Frage des Propheten in T1: „Aber wer hat denn das erste angesteckt?“ passt gut zu dieser Auffassung.
– Ibn Qutaiba (± 828–889) war ein Literat, kein Mediziner, aber er verstand weitgehend wie Ansteckung funktioniert: durch Berührung (mulāmasa) oder durch Tröpfcheninfektion durch die eingeatmete Luft (al-shamm al-rā’iḥa), vor allem über Mitbewohner (mukhālaṭa). Trotzdem hatte er kein Problem mit der Aussage „Es gibt keine Ansteckung (‘adwā),“ denn die von ihm beschriebenen Übertragungsarten von Krankheiten sind einfach keine ‘adwā. Was das denn ist, sagt er nicht; zumindest wird es aus dem pakistanischen Artikel nicht ersichtlich. Ibn Ḥadjar al-‘Asqalānī (1372–1449) folgt demselben Gedankengang, aber er sagt durchaus, was ‘adwā ist, nämlich eine Krankheit, die an einem bestimmten Ort grassiert, wie die Pest in T5. Von so einem Ort zu fliehen ist nicht erlaubt, weil man dann dem Ratschluss Gottes zu entkommen versucht.12

Ich habe nicht den ganzen langen Artikel der beiden Autoren hier zusammengefasst, sondern versucht das Wichtigste herauszuholen. In einigen Punkten habe ich sie einfach nicht verstanden. Lobenswert ist, dass die beiden Autoren energisch und akribisch viele Kommentartexte gesammelt haben. Was ich aber bedaure, ist, dass ihre Gedankengänge sich den jahrhundertealten Kommentaren fast kritiklos anschließen, obwohl diese nach heutigen Einsichten intellektuell nicht ausreichend sind.
Allen Respekt für einen Ibn Qutaiba, der im neunten Jahrhundert schon gut wusste, was Ansteckung ist, aber jammerschade, dass er sich dann winden musste um das Zitat des Propheten zu retten und letztendlich behauptet, dass Ansteckung keine Ansteckung ist. Ihm und seinen Nachfolgern kann ich es aber nicht übel nehmen: vor Jahrhunderten konnte und durfte man wohl nicht anders denken. Anders sollte das sein bei den beiden modernen pakistanischen Autoren, die wahrscheinlich doch mal ein Gymnasium von innen gesehen haben. Aber leider nehmen sie die uralten Argumentationen ernst, als würden sie von Propheten oder Heiligen stammen, und gründen darauf ihre Folgerung: „Keine ansteckende Krankheit wird ohne Gottes Erlaubnis übertragen.“ Das ist, was mich in solchen Arbeiten so langweilt. Man kann auch sagen: Ich schätze es nicht, dass sie Theologie betreiben statt Textwissenschaft. Zu kritisieren ist auch, dass sie ihre Schlussfolgerung in ihre Übersetzung eines Hadith einarbeiten; das ist Mogelei. Lā ‘adwā bedeutet: „Es gibt keine Ansteckung,“ und nicht: „no contagious disease is conveyed without Allāh’s permission.“ Bei der Wiedergabe eines Textes in einer anderen Sprache soll man übersetzen, nicht theologisieren.
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Meine eigenen Voraussetzungen und meine Lesart dieser widersprüchlichen Texte werde ich auf S. 2 darlegen.

ANMERKUNGEN
1. Muhammad Qasim Butt und Muhammad Sultan Shah, „The Concept of Contagiousness in the Ahādīth,“ Pakistan Journal of Islamic Research, 19/1 (2018), 59–75. Im Netz sah ich es hier, das letzte Mal am 10. November 2018.  Eine pdf-Datei steht hier: Butt_Shah, Contagiousness in ahadith.
2. Und das ist erst ein Beispiel; es gibt etliche Themen, über die die Aussagen des Propheten widersprüchlich sind oder scheinen.
3. U.a. Bukhārī, Ṭibb 25; Muslim, Salām 101 und viele andere, mit unterschiedlichen Prophetengefährten als Überlieferer: قال رسول الله ص: لا عدوى ولا صفر ولا هامة فقال أعرابي: يا رسول الله فما بال الإبل تكون في الرمل كأنها الظباء فيجيء البعير الأجرب فيدخل فيها فيجربها كلها؟ قال: فمن أعدى الأول.
4. Abū Dāwūd, Ṭibb, 24/3925; Tirmidhī, Aṭ‘ima 19a e.a.: أن رسول الله ص أخذ بيد مجذوم فوضعها معه في القصعة وقال: كل ثقة بالله وتوكلا عليه
5. Bukhārī, Ṭibb 19:  قال رسول الله ص: لا عدوى ولا طيرة ولا هامة ولا صفر وفر من المجذوم كما تفر من الأسد.
6. Aḥmad ibn Ḥanbal, Musnad i, 233: قال رسول الله ص: لا تديموا الى المجذومين النظر 
7. Bukhārī, Anbiyā’ 54 (vgl. auch Muslim, Salām 100): … فقال أسامة قال رسول الله ص: الطاعون رجس أُرسل على طائفة من بني إسرائيل أو على من كان قبلكم فإذا سمعتم به بأرض فلا تقدموا عليه، وإذا وقع بأرض وأنتم بها فلا تخرجوا فرارًا منه. قال أبو النضر: لا يخرجكم الاّ فرارا منه  
8. Butt/Shah, Concept 62.
9. لا عدوى ألّا من الجُذام والبرس وغيرها . Was bars ist weiß ich nicht; es muss auch eine Krankheit sein. Butt/Shah, Concept 70. Gemeint ist vielleicht baraṣ, ein Name für Lepra.
10. لا تقع عدوى بطبعها. Butt/Shah, Concept 71.
11. Butt/Shah, Concept 72.
12. Butt/Shah, Concept 72–73.

