Mohammeds Selbstmordvorhaben

In at-Tabarīs großem Geschichtswerk steht auch Ibn Ishāqs Erzählung über Mohammeds erstes Offenbarungserlebnis auf dem Berg Hirā’. Sie ist dem Propheten selbst in den Mund gelegt; wer sonst wäre als Quelle plausibel? Die ganze Erzählung wird in diesem Lesewerk auch mal abgedruckt werden; für den Augenblick beschränke ich mich auf den Selbstmordgedanken des Propheten. Er hat gerade erzählt, wie ihm Djibrīl (Gabriel) im Traum die ersten Koranverse übermittelt habe; dann fährt er fort:

  • … Dies rezitierte ich; dann ließ er mich los und ging weg, und als ich aufwachte war es, als wäre es in mein Herz geschrieben.
    Nun gab es kein Geschöpf, das mir verhasster war als Dichter und Besessene; ich konnte sie einfach nicht riechen. Und ich dachte: „O wehe, dieser Nichtswürdige“—er meinte sich selbst—„ist ein Dichter oder Besessener. Aber das werden die Quraisch nie von mir sagen! Ich werde hoch auf den Berg steigen und mich herunterstürzen und töten; dann habe ich Ruhe.“ In der Absicht machte ich mich also auf den Weg, aber als ich mitten auf dem Berg war, hörte ich eine Stimme vom Himmel: „Mohammed! Du bist der Gesandte Gottes, und ich bin Djibrīl.“ …1

Diese Fassung der Erzählung ist wenig bekannt; meistens liest man Ibn Ishāqs Erzählung in der Rezension des Ibn Hishām, die für viele „die“ Biografie des Propheten ist:

  • … Dies rezitierte ich; dann ließ er mich los und ging weg, und als ich aufwachte war es, als wäre es in mein Herz  geschrieben. Ich machte mich also auf den Weg, und als ich mitten auf dem Berg war, hörte ich eine Stimme vom Himmel: „Mohammed! Du bist der Gesandte Gottes, und ich bin  Djibrīl.“ …1

Ibn Hishām hat das mit dem Selbstmordgedanken herausgeschnitten und die beiden verbleibenden Texthälften etwas krude wieder zusammengenäht. Die Naht ist deutlich erkennbar. Warum hat er das getan? Er wollte offensichtlich keinen Text herausgeben, in dem etwas Negatives über Mohammed vorkommt. Aber darin zeigte er wenig Gespür für Erzählen und für islamische Theologie. Denn ist es nicht plausibel, dass Mohammed, der dem Koran zufolge ein normaler Mensch war, in dem Augenblick äußerst bedrückt gewesen sei? Nicht nur Propheten wissen, dass einer mystischen Erfahrung oft depressive Gefühle folgen. Überdies wirkt so in der Erzählung die Aufhebung aus dem Tief umso schöner. Gott greift sofort ein: So bald Mohammed den Berg hochsteigt, bekommt er abermals eine mystische Vision und es erscheint ihm der Engel über die ganze Breite des Himmels.2 Wenn das keine erbauliche Geschichte ist! Eigentlich ist sie erst schlüssig durch den Selbstmordgedanken. Gott bietet Perspektive bei Trübsinn, Gott schützt seinen Propheten vor dem Bösen, genau wie hier. Aber nein, der brave Ibn Hishām verstand so etwas nicht, und wohl mit dadurch ist sein Buch ein Bestseller geworden.

Die Möglichkeit den Propheten überhaupt an Selbstmord denken lassen zu können wird durch Koran 18:6 dargereicht: فلعلك بـٰخع نفسك على أثـٰرهم إن لم يؤمنوا بهذا الحديث أسفا . „Vielleicht willst du, wenn sie an diese Verkündigung nicht glauben, dich selber umbringen […],“ und durch K. 26:3:  لعلك بـٰخع نفسك ألاّ يكونوا مؤمنين . „Vielleicht willst du dich selber umbringen, weil sie nicht gläubig sind.“ Zwar hat Ullmann3 nachgewiesen, dass das dort verwendete Wort bākhi‘ nicht „umbringen“ bedeutet, aber viele Koranausleger haben es doch so aufgefasst, und der Erzähler des obigen Textes könnte das ebenfalls getan haben..

ANMERKUNGEN
1. At-Tabarī, [Ta’rīkh al-rusul wal-mulūkAnnales, hrsg. M.J. de Goeje et al., 14 Bde., Leiden 1879–1901, i, 1150.

قال: فقرأتها ثم انتهى فانصرف عني وهببت من نومي ، فكأنما كتبت في قلبي كتابا. (قال: ولم يكن من خلق الله أحد أبغض إلي من شاعر أو مجنون، كنت لا أطيق أن أنظر إليهما، قال: قلت إن الأبعد – يعني نفسه – لشاعر أو مجنون، لا تحدث بها عني قريش أبدا! لأعمدن إلى حالق من الجبل فلأطرحن نفسي منه فلأقتلنها فلأستريحن.) قال: فخرجت (أريد ذلك) حتى إذا كنت في وسط من الجبل سمعت صوتا من السماء يقول : يا محمد، أنت رسول الله وأنا جبريل.

Ibn Hishām hat denselben Text, aber er hat die eingeklammerten Teile gestrichen: Das Leben Muhammed’s nach Muhammed Ibn Ishâk bearbeitet von Abd el-Malik Ibn Hischâm, ed. F. Wüstenfeld, Göttingen, 2 Tle., 1858–60, i, 153.
2. Oder ist es Gott selbst? Vgl. Koran 53:8–10: . ثم دنا فتدلّى فكان قاب قوسين أو أدنى فأوحى إلى عبده ما أوحى  „Hierauf näherte er sich und kam (immer weiter) nach unten und war (schließlich nur noch) zwei Bogenlängen entfernt oder noch näher; darauf offenbarte er seinem Knecht das, was er offenbarte.“ Wenn das Subjekt Gabriel ist, ist „sein Knecht“ merkwürdig. Mohammed ist Gottes, nicht Gabriels Knecht.
3. Manfred Ullmann, „Wollte Mohammed Selbstmord begehen? Die Bedeutung des arabischen Verbums baha‘a,“ in Die Welt des Orients 34 (2004), 64–71.

Diakritische Zeichen: aṭ-Ṭabarī, Ibn Ishāq, Ḥirāʾ, Ǧibrīl, Ibn Hišām, Taʾrīḫ, bāḫiʿ, baḫaʿa

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Dickicht im Koran

In vier Koranversen komt das arabische Wort ’aika, „Dickicht“ vor:

  • Die Leute des Dickichts (الأَيْكَةِ) waren ebenfalls Frevler und wir rächten uns an ihnen. (Koran 15:78–9)
  • Die Leute des Dickichts (لْئَيْكَةِ) ziehen (seinerzeit) die Gesandten (Gottes) der Lüge. (K. 26:176)
  • … desgleichen die Thamūd, die Leute von Lot und die Leute des Dickichts (لْئَيْكَةِ). Das sind die Heidenvölker (?) (K. 38:13)
  • … die Leute des Dickichts (الأَيْكَةِ) und die Leute des Tubba‘. Alle habn die Gesandten der Lüge geziehen. Und so ist meine Drohung in Erfüllung gegangen. (K. 50:14; Übersetzungen nach R. Paret)

Bei näherer Betrachtung steht zweimal al-’aika und zweimal ein merkwürdig geschriebenes l-’aika, obwohl sich das Wort in allen Stellen auf dasselbe bezieht. Offensichtlich liegt eine Inkonsequenz in der Rechtschreibung vor, wie sie öfter im Koran vorkommt. In manche Koranversionen steht sogar laika ohne hamza (Apostrophe, Glottisschlag). → Puin weist daraufhin, dass mit Laika ein Eigenname, wohl ein Ortsname gemeint sein muss, was manchmal noch an der Kasusendung ersichtlich wird und wie es einige Korankommentare noch wussten oder annahmen. Was liegt dann näher als eine kleine Emendation, eine Textänderung? Deshalb schlug Puin vor, an allen Stellen laika zu lesen. Das rätselhafte „die Leute des Dickichts” (’aṣḥāb al-’aika) im Koran könnte dann durch „die Leute von Laika“ ersetzt werden.
Dieser Ort müsse sich wohl im Nordwesten Arabiens befinden, da alle vier Koranverse in Geschichten vorkommen, die dort spielen. Puin zufolge ist die Hafenstadt Leukē Komē (Λευκή Kώμη) an der Nordwestküste Arabiens gemeint, die seit der Antike bekannt war. Der römische General Aelius Gallus traf im Jahr 25 v. Chr. mit mehr als zweihundert Schiffen in Leukē Komē ein; von dort aus startete er seine (völlig erfolglose) Überlandexpedition in den Jemen.

Pikant ist, dass hier eine Textänderung im arabischen Korantext vorgenommen wird, was für viele Verehrer der islamischen heiligen Schrift ein großes Tabu ist, zumal wenn ein Nicht-Muslim sie vornimmt. Aber wenn man es genauer betrachtet, haben die alten islamischen Gelehrten ebenfalls in den Korantext eingegriffen, indem sie heimlich die Vokalzeichen änderten, einen Artikel hinzufügten und nach Möglichkeit auf die Einheitslesart al-‚aika hinarbeiteten. Früher dachte man sich nichts dabei.

Vielleicht wird jemand einwenden: „Aber warum ein Ortsnahme? Wir kennen die Leute des Dickichts doch? Von ihnen wird ja in Korankommentaren und Prophetenerzählungen berichtet.“ Das sagt aber gar nichts. Die frühesten Koranausleger, die Erzähler (quṣṣāṣ), „wussten“ immer alles. Zum Beispiel, dass dieser Name ein altes arabisches Volk unweit von Midian bezeichnete, das nicht auf seinen Propheten hören wollte und deshalb in einem göttlichen Strafgericht unterging. Nehmen wir an, die ursprüngliche Lesart war Laika, aber man hat den Ort nicht (mehr) gekannt und fand das Wort unverständlich. Ein Ausleger kam dann auf die Idee, stattdessen al-’aika zu lesen, ein Wort, das für ihn Sinn ergab, und seitdem existierten die „Leute des Dickichts“. Sie sind frei erfunden, wie so vieles in der Koranexegese. Als das Dickicht einmal da war, ging es nicht mehr weg und es entstanden natürlich fantastische Erzählungen über Menschen in oder bei einem Dickicht. → Nawas zufolge gibt es deren mindestens vier.