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Das Fortleben der Antike im Islam

🇳🇱 Eine bekannte Studie von Franz Rosenthal heißt Das Fortleben der Antike im Islam.
Die traditionelle, von Wissenschaftlern längst nicht mehr vertretene Sichtweise in Westeuropa war, dass die Antike mit dem Untergang des weströmischen Reichs im Jahr 476 nicht länger fortlebte, sondern endete. Danach fing das Mittelalter an: das dunkle Zeitalter, das Jahrhunderte brauchte um etwas heller zu werden, die Antike aufs Neue zu entdecken und in die Renaissance zu münden.
Wie dem auch sei: Der Ostteil des Römerreichs kannte kein Mittelalter. Dort und in Persien überlebte die antike Wissenschaft, wenn sie auch eine Zeitlang sehr bedroht war. Es war das Verdienst der frühabbasidischen Gesellschaft, dass sie für die Zukunft gerettet wurde. Diese Tatsache wird in Europa noch oft ignoriert.
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In den ersten zwei Jahrhunderten des Abbasidenkalifats (750–1258) gab es eine riesige Übersetzungsschlacht: aus dem Griechischen und Mittelpersischen (Pahlavi) erst ins Syrische, danach ins Arabische. Das ganze griechische Schrifttum, ausgenommen die Dichtung und die Geschichtsschreibung, wurde übersetzt: will sagen: alles Bekannte zur Arithmetik, Geometrie, Astronomie, Musiktheorie; die Werke von Aristoteles und die Kommentare dazu: Metaphysik, Ethik, Physik, Zoologie, Botanik, Logik (Organon), Geographie, Medizin, Pharmakologie, (Al)chemie, Militärwissen (Taktika), Weisheitssprüche (= Gnomologie), Tierheilkunde, Falknerei/Beizjagd.
Das war nicht das Werk eines Kalifen oder eines Mäzens mit einem ausgefallenen Hobby, sondern ein breit getragenes Großprojekt, das man für notwendig hielt und das etwas kosten durfte.

Die größten Förderer des Übersetzens, die Banū Mūsā ibn Shākir, bezahlten ca. 815 monatlich ungefähr 500 Dinar pro Monat an drei Spitzenübersetzer, d.h. 2125 Gramm Gold. Das wäre nach dem Kurs von heute (21.5.2018) fast 75.000 Euro. Aber so darf man wohl nicht rechnen. Auf jeden Fall war es sehr viel.

Warum gerade in dieser Periode? Die Kultur im Riesenreich Alexanders des Großen und in den Nachfolgestaaten war hellenistisch gewesen. Diese hellenistische Kultur war Dimitri Gutas zufolge allmählich durch zwei Faktoren geschädigt worden:
–––1. Durch die langen Kriege zwischen Oströmern und Persern (der letzte dauerte von 602–628) waren die Zentren von Kultur und Gelehrsamkeit nicht länger miteinander in Kontakt.
–––2. Für die Christenheit war profane vorchristliche Wissenschaft unerwünscht und war der Hellenismus eher ein Feind. Lieber vertat man seine Zeit—sehr viel Zeit—mit Querelen über die Fragen, ob Maria Gott geboren hatte, ob Gott der Vater und sein Sohn Jesus Christus eine Natur hätten oder zwei, einen Willen oder zwei, ob Ikonen erlaubt seien usw. Im östlichen Römerreich war „Grieche“ ein Schimpfwort geworden und wurde „heidnisches“ Wissen als minderwertig betrachtet.1 Allerdings war das Heidentum um 500 wohl endgültig beerdigt und die Antike wurde im Oströmischen Reich entweder ignoriert oder in uninspirierten Zusammenfassungen (Florilegia) weiter überliefert.
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Im arabischen Umaiyadenreich, das bis 750 existierte, waren die griechische Sprache und die griechisch-orthodoxe Staatskirche noch vordergründig präsent gewesen. Kalif ‘Abd al-Malik führte zwar um 700 Arabisch als Amtssprache ein, aber noch Jahrzehnte lang sprachen und schrieben viele Einwohner des Reichs Griechisch. Ein wichtiger Kirchenvater wie Johannes Damascenus schrieb seine Werke um 750 auf Griechisch und er tat das mitten in der umaiyadischen Hauptstadt Damaskus! Der noch recht römische Charakter des Umaiyadenreichs machte dort die Atmosphäre nicht günstig für hellenistisches Wissen.
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Als die Abbasiden aber den Schwerpunkt des Reichs in den Irak verlegten und Bagdad gründeten, geriet die griechische Kirche mit ihrer anti­hellenistischen Haltung außer Sicht. Nichts stand einer neuen Blüte der antiken Wissenschaft mehr im Weg; im Gegenteil: die Kalifen, Wesire, alle Staatsorgane und viele private Personen förderten sie wie nie zuvor. Im neuen Großreich fanden die wissenschaftlichen Zentren wieder zueinander und beeinflussten sich gegenseitig. Man sprach viele Sprachen; das neu gestaltete Reich war äußerst multikulturell.

„Hence the transfer of the caliphate from Damascus to central ‘Irāq — i.e., from a Greek-speaking to a non-Greek-speaking area — had the paradoxical consequence of allowing the preservation of the classical Greek heritage which the Byzantines had all but extirpated.“2

Kalif al-Mansūr (754–75)
Al-Mas‘ūdī, einem Historiker aus dem 9. Jahrhundert, zufolge, war al-Mansūr

„der erste Kalif, der Astrologen förderte und auf Grund astrologischer Weissagungen handelte. Er hatte Naubakht, den Zoroastrier, an seinem Hof, der auf sein Betreiben zum Islam konvertierte, der Vorfahr der Familie Naubakht; auch hatte er Ibrāhīm al-Fazārī bei sich, den Verfasser eines Dichtwerks über die Sterne und anderer astrologischer und astronomischer Werke, wie auch den Astrologen ‘Alī ibn ‘Īsā, den Astrolabisten.
Er war der erste Kalif, der Bücher aus anderen Sprachen ins Arabische übersetzen ließ, unter denen Kalīla wa-Dimna und Sindhind. Auch wurden für ihn Bücher von Aristoteles zu Logik und anderen Themen übersetzt, der Almagest von Ptolemaeus, das Buch von Euclid [über Geometrie], die Arithmetica [von Nicomachus von Gerasa], und andere alte Bücher aus dem klassischen Griechisch, dem römischen Griechisch, Pahlavi, Neupersisch und Syrisch. Diese wurden unter den Menschen verbreitet, die sie erforschten und studierten.“3