Mit der Annahme, dass Laika ein Ortsname ist, könnte Puin durchaus Recht haben. Die Lage des nabatäischen Hafen- und Umschlagplatzes Leukē Komē ist inzwischen bekannt: Es ist Wādī ’Ainūna mit seinem Hafen Khuraiba, eine nördliche Station auf der Karawanenstraße von Petra zum Hedschas. Das war bereits im 19. Jahrhundert vorgeschlagen, aber auch wieder verworfen worden. Die richtige Lage wurde lange diskutiert (→ Puin → Nappo): Es wurden mehrere Orten weiter südlich vorgeschlagen, bis hin zu Yanbu‘, dem Hafen von Medina. Puin dachte sogar an einen Hafen, von dem er vermutete, dass er einst existiert hätte und durch ein Seebeben zerstört worden sei. Ich bin weder Archäologe noch Historiker, aber der neuere Artikel von → Juchniewicz überzeugt mich, weil er auch die Probleme der Schifffahrt auf dem Roten Meer mit antiken Schiffen berücksichtigt. Das Rote Meer war aufgrund der meist nördlichen Winde, der vielen Felsen und Riffe entlang der Küste und des Mangels an sicheren Häfen schwer befahrbar. Al-‘Ainūna hat eine geräumige, gut geschützte Bucht, in der die mehr als zweihundert Schiffe von Aelius Gallus sicher ankern konnten. Und Archäologen fanden dort ein komplettes emporium und eine Wasserleitung. Das südlichere al-Wajh hatte einen viel kleineren, weniger geschützten Hafen, in dem nur wenige römischen oder nabatäische Überreste gefunden wurden. Al-‘Ainūna war auch eine Station für Kamelkarawanen und offensichtlich ein Ort, an dem Waren, die für Petra und darüber hinaus bestimmt waren, auf Kamele umgeladen werden konnten. Vom Süden nach Aila (‘Aqaba) weiter zu segeln war nämlich wegen des fast immer vorherrschenden Gegenwindes schwierig. Noch im neunzehnten Jahrhundert brauchten Segelschiffe sechs Tage, um die 150 Km. durch den Golf von Aqaba zurückzulegen.(1)

Dennoch ist die Gleichsetzung von Laika mit Leukē Komē nicht sehr glaubwürdig. Die deutsche Aussprache von leukē ist nicht weit entfernt von laika. Aber im Griechischen aus der Zeit des Korans muss es sich wie lefkí angehört haben, mit Betonung auf der letzten Silbe. Natürlich kann man meinen, dass sich in diesem Ortsnamen die klassische griechische Aussprache von Jahrhunderten zuvor erhalten hatte, aber das müsste erst einmal nachgewiesen werden. Und wo ist Komē geblieben? Und warum sollten Araber überhaupt einen griechischen Namen für diesen Ort verwendet haben? Nein, alles in allem sind die Beweise dafür, dass mit Laika dieser Hafen gemeint ist, zu dünn. Ich bleibe also noch im Dickicht stecken.

 

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ANMERKUNG
1. Aus dem gleichen Grund benutzten die Römer Berenice als ägyptische Endstation für ihre Indienfahrer und nicht Clysma (= ± Qulzum, Suez). Die Reise auf Kamelen von Berenice nach Coptos am Nil dauerte zwölf Tage, war aber offenbar der Reise durch den nördlichen Teil des Roten Meeres vorzuziehen.

BIBLIOGRAPHIE
– Karol Juchniewicz, ‘The port of Aynuna in the pre-Islamic period: nautical and topographical considerations on the location of Leuke Kome,’ Polish Archaeology in the Mediterranean 26/2, 2017, Special Studies, 31–42. Illustriert, auch Kartenmaterial. Hier online.
– Dario Nappo, ‘On the Location of Leuke Kome, ’ Journal of Roman Archaeology (23) 2010, 335–348.
– John Nawas, ‘People of the Thicket,’ in Encyclopaedia of the QurʾānHier online, aber nur für Abonnenten.
– Gerd-R. Puin, ‘Leuke Kome / Layka, die Arser/Aṣḥāb al-Rass und andere vorislamische Namen im Koran: Ein Weg aus dem ‘Dickicht’?’ in Karl-Heinz Ohlig en Gerd-R. Puin (uitg.), Die dunklen Anfänge, Neue Forschungen zur Entstehung und frühen Geschichte des Islam, Berlijn 2005, 317–340.

Auch erschienen in zenith 01/2021.

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Mohammed und die Juden

Dieses Thema ist zu groß und zu kompliziert, um es hier umfassend zu behandeln. An dieser Stelle werde ich nur erklären, weshalb es so schwierig ist.

Die drei wichtigsten alten arabischen Quellentexte, in den Juden vorkommen, passen nicht zu einander. Und auch die erhaltenen Fetzen alter Poesie, die fantastischen Erzählungen im Hadith sowie die Behandlung des Themas in späteren Geschichtswerken führen nicht weiter.
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1. Der Koran nennt die Juden bei Namen (yahūd) und erwähnt sie darüber hinaus, zusammen mit den Christen, auch als „die Leute der Schrift,“ (ahl al-kitāb). Die Juden werden bald zu den Gläubigen, bald zu den Ungläubigen gezählt. Ihre Sünden in der Vergangenheit werden mit religiösen Begriffen beschrieben, die zum Großteil mit denen im Neuen Testament parallel laufen: Die Juden haben Propheten getötet und wollten auch Jesus töten; sie haben sich nicht an die Regeln ihrer eigenen Thora gehalten und die Meisten betrachten sich als das auserwählte Volk — zu Unrecht! Viele dieser Sünden haben sie laut Koran übrigens mit den Christen gemeinsam.
In der Entstehungszeit des Korans kam noch der Vorwurf hinzu, dass die Juden die Schrift verfälscht (z. B. in Vers 4:46) und Teile davon den Gläubigen verheimlicht hätten (2:76), während sie andererseits die Echtheit des Korans nicht anerkannten. Ihr Monotheismus ist keineswegs lupenrein: Unter anderen betrachteten sie Esra (‘Uzair) als Sohn Gottes. Den wahren Gläubigen seien sie feindselig gesonnen. Wegen ihrer falschen Einstellung Schrift und Gesetz gegenüber wird Gläubigen geraten, sich mit Juden und Christen nicht anzufreunden (5:51).
Die Einwände gegen die Juden im Koran sind also vorwiegend religiöser Natur. Aber es werden auch Kriegshandlungen genannt, zu denen Juden angestiftet hätten (5:64). Die „Ungläubigen unter den Leuten der Schrift“ waren jedoch selbst untereinander uneins und haben deshalb den Kampf verloren. Gott hat sie aus ihren Festungstürmen heruntergeholt (33:26–27) und die Gläubigen haben ihre Häuser zerstört (59:2).
Was der Koran zu den Juden, bzw. zu den Leuten der Schrift zu sagen hat → Rubin schön zusammengefasst.
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2. Das Dokument von Medina1 (kitāb) war ein Bündnisvertrag zwischen Muhammad und den anderen Emigranten aus Mekka mit den Bewohnern Medinas, den „Helfern“, unter denen auch Juden waren. Einige Zitate aus → Wellhausens Übersetzung (1889):