Al-Mansūr spürte, dass er das neue Abbasiden-Regime legitimieren musste. Bei den arabischsprachigen Muslimen war das nicht so schwer: Die Dynastie sei ja (vermeintlich) verwandt mit dem Propheten. Aber für die Perser und Aramäer, und die waren in der neuen Umgebung stark in der Mehrheit, war das nicht so selbstverständlich: Es gab schon gleich mehrere Aufstände. Al-Mansūr wollte ihnen nun zeigen, dass die Abbasiden die legitimen Nachfolger der persischen Sassaniden seien. Diese hatten auf Astrologie viel Wert gelegt; ihr ganzes Tun und Treiben war von Astrologie bestimmt. Das wollte al-Mansūr genauso tun: Seine Astrologen sollten beweisen, dass seine Regierung „in den Sternen geschrieben“ stand und also unausweichlich die Beste sei. Darum sollten astrologische Texte her, und zwar persische und griechische. Arabische gab es ja nicht, weder islamische noch vorislamische.
Astrologie ist wenig islamisch, wird vielleicht jemand sagen — aber wer bestimmte, was islamisch war? Das tat niemand weniger als der Kalif selbst, der Stellvertreter Gottes (khalīfat allāh) auf Erden! Die „Leute des Hadith und der Sunna,“ für die der Koran und die Sunna des Propheten Mohammeds das Wichtigste waren, spielten anfangs noch keine Rolle.
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Alexander, der Bücherdieb
Aber wozu dann die altgriechischen Texte? Man höre und staune: Nach sassanidischer Auffassung hatte Zoroaster vom guten Gott Ohrmazd (Ahuramazda) die Avesta empfangen, die alle Kenntnis und Weisheit der ganzen Welt enthielt.4 Der böse Alexander [der Große] hatte aber Persien zerstört und die Kenntnisse über die ganze Welt zerstreut. Er hatte sie ins Griechische übertragen lassen und die Originale zerstört. Deshalb kam es darauf an, die Kenntnisse wieder zurückzuübersetzen. Das hatte schon der Sassanidenfürst Ardashīr gemacht und al-Mansūr wollte das fortsetzen. Er fasste es energisch an und seine Nachfolger auch.
Eine völlig fact free Geschichte hatte somit weitreichende, in diesem Fall positive Folgen. Die Übersetzungsbewegung war religiös verankert.
(Siehe jetzt auch meinen Text Alexander doch kein Bücherdieb.)
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Kalif al-Mahdī (775–85)
Unter Kalif al-Mahdī wurde weiter übersetzt, allerdings mit etwas anderer Akzentsetzung. Jetzt kamen die Topica vom alten griechischen Philosophen Aristoteles (384–322 v.Chr.) an die Reihe, der 5. Teil des Organon. Das ist ein schwieriges Buch; es behandelt den Disput (djadal), die Kunst des Argumentierend auf Basis von geteilten Annahmen (z.B. Definitionen) über das Für und Wider gewisser Thesen. Die Methode wurde anhand von 300 Themen (topoi) verdeutlicht. Der Kalif bestellte 782 persönlich eine Übersetzung beim nestorianischen Patriarchen Timotheus I. Später sollte das Buch übrigens noch zweimal übersetzt werden.
Was brachte ein vollbeschäftigtes Staatsoberhaupt dazu, für sich eine Übersetzung eines so schwierigen Buchs zu bestellen? Die Antwort liegt in den Diskussionen über Religion, die jetzt anstanden. Wo das Abbasidenreich nun mal ein islamischer Staat war, sollten die Untertanen auch Muslime sein. Die Vorbehalte des Umaiyadenreichs gegen Konvertiten („es sind keine Araber,“ „sie bringen keine Kopfsteuer ein“) waren verschwunden. Es sollte ein Staat von muslimischen Bürgern mit gleichen Rechten und Privilegien werden. Auch Nichtaraber konnten jetzt Jobs bekommen; manchmal beklagten sich die Araber sogar darüber.
Der Islam sollte im Reich also unbedingt eine missionierende Religion werden. Wenn Islamstaat, dann auch Muslime, und es sollte attraktiv und überzeugend sein, sich zu bekehren—nicht nur wegen der entfallenden Kopfsteuer: Es ging um die richtige Religion. Für die Dispute mit Andersgläubigen waren die Topica nützlich. Religionsgespräche fanden jetzt überall statt; es gibt eine unglaubliche Menge von Schriften dazu, auch von christlicher Seite. Die Christen hatten ja eine lange Tradition in Disput und Polemik und die Muslime mussten sich richtig ins Zeug legen um mitzuhalten.

Juden und Christen hatten eine geschützte Position. Manichäer und andere Ungläubige (Bardesaniten, Marcioniten) dagegen wurden mit harter Hand verfolgt.
Noch ein Mas‘ūdi-Zitat:

„Al-Mahdī widmete viel Energie dem Ausrotten von Ketzern und Abtrünnigen. Diese Leute traten zu seiner Zeit auf und verkündeten während seines Kalifats öffentlich ihre Glaubensvorstellungen, als die Bücher von Mani, Bardesanes und Marcion (u. a. überliefert von Ibn al-Muqaffa‘ und anderen) weit verbreitet waren, die aus dem Persischen und Pahlavi ins Arabische übersetzt wurden, und die Schriften, die den Manichäismus, Bardesanismus und Marcionismus unterstützten, geschrieben von Ibn Abī al-‘Audjā’, Hammād ‘Adjrad, Yahyā ibn Ziyād und Mutī‘ ibn Iyās. So nahm die Zahl der Manichäer zu und ihre Lehrmeinungen wurden öffentlich bekannt.
Al-Mahdī war der erste [Kalif], der in ihrer Forschung dialektisch argumentierende Theologen (djadaliyūn) beauftragte, Bücher gegen die gerade erwähnten Ketzer und die anderen Ungläubigen zu schreiben. Die Theologen brachten demonstrative Beweise gegen die Abweichler vor, eliminierten die Scheinargumente der Ketzer und legten den Zweiflern in klaren Worten die Wahrheit dar.“5

Al-Mahdī war ein guter Schüler, der mit dem Patriarchen Timotheus selbst die Technik des Disputierens trainierte. Diese Techniken erwiesen sich auch in Wissenschaft, Philosophie, Theologie (kalām) und im Recht als nützlich.
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Kalif al-Ma’mūn (813–833)
bekam es mit den Leuten der Sunna und des Hadith zu tun, den späteren ’ulamā’. Er versuchte sie klein zu halten und stützte sich dazu auf die Mu‘taziliten, die sich sehr stark mit der „griechischen“ Wissenschaft beschäftigten. Das förderte noch einmal mehr die Übersetzungstätigkeit.

Der berühmte Mu‘tazilitische Prosaschriftsteller al-Djāḥiẓ (ca. 777–869) bekam eine Art Dialektik-Rausch. Es machte ihm Spaß, das Für und Wider bestimmter Dinge provozierend gegenüberzustellen. Dabei sei es unwichtig, welche Auffassungen letztendlich richtig seien. So hat er ein Traktat über die Überlegenheit der Schwarzen über die Weißen geschrieben6 sowie ein anderes, in dem er die Vor- und Nachteile von jungen Sklaven und Sklavinnen als Sexpartner gegeneinander abwägt.7

Den wohl berühmtesten Übersetzer möchte ich noch kurz erwähnen: Hunain ibn Ishāq, 808–873. Er war ein nestorianischer Christ aus dem Irak, studierte Physik und Medizin, zog nach Alexandrien zum Griechischlernen, danach nach Basra, wo er Arabisch lernte. Er übersetzte Aristoteles und Galen u.v.a. und verfasste ein griechisch-syrisches Wörterbuch.