  • Die Schutzgemeinschaft Gottes ist eine einzige und allgemeine; die Schutzgewähr verpflichtet alle. Die Gläubigen sind sich gegenseitig zu Schutz verpflichtet gegen die Menschen.
  • Die Juden, die uns folgen, bekommen Hilfe und Beistand; es geschieht ihnen kein Unrecht und ihre Feinde werden nicht unterstützt.
  • Die Juden der ‘Auf behalten zwar ihre Religion, bilden aber eine Gemeinde (umma) mit den Gläubigen.
  • Die Juden der Aus, ihre Beisassen und sie selber, haben die gleiche Stellung wie die Genossen dieser Schrift […].

Neben den ‘Auf und den Aus werden weitere Stämme erwähnt, jeder mit seinen eigenen Juden. Es scheint, dass diese in einer untergeordneten Position Teil des jeweiligen Stammes waren. Das Dokument muss sehr alt sein, es enthält etliche unverständliche Wörter und Termini. Wellhausens Übersetzung mag zu wünschen übrig lassen; zu befürchten ist aber, dass die anderen Übersetzungen auch nicht besser sind.
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3. Die Standarderzählung über Mohammeds Abrechnung mit den Juden aus Ibn Ishāqsira in der Bearbeitung von Ibn Hishām kennen Sie wahrscheinlich.2 Sie steht in jedem einführendes Buch zum Islam. Es gibt auch andere sira-Quellen, in denen sie vorkommt. Laut dieser Erzählung suchte Mohammed erst eine Annäherung an die jüdischen Stämmen in Medina, nämlich Quraiza, an-Nadīr und Qainuqā‘. Diese machten aber gemeinsame Sache mit seinen Feinden, verrieten ihn und wurden deshalb bestraft: Grund und Besitz wurden ihnen abgenommen, sie wurden vertrieben, zum Teil sogar ausgerottet, und in Arabien durften nie wieder Juden leben.
Diese Erzählung ist historiographisch jedoch fast nichts wert, denn sie ist vor allen Dingen eine ausführliche Exegese bestimmter Koransuren und will in einigen Punkten Präzedenzfälle für die Rechtsgelehrtheit bieten. Dies hat → Schöller in seinem Exegetisches Denken nachgewiesen. Das Buch erschien bereits 2008, wurde aber kaum wahrgenommen, womöglich weil es die – nicht nur von Muslimen – fast wie ein Dogma behandelte traditionelle Überlieferung widerlegt. Oder man fand es einfach zu schwierig: Das Buch ist nur für klassisch ausgebildete Arabisten genießbar.3
In der ganzen sira ist die Gesinnung oft ausgesprochen judenfeindlich. Merkwürdig ist aber, dass der Erzähler bei den Hinrichtungs- und Ausrottungsszenen manchmal den jüdischen Opfern gegenüber mitleidsvoll ist. Im alten Arabien war man nie so empfindsam bei der Ausrottung von Sippen, aber in diesem Fall durchaus. Warum ist noch unklar.
Die sira enthält auch ein großes Kapitel4 voller „Berichten“ von Streitgesprächen zwischen dem Propheten und einigen seiner Gefährten mit arglistigen jüdischen Rabbinern. Auch diese sind Koranauslegung, und zwar der Sura 2:1–100.
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Die drei in der Standarderzählung erwähnten selbständigen jüdischen Stämme kommen im „Dokument von Medina“ nicht vor; die dort genannten Juden wiederum nicht in der Standarderzählung. Der Koran nennt überhaupt keine Namen und redet weder von einem Bündnis noch von dessen Verletzung.
Wenn die Standarderzählung in der sira überwiegend Koranexegese ist, kann sie schwerlich als historische Quelle verwendet werden. Das »Dokument« wiederum muss von vor dem Bruch zwischen Muslimen und Juden datieren — aber wann ergab sich dieser Bruch? Als Muhammad noch lebte – oder erst hundert Jahre später? In einem gewissen Augenblick fingen die Muslime ja an, sich von den jüdischen Texten zu distanzieren, die sie anfangs schon bei ihrer Koranauslegung und in der sīra verwendet hatten, nämlich die Bibel und die jüdischen Prophetenlegenden. Diese sogenannten isrā’īlīyāt wurden ab dem 8. Jahrhundert von Muslimen immer unakzeptabeler gefunden. Es ist denkbar, dass die älteste Geschichte des Islams bei dieser „Entbibelung“ noch mal überholt worden ist und dass bei dieser Gelegenheit anti-jüdische Gefühle in die Vergangenheit zurückprojiziert wurden. Das macht es noch schwieriger zu erkennen, was zu Mohammeds Zeit wirklich geschah.
Es gab etliche moderne Autoren, die eine zusammenhängende Erzählung nachstreben, indem sie die drei heterogenen Hauptquellen mit einander in Einklang zu bringen versuchten. Meist sind sie von der Standarderzählung ausgegangen – deren fiktiver Charakter mittlerweile nachgewiesen ist – und haben ihre Interpretation der beiden anderen Quellen daran »angepasst«. Solche Harmonisierungsversuche können nicht befriedigen. Es ist ehrlicher zuzugeben, dass wir über die Geschehnisse wenig bis gar nichts wissen. Andere Autoren wissen oder spüren das; unter ihnen gibt es einige, die mit postmoderner Gleichgültigkeit erklären, dass es nicht wichtig ist, was damals wirklich geschah. Ihnen geht es ja um Analyse, Interpretation und Kontextualisierung der Erzählungen.

Was in Wirklichkeit geschehen oder vielmehr nicht geschehen ist, ist aber doch von Interesse. Dass zu Muhammads Umgang mit den Juden kein zuverlässige Auskunft existiert, hindert die Menschen nämlich nicht daran, das Thema zu instrumentalisieren. Moderne muslimische Judenhasser berufen sich auf die Standarderzählung, um die Juden noch mal so richtig hassen zu können. Moderne Muslimhasser berufen sich auf dieselbe Erzählung, um Mohammed als mordlustigen, von Hass erfüllten Antisemit zu schildern. Bis vor kurzem waren einige von ihnen vielleicht selbst noch Antisemiten; die islamische Standarderzählung, die sie für sich frisch entdeckt und glatt für wahr gehalten haben, macht es ihnen leichter auf Muslimhass umzusteigen, was einen Tick moderner erscheint. Und das, obwohl kein Mensch herausfinden kann, was damals wirklich geschah. Wenn man wenigstens das eingestehen würde, müsste man gleich viel weniger hassen und schimpfen.

6.9.2013 Auch veröffentlicht in zenith, Nov./Dez. 2013, S. 110–111.

ANMERKUNGEN
1. Auf Deutsch oft „die Gemeindeordnung von Medina“, auf Englisch „the constitution of Medina“ genannt. Ibn Isḥāq, arabische Text, 341–44; Deutsch in Wellhausen, 67–73, online hier; Englisch: Guillaume, 231–33, online hier; Watt 221-225, Lecker@. Humphreys bietet eine wertvolle Einführung zum „Dokument“; mit Bibliographie.
2. Ibn Isḥāq, arabische Text: 545–547, 652–661, 680–697; Deutsch: Rotter 160–162, 176–181, 204–207; Englisch: Guillaume 363–364, 437–445, 458–468 und viele andere Stellen.
3. Aber man könnte doch wenigstens sein „Zusammenfassung und Ergebnis“ zur Kenntnis nehmen, S. 463–468.
4. Ibn Isḥāq: Arabische Text: 361–400; Deutsch: Rotter116–123; Englisch: Guillaume 246–270.

BIBLIOGRAPHIE
– Ibn Isḥāq: Arabische Text: Das Leben Muhammed’s nach Muhammed Ibn Ishâk bearbeitet von Abd el-Malik Ibn Hischâm, Hrsg. F. Wüstenfeld, Göttingen 1858–60, Deutsche Übersetzung: Ibn Isḥāq, Das Leben des Propheten, Übers. Gernot Rotter, Kandern 1999.; Englische Übersetzung: A. Guilaume, The Life of Muhammad, A Translation of Isḥāq’s (sic!) Sīrat Rasūl Allāh, Oxford 1955.
– Moshe Gil, „The Constitution of Medina. A Reconsideration,“ Israel Oriental Studies 4 (1974), 44–65.
– R. Stephen Humphreys, Islamic History. A Framework for InquiryRevised Edition, London/New York 1991. Die S. 92–98 enthalten eine wertvolle Einführung in das „Dokument von Medina,“ mit Bibliographie.
– Michael Lecker, The ‘Constitution of Medina’. Muḥammad’s First Legal Document, Princeton, New Jersey 2004.
– Paul Lawrence Rose, Muhammad, „The Jews and the Constitution of Medina: Retrieving the historical Kernel,“ Der Islam 86 (2011), 1–29.
– Uri Rubin, „Jews and Judaism,“ Encyclopaedia of the Qurʾān. Hrsg. Jane Dammen McAuliffe, Leiden 2001–2006 (iii, 21–34).
– Günter Schaller, Die „Gemeindeordnung von Medina“. Darstellung eines politischen Instruments. Ein Beitrag zur gegenwärtigen Fundamentalismus-Diskussion im Islam, Augsburg, Univ.-Diss. 1983.
– Marco Schöller, Exegetisches Denken und Prophetenbiographie: eine quellenkritische Analyse der Sīra-Überlieferung zu Muḥammads Konflikt mit den Juden, Wiesbaden 2008.
– W. Montgomery Watt, Muhammad at Medina, Oxford 1956, insbes. S. 221-228.
– Julius Wellhausen, „Mohammeds Gemeindeordnung von Medina“ in Skizzen und Vorarbeiten iv, Berlin 1889, 65-83. Online hier verfügbar.