Zwei, drei Jahrhunderte später kam das Gedankengut der Antike in arabischer, teils hebräischer Übersetzung nach Europa, über Sizilien und vor allem Spanien. Ohne die abbasidische Zwischenstufe wäre es den Europäern unbekannt geblieben; ohne sie hätte es nie eine europäische Renaissance gegeben.

ANMERKUNGEN

1. D. Gutas, Greek thougt, Arabic culture, 20.
2. Theodoret von Kyrrhus (393–458) schrieb z.B. Græcarum affectionum curatio, [Ελληνικών θεραπευτική παθημάτων], „Heilung der griechischen Krankheiten“. Er meinte das vorchristliche Heidentum.
3. Al-Mas‘ūdī, Prairies, v, 3446:

وكان أول خليفة قرّب المنجمين وعمل بأحكام النجوم، وكان معه نوبخت المجوسي المنجم، وأسلم على يديه وهو أبو هؤلاء النوبختية، وإبراهيم الفزاري المنجم صاحب القصيدة في النجوم وغير ذلك من علم النجوم وهيآت الفلك، وعلي بن عيسى الأُسطُرلابي المنجم. وكان أول خليفة ترجمت له الكتب من اللغة العجمية إلى العربية، منها كتاب كليلة ودمنة وكتاب السند هند، ترجمت له كتب أرسطاطاليس من المنطقيات وغيرها، ترجم له كتب المجِسطي لبَطْلميوس وكتاب إقليدس وكتاب الأرِثماطقي وسائر الكتب القديمة من اليونانية والرومية والفهلوية والفارسية والسريانية، وأخرجت الى الناس، فنظروا فيها وتعلّقوا الى علمها.

4. D. Gutas, Greek Thought, 34–45 hat die Texte dazu gesammelt und übersetzt, z.T. aus dem persischen.
5. Al-Mas‘ūdī, Prairies, v, 3447:

وأمعن [المهدي] في قتل الملحدين والذاهبين عن الدين لظهورهم في أيامه وإعلانهم باعتقاداتهم في خلافته، لمّا انتشر من كتب ماني وابن دَيْصان ومَرْقيون مما نقله عبد الله بن المقفَّع وغيره وترجمت من الفارسية والفَهْلوية الى العربية، وما صنّفه في ذلك الوقت ابن أبي العوجاء وحمّاد عَجْرَد ويحيى بن زياد ومطيع بن إياس تأييدًا لمذاهب المانية والديْصانية والمَرْقيونية. فكثر بذلك الزنادقة وظهرت آراءهم في الناس، وكان المهدي أول من أمر الجدليين من أهل البحث من المتكلمين بتصنيف الكتب على الملحدين ممن ذكرنا من الجاحدين وغيرهم، فأقاموا البراهين على المعاندين وأزالوا شُبَه الملحدين، فأوضحوا الحق للشاكّين.

6. „Kitāb fakhr as-sūdān ʿalā al-bīḍān,“ in Rasāʾil al-Ǧāḥiẓ, Hg. ʿAbd al-Salām Muḥammad Hārūn, 2 Bde. Kairo o.J. [1964], i, 173–226. Deutsch (Fragmente) in: Charles Pellat, Arabische Geisteswelt, ausgewählte und übersetzte Texte von al-Ǧāḥiẓ (777–869), Übers. Walter Müller, Zürich/Stuttgart 1967, Kap. 31: „Über den Ruhm der Schwarzen vor den Weißen,“ 315–318. Englisch: „What Blacks may boast of to Whites,“ Übers. T. Khalidi in Islamic Quarterly 25 (1981), 3–51 (nicht gesehen).
7. „Kitāb Mufāḫarat al-ǧawārī wal-ġilmān,“ in Rasāʾil al-Ǧāḥiẓ, ii, 87–137; Übers.: Éphèbes et Courtisanes, traduit par Maati Kabbal, préface et notes de Malek Chebel, Paris 1997.

BIBLIOGRAFIE
– Dimitri Gutas, Greek Thought, Arabic Culture. The Graeco-Arabic Translation Movement in Baghdad and Early ʿAbbāsid Society (2nd–4th/8th–10th centuries), London 1998.
– Franz Rosenthal, Das Fortleben der Antike im Islam, Zürich 1965.
– Al-Mas‘ūdī, Les prairies d’or [Murūǧ aḏ-ḏahab], Hg. […] Ch. Pellat, 7 Bde. Beirut 1966–1979.
– Hinrich Biesterfeldt, „Secular Graeco-Arabica — Fifty years after Franz Rosenthal’s Fortleben der Antike im Islam,” in: Intellectual History of the Islamicate World, 3 (2015), 125–157.

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Abd al-Malik als Gründer des Islams

🇳🇱 Am Anfang des Islams stehen der Prophet Mohammed und der Koran. Aber was für ein Islam war das? Der Koran wurde erst im Lauf des 7. Jahrhundert zum Buch und stand als solches nur Wenigen zur Verfügung. Die Sunna—also die überlieferte Handlungsweise—des Propheten wurde erst später ausgearbeitet; im 7. Jahrhundert war die wichtigste Sunna die der jeweiligen Kalifen. Die Scharia gab es auch noch nicht. Gab es schon Muslime? Man nannte sich meist „Gläubige“ (mu’minūn) und das Wort Islam als Religionsbezeichnung war noch nicht geläufig.
Der Islam war einfach noch nicht voll herausgebildet. Er brauchte Gestaltung und dazu hat der Umayyadenkalif ‘Abd al-Malik (reg. 685–705) vieles beigetragen—so viel sogar, dass man ihn als Gründer oder Zweitgründer des Islams auffassen kann.

  • Ein Umayyadenkalif als Gründer des Islams? Mancher Muslim wird das wütend bestreiten: die Umayyaden waren doch Mörder, Säufer, Usurpatoren und noch vieles mehr! Mag sein, aber ‘Abd al-Malik hat einen Islam gegründet und ihn der Öffentlichkeit präsentiert. Dass sein Islam abwich von dem Islamentwurf späterer Schriftgelehrten, dafür konnte er nichts.

Als ‘Abd al-Malik antrat, hatte er mit vielen Feinden zu kämpfen. Er hatte von seinem Vater zwar ein riesiges Reich geerbt, das ganz Persien und halb Ostrom umfasste, aber das Reich war marode. Der Ostteil wollte nie spuren und es war von Damaskus aus schwierig, ihn zu regieren, Schiiten und Kharidschiten rebellierten und anfangs musste der Herrscher noch ein anderes Kalifat vernichten: das von ‘Abdallāh ibn az-Zubair (reg. 680–992). Dieser residierte in Mekka; sein kompetenter Bruder Mus‘ab herrschte über große Teile des Iraks und Irans, während den Umayyaden manchmal nicht viel mehr blieb als Syrien und ihre Hauptstadt Damaskus. ‘Abdallāh und seinen Bruder zu vernichten gelang ‘Abd al-Malik 692: Beide wurden getötet, der Bürgerkrieg war beendet. Der Kalif muss erschrocken gewesen sein über die Kluft, die sich zwischen Syrien und Arabien aufgetan hatte. Jetzt kam es darauf an, die Einheit wiederherzustellen.