Diakritische Zeichen: Ibn Isḥāq, Ibn Hišām, Quraiẓa, an-Naḍīr, Qainuqāʿ

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Neues aus der Arabistik: Koranforschung – 2

Fortsetzung von Neues aus der Arabistik: Koranforschung – 1

Der Kopist aus dem Beispiel in der 1. Lieferung  war noch recht bescheiden. Es ging auch drastischer. Als David →Powers zum frühislamischen Erbrecht arbeitete, traf er auf eine folgenschwere Textänderung.

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Sie steht auf einer Seite (fol. 10b) aus dem Codex Parisino-petropolitanus, 1 auch bekannt als Handschrift BNF 328a der Bibliothèque Nationale de France. Dank weitestgehender Digitalisierung der Pariser Bibliothek bekommt man den Text in wenigen Sekunden auf den Bildschirm; früher hätte so etwas viel Mühe und Geld gekostet. Die Handschrift hat einen so langen Namen, weil ein Teil sich in Paris befindet, ein anderer Teil in St. Petersburg und einige Blätter im Vatikan. Sie ist eine der ältesten Koranhandschriften und datiert wahrscheinlich noch aus dem siebten Jahrhundert.
Sie sehen es selbst: In der 4. Zeile von unten hat jemand den Text in schwärzeren Buchstaben und in einem anderen Schreibstil überschrieben. In noch zwei anderen Zeilen und an etlichen anderen Stellen in dieser Handschrift ist das auch der Fall.
Das Interessante ist, dass die korrigierte Fassung mit dem heutzutage gängigen Korantext übereinstimmt und eine ältere, näher am Original stehende Fassung überdeckt. Mit infra-rotem Licht und anderen technischen Hilfsmitteln hat Powers den älteren Text sichtbar gemacht und so einen Einblick in die Textgeschichte des Korans gewährt, der offensichtlich doch nicht ganz fertig vom Himmel herabgesandt wurde.
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Der Korantext, der Powers in Bezug auf das Erbrecht besonders interessierte, war der Doppelvers 4:11–12. Ich werde ihn hier nicht ganz zitieren: Es ist ein langer und schwieriger Text und es geht mir nicht um das Erbrecht, sondern um Korrekturen in Koranhandschriften. Powers hat die Pariser Handschrift durchleuchtet und befunden, dass zwei Korrektoren sie bearbeitet haben. Der ursprüngliche Kopist hatte in 12b offensichtlich geschrieben: واﮞ كاں رحل ىورٮ كله او امراه ولها اح او احٮ  wa’in kāna raǧulun yūriṯu kallatan aw imra’atan wa-lahā aḫun aw uḫtun, „Wenn ein Mann eine Schwiegertochter(?) oder eine Frau beerbt, und sie einen Bruder oder eine Schwester hat…“
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„Sie“ war einfach ein Fehler, den der erste Korrektor, wohl identisch mit dem ursprünglichen Kopisten, in ‘er’ veränderte. Die kalla, „Schwiegertochter“ ist problematisch, denn da
s Wort gibt es im Arabischen nicht. Powers geht unter Berufung auf andere semitische Sprachen davon aus, dass „Schwiegertochter“ die richtige Bedeutung gewesen sein muss. Aber der erste Korrektor, dem das Wort wohl auch nicht bekannt war, veränderte kalla in kalāla, „seitliche Verwandtschaft“, vielleicht weil diese Lesart ihm von ganz oben aufgedrängt wurde. Jetzt brauchte man eine andere Vokalisierung um dem Vers wenigstens noch etwas an Bedeutung abzuringen: واﮞ كاں رحل ىورٮ كلله او امراه وله اح او احٮ   wa’in kāna raǧulun yūrathu kalālatan aw imra’atun wa-lahu aḫun aw uḫtun,  „Und wenn ein Mann von seitlicher Verwandtschaft (kalāla) beerbt wird, oder eine Frau, und er einen Bruder oder eine Schwester hat, …“
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Der zweite Korrektor hat den Text nicht geändert, sondern nur die Korrekturen des ersten Korrektors mit frischer schwarzer Tinte überdeckt. Aufgrund der Schrift und der Tinte kann man annehmen, dass er das schätzungsweise zwei Jahrhunderte später getan hat. 
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Der „korrigierte“ Text stimmt mit dem des heutigen Korans überein: وَإِن كَانَ رَجُلٌ۬ يُورَثُ ڪَلَـٰلَةً أَوِ ٱمۡرَأَةٌ۬ وَلَهُ أَخٌ أَوۡ أُخۡتٌ۬
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Die Korrektur war nicht erfolgreich, denn der Vers wurde dadurch unverständlicher als zuvor. Das fiel den frühesten Hörern, bzw. Lesern gleich ins Auge, so dass sie eine Erklärung verlangten. Die bekamen sie noch im Koran selbst, in Vers 4:176: يَستَفتونَكَ قُلِ اللَّهُ يُفتيكُم فِي الكَلالَةِ إِنِ امرُؤٌ هَلَكَ لَيسَ لَهُ وَلَدٌ وَلَهُ أُختٌ فَلَها نِصفُ ما تَرَكَ „Sie fragen dich um Belehrung. Sprich: ‘Allah belehrt euch über die seitliche Verwandtschaft (kalāla): Wenn ein Mann stirbt und keinen Sohn hat, aber eine Schwester  … usw.‘“—dieser Vers ist durchaus verständlich. 
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Dies ist kein einfacher Stoff. Ich habe ihn ganz kurz zusammengefasst und bin auf die Inhalte der Verse nicht einmal eingegangen. Powers widmet der Sache sein ganzes Kapitel 8. Aber ersichtlich ist: Ein früher Abschreiber hat ein schwieriges Wort im Koran geändert und dadurch einen Vers ruiniert. Im 9. Kapitel ist bei Powers nachzulesen, wie diese Änderung auf die Koranauslegung und das Recht gewirkt hat. Denn als das Wort kalāla einmal in Koran 4:12 stand, war es nicht länger möglich, es wegzuschaffen und musste der jetzt schwierige Vers auch eine Bedeutung bekommen. Diese zu basteln hat die Schriftgelehrten viel Arbeit gekostet. 