Geschichtsschreibung
Der nach dem Krieg wiedervereinte Staat brauchte eine allgemein akzeptierte Ideologie und einen Gründungsmythos, in dem Arabien eine Hauptrolle spielen sollte. Dazu war ‘Urwa ibn az-Zubair (643–712) sehr von Nutzen. Als ‘Abd al-Malik dessen Brüder ‘Abdallāh und Mus‘ab hatte töten lassen, eilte der viel jüngere ‘Urwa nach Damaskus um seine Haut zu retten und dem Umayyadenkalifen die Treue zu geloben. Das war ein gewagter Schritt, aber er war erfolgreich. Der Kalif, der bereits aus strategischen Gründen eine Staatstrauer für Mus‘ab ausgerufen hatte, verzichtete auf die Hinrichtung ‘Urwas und entschied, ihn lieber zu benutzen. ʿUrwa war der Intellektuelle der Familie, der nie militärisch aktiv gewesen war, sondern sich in Medina in Ruhe dem Studium der Hadith-Ü
berlieferungen, des Rechts und der Prophetenbiographie (sīra) gewidmet hatte. Der Kalif ließ ihn nach Medina zurückkehren und bat ihn, die wahre Geschichte des Islams für ihn niederzuschreiben.

Das tat ‘Urwa: Er schrieb ein ganze Reihe „Briefe“ (rasā’il) an den Kalifen und später noch an dessen Sohn al-Walīd. Diese Texte sind äußerst wichtig, denn sie enthalten den Kern der Prophetenbiographie und der frühen Geschichte der „koranischen Bewegung“—die seit ‘Abd al-Malik „Islam“ heißt. Spätere Autoren greifen fast alle auf ‘Urwas Texte zurück. Die sind kurz gefasst, denn fantastische Erzählungen mochte ‘Abd al-Malik nicht.
‘Urwa war nicht nur ein Sohn des vornehmen Prophetengefährten az-Zubair, sondern auch der Asmā’, der Tochter des ersten Kalifen Abū Bakr. Die Prophetenwitwe Aischa war seine Tante. Somit gehörte er väter- und mütterlicherseits zum frühen Verdienstadel. Seine Schriften „atmen Arabien“ und nehmen stark Partei für Abū Bakr und dessen Familie.
Vor ‘Abd al-Malik drohte die früheste „koranische Bewegung“ auseinanderzudriften. In Syrien war die Atmosphäre noch sehr römisch, man verkehrte mit Christen und das heilige Jerusalem war eine formidable Anwesenheit. Im Irak, der persisch beeinflussten Brutstätte des Widerstands gegen Damaskus, entstand gerade die Schia; hier ertönten auch die ersten Rufe nach der Sunna des Propheten und wuchs die Hadith-Literatur heran. ‘Abdallah ibn az-Zubair und seine Brüder fokussierten sich voll auf Arabien und profilierten sich als die treuesten Hüter des Gewohnheitsrechts von Mekka und Medina. Als solche wären sie vielleicht am ehesten zum Kalifat berechtigt gewesen. Durch ‘Urwas Werk wurde dem Erbe Arabiens und des frühen Verdienstadels wenigstens wieder der zentrale Platz in der offiziellen Ideologie gewährt.

Felsendom
Als der Bürgerkrieg noch wütete, ließ ‘Abd al-Malik auf dem ehemaligen Tempelberg in Jerusalem den Felsendom bauen, der 692 fertig wurde. In der Mitte befindet sich ein großer Felsbrocken, um den Pilger ihre Runden drehen konnten, wie in Mekka auch. Dabei sahen sie dann Inschriften, in denen einige deutliche Ansagen den Triumph des Islams verkünden, etwa: „Die Religion bei Gott ist der Islam.“ (Koran 3:19)
Warum hat der Kalif den Felsendom bauen lassen? Naheliegend ist, das Gebäude als Ansage an die Christen zu interpretieren. Christen bildeten ja den Großteil der Bevölkerung des Westreichs, und für sie war Jerusalem mit seiner alten Grabeskirche ein zentraler Ort. In der Kirche wurde das Heilige Kreuz aufbewahrt, das Kaiser Heraclius erst 630 in die Kirche zurückgebracht hatte, nachdem es von den Persern geraubt worden war. Der Felsendom war ein frischer Neubau, herausfordernd durch seine Lage und Schönheit und durch die Inschriften darauf und darin. Aus einer der Inschriften—Koran 4:171—wird klar, was über Jesus zu denken sei:

  • Christus Jesus, der Sohn der Maria, ist [nur] der Gesandte Gottes und dessen Wort, das er der Maria entboten hat, und ein Geist von ihm. Glaubt denn an Gott und seine Gesandten und sagt nicht: „Drei“! Hört damit auf, das ist besser für euch. Gott ist [nur] ein [einziger] Gott, gelobt sei er! Dass er ein Kind haben würde!

Jahrhunderten christlichen Gezänks über die Natur Christi sollte mit diesem und anderen Korantexten ein Ende gesetzt werden. Auch Mohammed wird in den Inschriften erwähnt; das war zuvor kaum je in der Öffentlichkeit getan worden.

‘Abd al-Malik hatte große Verdienste um das Reich. Er hat die Einheit wiederhergestellt, innere Feinde klein gehalten und den Kaiser in Konstantinopel in die Schranken gewiesen. Er hat Verwaltungsreformen und eine Münzreform durchgeführt, wobei er aus dem römischen solidus ausstieg—d.h. aus dem Euro der damaligen Zeit. Arabisch hat er zur Amtssprache gemacht. Das alles waren sehr wichtige Errungenschaften, aber nachhaltiger waren seine Förderung einer islamischen Identität und sein Anstoß zu einer islamischen Geschichtsschreibung.

Mit dem Abschied vom Christentum wurde der arabische Islam geboren. Allmählich verschwand immer mehr von dem jüdischen und christlichen Material (den isrā’īlīyāt), das anfangs die „Erzählungen“ und Genealogien, die Korankommentare und die Prophetenbiographie gefüllt hatte; es wurde eine deutliche „Entbibelung“ durchgeführt. Mekka, die Ka‘ba und Medina standen fortan im Mittelpunkt. Und der Prophet Muhammad wurde immer wichtiger, bis im achten Jahrhundert seine Sunna die der Kalifen verdrängte.