Für mehr umfassende Textänderungen im Koran siehe das Palimpsest von Ṣan‘ā’.1

Hat es in der Bibel auch solche Textänderungen gegeben? Bestimmt, aber davon weiß ich nicht viel. Im Alten Testament werden sie aber schwieriger festzustellen sein, weil zwischen der Entstehung des Textes und den ältesten erhaltenen Handschriften Jahrhunderte liegen. Beim Koran dagegen ist man fast Augenzeuge der Textgestaltung. Wenn man nur hinguckt.

ANMERKUNG
1. Die Wikipedia-Artikeln zu solchen Themen sind nicht sehr zuverlässig, aber sie bieten einen ersten Eindruck,.

BIBLIOGRAFIE
David Powers, Muḥammad Is Not the Father of Any of Your Men. The Making of the Last Prophet, Philadelphia 2009, vor allem Hst. 8.

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Neues aus der Arabistik: Koranforschung – 1

Vor fast sechs Jahren wurde ich pensioniert und seitdem habe ich die Entwicklungen in der Arabistik kaum noch verfolgt. Manchmal bedaure ich das, weil in diesen wenigen Jahren im Fach sehr viel passiert ist. Ich werde mich nicht bemühen, alles noch nachzuholen, aber hin und wieder bekomme ich zufälligerweise wichtige Entwicklungen mit und es schadet nicht, darauf kurz hinzuweisen.
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Die Kenntnis der alten Sprachen Arabiens hat spektakulär zugenommen. In Nordwestarabien sind zehntausende Inschriften auf Steinen gefunden worden, die allmählich entziffert werden. Die sind meist nicht in Hocharabisch geschrieben. Früher lernte man, dass in Arabien unterschiedliche arabische Dialekte gesprochen wurden, überwölbt durch eine Hochsprache, in der sowohl die alte Poesie wie auch der Koran abgefasst waren. Im Jemen gab es altsüdarabische Sprachen, in Syrien Aramäisch und Griechisch, im Irak Aramäisch und Persisch und das war ungefähr alles
. Aber dank der Arbeit von Experten auf diesem Gebiet, unter denen Ahmad al-Jallad herausragt, stellt sich die Sprachsituation Altarabiens inzwischen ganz anders da: Man hat viele bisher unbekannte Schriften und Sprachen entdeckt. Einen schnellen Einblick in al-Jallads Arbeit bieten seine Seite bei Twitter und auch diese Karte von seiner Hand:


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Diese neuen Kenntnisse werden die Koranforschung ändern. Meinte Chr. Luxenberg (Pseud.) noch, dass der Koran „eigentlich“ auf Syrisch geschrieben sei, so kennt man jetzt mehr Sprachen, die auf Grammatik, Wortschatz und Rechtschreibung des Korans Einfluss gehabt haben könnten. Anzunehmen ist, dass auch eine alte Diskussion wieder aufleben wird: Ist die vorislamische Poesie wirklich als vorislamisch zu betrachten, wenn es um die
 Hochsprache auf der Halbinsel vielleicht doch anders stand, als man früher annahm?
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Die Koranforschung hat einen mächtigen Aufschwung genommen. Textkritik, zum Beispiel: endlich wird mal ernsthaft auf die alten Handschriften geschaut, wird die Rechtschreibung und die Redaktionsgeschichte des Korans studiert. Und die Intertextualität: die Beziehungen zwischen dem Koran und christlichen und jüdischen Literaturen berücksichtigt; siehe z.B. Corpus Coranicum.
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Hier gebe ich zwei Beispiele. Einigen Gelehrten ist es aufgefallen, dass in Koranversen mit einem problematischen oder unerwünschten Inhalt in der alten Zeit relativ viele Textänderungen durchgeführt wurden oder dass das versucht worden ist.
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Ghilène Hazem referierte in einer Konferenz in Helsinki über seine Hypothese, dass ‘theologically problematic verses might have left traces at a manuscript level’: bei schwer verdaulichen Versen können Kopisten in den Handschriften Spuren ihrer Zweifel oder sogar ihrer Meinungen hinterlassen haben. Hazems Ergebnisse werden bestimmt veröffentlicht, aber das kann nach einer Konferenz lange dauern; deshalb hat er im Voraus etwas bei Twitter vorveröffentlicht.
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Dort weist er auf Koran 38:17–18 hin:
اصبِر عَلىٰ ما يَقولونَ وَاذكُر عَبدَنا داوودَ ذَا الأَيدِ إِنَّهُ أَوّابٌ  إِنّا سَخَّرنَا الجِبالَ مَعَهُ يُسَبِّحنَ بِالعَشِيِّ وَالإِشراقِ
„Ertrage geduldig, was sie sagen und gedenke Unseres Knechtes David, des Kraftvollen. Er war bußfertig. Wir machten zusammen mit ihm (ma‘ahu) die Berge dienstbar, so dass sie [Uns] abends und bei Sonnenaufgang priesen.“
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Ist das nicht merkwürdig oder gar anstößig, dass David diesem Vers zufolge mithelfen darf, die Berge dienstbar zu machen? Viele moderne Übersetzer lassen das „zusammen mit“ in ihrer Übersetzung verschwinden, aber auch ein Kopist aus dem (frühen?) achten Jahrhundert fand es peinlich. Er schrieb das Wörtchen ma‘ahu, „zusammen mit ihm“ zwar ab, aber in Rot. So erfüllte er seine Pflicht, akkurat abzuschreiben, aber er drückte zugleich seinen Zweifel aus.