BIBLIOGRAFIE
– A. Görke und G. Schoeler, Die ältesten Berichte über das Leben Muḥammads. Das Korpus ‘Urwa ibn az-Zubair, Princeton 2008.  [‘Urwas Texte in deutscher Übersetzung gesammelt und analysiert]
– Chase Robinson, Abd al-Malik, Oxford 2005.

Diakritische Zeichen: ʿAbd al-Malik, Muṣʿab, ʿAbdallāh, ʿUrwa, ʿĀʾiša

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Fünfzehn populäre Irrtümer zum Islam

🇳🇱 In der Anti-Islamhetze, die immer heftiger wird, werden enorme Mengen an Desinformation verbreitet. Angesichts des weltweiten Erstarkens rechtspopulistischer und faschistischer Strömungen schadet es vielleicht nicht, Ihnen einige Korrekturen für die dunklen Jahre mitzugeben.
Wer hier öfter liest, weiß, dass einige Themen schon ausführlicher behandelt wurden. Ich verweise mit Links auf die jeweiligen Webseiten.

„Der Islam sagt ….“
Der Islam ist weder eine Person noch eine Rechtsperson. Er kann nicht reden, er kann nicht handeln. Sätze wie: Der Islam ist kriegslüstern, der Islam ist Frieden, der Islam unterdrückt Frauen, der Islam ist ganz lieb zu Frauen, der Islam sagt … sind unsinnig.
Der Islam will/kann/verbietet/befiehlt nichts, ist weder Frieden noch Krieg; es sind immer Muslime, die etwas tun oder sein lassen. Von Ihnen gibt es mehr als eine Milliarde, die wollen oder tun nicht alle dasselbe.

„Der Islam ist keine Religion, sondern eine Ideologie.“
Wenn man den Islam zur Ideologie erklärt, könnte er vielleicht in manchen Umgebungen bekämpft oder gar verboten werden. Eine Religion zu verbieten ist schwieriger; die meisten Verfassungen enthalten ja einen Artikel über Religionsfreiheit.
Aber im Islam wird die Hauptrolle gespielt von einem Gott, der die Welt erschaffen hat und sie erhält, der von Ewigkeit an eine heilige Schrift bei sich hatte, die er seinen Propheten offenbart hat, und der am Ende der Zeiten die Menschheit richten wird.
Solch eine Weltanschauung nennt man generell Religion. Wenn der Islam keine Religion ist, sind Judentum und Christentum ebenfalls keine. Diejenigen, die rufen: „Der-Islam-ist-(nur)-eine-Ideologie!”, wollen meist Religionsfreiheit predigen für die beiden letztgenannten und Ideologieverbot für den Islam.

„Aber der Koran sagt doch …?“
Was steht im Koran? Wie alle heiligen Schriften „sagt“ der Koran ungefähr alles, aber auch sein Gegenteil. Er enthält Botschaften von Liebe und Hass, von Krieg und Frieden, von Unbarmherzigkeit und Erbarmen. Es hat also keinen Sinn, nach der Art von Jehovas Zeugen allerlei Debatten zu führen auf der Basis von einigen einseitig gewählten Koranversen.
Überdies steht ganz viel gar nicht im Koran. Das Buch enthält nur einen Teil der islamischen Glaubensüberzeugungen und des islamischen Rechts (Scharia).
Nicht im Koran stehen unter anderem: Scharia, Kalifat, die Bestrafung im Grab, Märtyrer gehen direkt ins Paradies, 72 Jungfrauen, Hunde und Katzen, das Bilderverbot, fünfmal am Tag beten, Steinigung. Interpretationsabhängig sind: die Bedeckung der Frau, das Alkoholverbot und vieles mehr.
Achtung: wenn etwas nicht im Koran steht, ist es deshalb nicht gleich unislamisch.

„Mohammed war …“
Tausende Textseiten berichten vom Handeln des Propheten Mohammeds, aber einen Wert als Quelle für wissenschaftliche Geschichtsschreibung haben nur die wenigsten. Mit Hilfe dieser Texte kann sich jeder und jede den Propheten basteln, der ihm oder ihr gefällt: ein strenger Richter, ein milder Richter, kriegslüstern, friedfertig, frauenfeindlich oder eben nicht, väterlich, gnadenlos, sittlich hochstehend oder vielmehr egozentrisch, ein Held, ein Kinderschänder, menschlich-allzu-menschlich, immer kompromissbereit oder vielmehr unbiegsam: Sie haben die Wahl!
Über den historischen Mohammed ist nur ganz wenig bekannt. Einige frühe Texte über ihn datieren auf sechzig (!) Jahre nach seinem Tod; die meisten sind erheblich jünger. So wissen wir z. B. überhaupt nicht, ob er tatsächlich ein kleines Mädchen heiratete. Dazu gibt es nur einen kurzen Text (mit einigen Varianten), der nicht so heilig ist, dass Muslime ihn unbedingt für wahr halten müssen—und Nichtmuslime ohnehin nicht. Ein anderes Beispiel: die Erzählungen über die Ausrottung jüdischer Stämme durch Mohammed sind schon 2008 als Fiktion entlarvt worden. 

„Der Koran ist das Werk Mohammeds.“
Keineswegs. Dass der Koran von Gott dem Propheten Mohammed in mehreren Lieferungen über zwölf, dreizehn Jahren offenbart wurde, ist nicht nachgewiesen. Aber dass er von Mohammed geschrieben wurde, wie man in Europa lange Zeit annahm, ebenfalls nicht. Ganz früher hieß es in Europa: der Koran könne nicht von Gott stammen, denn der ist der Gott der Bibel; Mohammed habe das Buch mit bösen Absichten selbst erfunden. Spätere Orientalisten meinten, dass Gott nicht existiere und dass also Mohammed der Verfasser sein müsse, weil er der Entstehung des Textes am nächsten war. Er habe den Koran selbst geschrieben, allerdings in Anlehnung an die jüdische und christliche Tradition.
Mit einer göttlichen Offenbarung können moderne Forscher nichts anfangen, aber mit der Autorschaft Mohammeds auch immer weniger. Die meisten von ihnen betrachten den Koran als einen anonymen Text oder vielmehr als eine Sammlung von Texten unterschiedlicher Gattungen, die möglicherweise aus verschiedenen Quellen stammen.
Die Sammlung dieser Texte in einem Buch fand zwischen ca. 650 und 700 statt. Ohne Zweifel waren davor schon Teile in Umlauf. Diese spielten bestimmt eine wichtige Rolle bei der schnellen gesellschaftlichen Wandlung in Arabien, bei der Vereinigung der arabischen Stämme und bei den enormen arabischen Eroberungen ab 632. Welche Rolle genau ist nicht bekannt.

„Der Islam ist im Mittelalter hängen geblieben.“
Der Nahe Osten hat nie ein Mittelalter gekannt. Als in Europa das frühe, angeblich „dunkle“ Mittelalter anfing, ging drüben die Antike einfach weiter. Es brach eine Blütezeit an, in der die islamische Welt Europa bei Weitem voraus war: in Industrie, Handel, Wirtschaft, Bankwesen, Wissenschaft, Medizin, Recht, Philosophie und sogar Theologie. Allerdings geriet die islamische Welt in späteren Jahrhunderten allmählich in Verfall, durch neue Handelsrouten (Amerika; Kap der Guten Hoffnung), durch veraltete Bewaffnung und überholten Schiffbau und durch koloniale Machtausübung aus Europa. Aber diese oder irgendeine frühere Zeit „mittelalterlich“ zu nennen wäre nicht richtig; der Begriff passt nur zur europäischen Geschichte—und vielleicht nicht einmal dazu.

„Der Islam ist eine Wüstenreligion.“
Das Ursprungsgebiet und die Westhälfte des Verbreitungsgebietes des Islams ist ein arider bzw. halb-arider Gürtel, in dem es tatsächlich viele Wüsten gibt. Aber dort wohnt niemand permanent; wohlweislich wohnt man in den fruchtbaren Gebieten, die es durchaus gibt: in den Flusstälern und –deltas, in Oasen und natürlich in Städten. Die nomadischen Wüstenbewohner, die Beduinen, waren von alters her meist wenig zu Religion geneigt; das wird schon im Koran beklagt.
Der Islam stammt zum Teil aus der Stadt Mekka, zum Teil aus der Oase Medina, hat um 700 in Syrien erst richtig Form bekommen und wurde ein Jahrhundert später im Irak noch mal gründlich umgearbeitet. Später bekam jede Periode und jede Gegend ihre eigene Gestaltung des Islams.

„Steinigen ist eine mittelalterliche Bestrafung“
Nein, Steinigen aufgrund eines Urteils nach einem Rechtsgang wird erst seit dem zwanzigsten Jahrhundert, vor allem seit 1979, in einigen Staaten praktiziert. Momentan ist die Zahl der Steinigungen wieder rückläufig, wahrscheinlich weil es sich als eine recht unpraktische Methode der Hinrichtung entpuppt hat. Vor dem zwanzigsten Jahrhundert wurde nicht gesteinigt, zumindest nicht aufgrund eines Urteils. Zwar wird die Steinigung im Fall der Unzucht in einigen alten Rechtsquellen unzweideutig empfohlen, aber die Rechtsgelehrten wussten die zu umgehen, mit Hilfe anderer Rechtsquellen und schlauer Rechtskniffe: Leben und leben lassen war immer das Hauptziel der Scharia. Die Forschung hat nur einen einzigen Steinigungsfall im Osmanischen Reich ans Licht gebracht, aus dem Jahr 1670. Der verantwortliche Richter wurde damals sofort abgesetzt; der Chronist, der von Fall berichtete, war empört. 

„Der Islam braucht eine Aufklärung.“
Manchmal wird behauptet, dass aus „dem Islam“ ohne einen Prozess der Aufklärung nie mehr etwas werden wird. Aber im neunzehnten Jahrhundert war die Aufklärung im Nahen Osten durchaus bekannt geworden. Die Einwohner des Osmanischen Reichs spürten, dass sie im Vergleich schwach waren, sowohl militärisch als auch kulturell. Um aufzuholen fingen sie an Europa nachzueifern. Aber auf Dauer stellte sich heraus, dass eben die Gradlinigkeit der Aufklärung, mit ihrer Unzweideutigkeit, ihrer klaren Sprache und ihren kodifizierten Gesetzen (Code Napoléon) die Muslime dazu gebracht hat, den flexiblen Umgang mit ihren alten Texten aufzugeben und sie fortan alle wortwörtlich zu nehmen, ohne ein Auge für alternative Interpretationen zu haben. Die Ambiguitätstoleranz, die von alters her ein Merkmal der islamischen Kultur war, ist in den vergangen zwei Jahrhunderten zum Großteil verloren gegangen. Der Nahe Osten wurde ein flaches und zweitrangiges Europa-Imitat.
Muslime haben die Aufklärung durchaus kennen gelernt, aber sie ist ihnen schlecht bekommen.

„Der Islam ist das Werk von Mohammed.“
Glauben Sie das wirklich? Der arme Mann wäre fassungslos gewesen, wenn er hätte sehen können, was Muslime nach seinem Tod daraus gemacht haben. Der Islam ist natürlich nicht fix und fertig aus dem Himmel gefallen, sondern er hat sich entwickelt. Mohammed hat nicht mehr erlebt, wie Araber sofort nach seinem Tod die halbe Welt eroberten und demzufolge schon bald die koranische Furcht vor dem Jüngsten Gericht vergaßen. Wie unterschiedliche Gruppen sich in Bürgerkriegen bekämpften, hat er ebenso wenig mitbekommen. Und wie der Kalif ‘Abd al-Malik ca. 695 seinen eigenen Islamentwurf in die Welt setzte, wobei er sich vom Christentum verabschiedete und die frühislamische Geschichte niederschreiben ließ. Und wie noch einmal hundert Jahre später die Schriftgelehrten (‘ulamā’) ihren Platz im Staat erkämpften, auf Kosten der Autorität des Kalifen. Auch von Schiiten und vom Aufstieg der Sufi-Mystik, die immerhin mehr als tausend Jahre das Bild des Islams prägte, hatte der Prophet nicht die leiseste Ahnung.

„Die Scharia ist das Gesetz des Islams.“
Nein, die Scharia ist islamisches Recht; das ist etwas anderes. Sie regelt alle Beziehungen zwischen Gott und Mensch und zwischen den Menschen untereinander; somit ist sie umfassender als europäisches Recht. Auch Glaubenslehre, Ethik und gute Manieren sind darunter begriffen.
Die Scharia ist kein Gesetz, nicht kodifiziert und sicherlich kein Buch, das jemand für die Ewigkeit niedergeschrieben hätte. Fragen wie: „Was sagt die Scharia zu …? Was steht in der Scharia? Wer hat die Scharia geschrieben?“ sind also sinnlos. Die Scharia sagt nichts, sondern muss in den Rechtsquellen gefunden werden, d.h. in Koran, Hadith und Jurisprudenz. Sie ist also dem Wandel unterworfen, wenn auch Rechtsgelehrte sich nur allzu oft mit dem begnügen, was ihre Kollegen vor Jahrhunderten schon gefunden haben. Das muss aber nicht so sein. Der Umfang, die große Verschiedenheit der Rechtsquellen und deren Offenheit für unterschiedliche Interpretationen machen Erneuerung möglich.
Die Frage, inwieweit man den Alten folgen muss oder die früher bereits gelösten Rechtsfragen noch mal aufs Neue aufrollen kann, ist seit mehr als einem Jahrhundert das wichtigste Diskussionsthema in der ganzen islamischen Welt. Die Diskussion wird aber abgebremst durch 1. das Auftreten von Salafisten, Wahhabiten, ISIS, u. dgl.; 2. die fortwährende Hetze durch deren Verbündete im Westen: die Islamhasser und Islamophoben.
Die Scharia war übrigens nie irgendwo das einzig geltende Recht. Dazu wäre sie auch ungeeignet.

„Eine Fatwa ist ein Todesurteil.“
Nö. Eine Fatwa ist im sunnitischen Islam ein nicht verbindliches, gelehrtes Gutachten auf dem Gebiet der Scharia. Eine Fatwa wird von einem Mufti abgegeben, auf Verlangen von Richtern, Privatpersonen und manchmal von Behörden. Der Empfänger kann die Fatwa außer Acht lassen, wenn er das wünscht. Scharia ist islamisches Recht, aber auch mehr als Recht: das verlangte Gutachten kann deshalb auch auf dem Gebiet der Ethik, der guten Sitten und der Glaubenslehre liegen.
Wer sich nicht persönlich an einen Mufti wenden mag, kann Fatwa-Sammlungen von bekannten Schariagelehrten aus früherer oder neuerer Zeit lesen, oder eine Fatwa über das Internet einholen, siehe z.B. dieses Portal.
Seit der Rushdie-Affäre (1989) ist das Wort Fatwa auch in Deutschland verbreitet, wird aber oft falsch verstanden. In der Phrase: „eine Fatwa über jemanden verhängen“ hört es sich fast an wie ein Todesurteil. Aber ein Gerichtsurteil ist es eben nicht, geschweige denn ein Todesurteil.

„Der Islam kennt keine Trennung von Kirche und Staat.“
Bei Mohammed selbst war der Staat noch wenig entwickelt, aber wahrscheinlich gab es solch eine Trennung tatsächlich nicht, und bei den ersten gewählten Kalifen (632-661) ebenfalls nicht.
Bei den Umaiyadenkalifen (661-750) gab es sie offensichtlich noch immer nicht. Ihre Sunna (= Verhalten, Brauch, gewohnte Handlungsweise) sollte man unbedingt befolgen; davon hing ja das Seelenheil ab. Über sie sangen die Dichter, dass sie Regen brachten, die Ernte gelingen ließen, Recht und Gerechtigkeit etablierten— alles in der besten altorientalischen Tradition des Gott-Königs.
Widerstand gegen die Umaiyadenkalifen kam ab ca. 700 u.a. von den „Menschen der Sunna und der Gemeinde,“ die die eigenmächtigen Sunnas der verhassten Kalifen durch die des Propheten ersetzen wollten. Anfangs wusste niemand, wie dessen Sunna aussah, aber daran wurde gearbeitet: im Lauf des Jahrhunderts wurden die Schriftgelehrten (‘ulamā’) immer mehr und die Anzahl der Überlieferungen „des Propheten“ (Hadithe) wuchs noch schneller, bis es eine prophetische Alternative gab für die Sunnas der Kalifen. Nach 750 spielten die ersten Abbasidenkalifen noch einige Zeit weiter Gott-König, aber ca. 850 mussten sie sich ergeben. Gegen die Sunna des Propheten, wie fiktiv auch immer, konnten sie nicht ankämpfen; die inzwischen überall vordringenden Schriftgelehrten übernahmen die geistliche Macht. Seitdem gibt es durchaus eine Trennung zwischen weltlicher und geistlicher Macht.
Außer bei den Schiiten, aber die hatten meistens gar keinen Staat, so dass man es nicht so merkte.

„Märtyrer bekommen im Paradies zweiundsiebzig Jungfrauen.“
Ach! Es gibt nur einen seltenen Hadith, in dem das beiläufig erwähnt wird. Etwas fester in der islamischen Tradition verankert ist dieser Hadith:
„Das Erdreich ist noch nicht trocken vom Blut eines Märtyrers, da kommen schon seine beiden Gattinnen herbeigeeilt, wie Kamelstuten, die ihre Jungen in einem weiten Land verloren haben…“
Hier werden nur zwei Frauen erwähnt, deren Verlangen nach den Märtyrern mit dem Mutterinstinkt (!) von Kamelstuten verglichen wird. Noch häufiger sind Texte wie diese:
Der Prophet hat gesagt: „Als eure Brüder in Uhud gefallen waren, tat Gott ihre Seelen in das Innere grüner Vögel, die aus den Flüssen des Paradieses trinken, von seinen Früchten essen und nisten in goldenen Lampen im Schatten von Gottes Thron…“
Diesem Text zufolge ist ihr Aufenthaltsort also sehr nahe bei Gott, aber Jungfrauen gibt es an dem Ort wohl nicht. In ihrem Zustand würden sie mit denen auch nichts anzufangen wissen.

„Der Islam ist gegen Schwule.“
Wer der Islam ist, weiß ich noch immer nicht. In Büchern islamischer Rechtsgelehrter werden auf jeden Fall homosexuelle Handlungen scharf verurteilt. Handlungen, wohlgemerkt. Homosexualität als Krankheit bzw. Orientierung sind europäische Einfälle aus dem neunzehnten und zwanzigsten Jahrhundert.
Im wirklichen Leben dagegen gab es in der islamischen Welt eine für Europäer unglaubliche Toleranz. Bis in die höchsten Kreise, bis an den Hof des Kalifen. Die strengen Bücher ließ man einfach geschlossen. Die umfangreiche arabische Liebespoesie handelte überwiegend von Männerliebe. Frauen gab es für die Ehe und die Fortpflanzung, tiefe Gefühle hatte man für Männer, Sex auch mit Jungen.
Im neunzehnten Jahrhundert änderte sich das, als man anfing den Westen zu imitieren. Das viktorianische England lehnte Homosexualität rigoros ab. Wo möglich setzten britische Behörden strenge Gesetze in Kraft, aber auch wo das nicht geschah, schlug die Haltung in Ablehnung um. Nach der Kolonialzeit fing man in den unabhängig gewordenen Staaten an die eigenen alten juristischen Texte wortwörtlich zu nehmen und sogar anzuwenden; Unzweideutigkeit war ja modern. Das führte fortan auch im islamischen Kulturkreis zu harten Strafen für Verhaltensweisen, die vor der Moderne jeder dort hingenommen hätte.
Es war einfach Pech für die islamische Welt, wie auch für Indien, China und Afrika, dass ausgerechnet das sexuell ungeschickte England und Europa den Ton angaben. Das hat tiefe Spuren hinterlassen.

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