Der Zweifel des Kopisten war unberechtigt. Hazem weist noch auf Koran 21:79 hin: وَسَخَّرنا مَعَ داوودَ الجِبالَ يُسَبِّحنَ وَالطَّيرَ وَكُنّا فاعِلينَ  „Und zusammen mit (ma‘aDavid machten Wir die Berge dienstbar, so dass sie [Uns] priesen, und die Vögel ebenso. Wir haben das getan.“ Der Koran hatte es also wirklich so gemeint. Lectio difficilior potior, „die schwierigere Lesart ist besser“— wenn der Kopist auch kein Latein konnte, dieser Grundregel der Textkritik wird er sich bewusst gewesen sein. Aber es gibt auch einen Vers, der das Problem nicht hatte oder es auf anderer Weise aus der Welt schaffte: Koran 34:10 وَلَقَد آتَينا داوودَ مِنّا فَضلًا  يا جِبالُ أَوِّبي مَعَهُ وَالطَّيرَ „Wir haben einst David Unsere Huld erwiesen und sprachen: ‘O ihr Berge, singt zusammen mit ihm (ma‘ahu) preisende Kehrreime!, und ihr Vögel ebenso.’“
Hazem geht wohl zu Recht davon aus, dass die jüdische Davidlegende mehr Einblick in die Entwicklung des Motivs bieten wird, aber das ist ein anderes Thema.
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Fortsetzung: Neues aus der Arabistik: Koranforschung – 2.

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Ahad, ein noch unbekannter Gott

🇳🇱 Der Gott des Korans heißt Allāh, das weiß jeder. Viele wissen auch, dass das ursprünglich kein Eigenname war, sondern ein Substantiv mit Artikel: „der Gott“. Aber aufgrund seines göttlichen Wesens, seines Handelns und seiner Eigenschaften ist es vollkommen richtig, das Wort Allāh als Eigenname aufzufassen.
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Dieser Gott wird im Koran oft al-raḥmān genannt. Das bedeutet „barmherzig“ und hat den Status eines Adjektivs—anderen zufolge den eines Substantivs—bekommen. An vielen Stellen im Koran tritt das Wort aber als Eigenname auf, wenn es auch auf denselben Gott Bezug nimmt wie das Wort Allāh. Innerhalb des Korans gibt es Hinweise, dass ein al-Raḥman früher als separater Gott aufgefasst wurde, z.B. Koran 17: 110 قل دعوا الله أو دعوا الرحمن  „betet zu Allāh oder betet zu al-Raḥmān“. Außerhalb des Korans ist es noch deutlicher. Bereits hundert Jahre vor Mohammed wurde im Jemen auf einer Inschrift der Gott Raḥmānān erwähnt, mit der sabäischen Endung -ān, die den Artikel darstellt. Er war der mittel- und südarabische high god des Himmels und der Sterne. Er ist aufgegangen in „dem Gott“, der im Islam der Einzige geworden ist.
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In den letzten Jahren wurden in Arabien Tausende Felsinschriften aus vorislamischer Zeit gefunden
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  • He kept watch for his family while camping near water so O Aḥad and Allāt, may he who reads (this) have security and spoil.2

Hier werden also Schutz und Hilfe zweier Götter angerufen. Allāt ist eine Göttin, die auch aus dem Koran bekannt ist—wo sie natürlich als Göttin ausgedient hat. Aḥad war noch unbekannt. Aḥad ist ein gängiges arabisches Wort, das „einer“ oder „jemand“ bedeutet. Aber offensichtlich war es auch der Name eines Gottes. Wenn man so will, kann man ihn auch in der Bibel entdecken: שְׁמַע יִשְׂרָאֵל יְהוָה אֱלֹהֵינוּ יְהוָה אֶחָֽד „Höre Israël, der HERR ist unser Gott, der HERR ist Æḥad“ (5. Mose 6:4).
Für Muslime gilt aḥad als einer der „herrlichen Namen“ Gottes. Er kommt auch im Koran vor, in Sure 112: قل هو الله أحد „Sag: Er ist Allāh, ein Einziger,“ oder wenn wir das huwa weglassen (siehe dazu hier): „Allāh ist ein Einziger“. Ich kann mir die Frage nicht verkneifen: Haben wir es auch hier mit einer Gottheit zu tun, die mit „dem Gott“ gleichgesetzt wird: „Allāh ist Aḥad“? So wie er mit al-Raḥmān identisch ist, ist er so auch identisch mit Aḥad? Ein Koranvers und eine ziemlich alte Inschrift reichen nicht für eine Schlussfolgerung, aber ich behalte den Gedanken im Kopf. Sollte es so sein, so enthielte der letzte Vers der Sure ein Wortspiel: ولم يكن له كفوا أحد : „und nicht einer (aḥad) ist ihm ebenbürtig.“
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Der Eigenname ‘Abd al-Aḥad, „Knecht des Einen,“ ist islamisch. Muslime verwenden oft einen der „herrlichen Namen“ Gottes in dieser Manier. Kam er auch schon in vorislamischer Zeit vor? Nach einigem Blättern in Namenlisten scheint mir das nicht der Fall zu sein, aber auch dies sollte als Möglichkeit offen gelassen werden.

ANMERKUNG
1. Al-Jallad hat hierzu interessante Tweets. Die Sache ist offensichtlich noch nicht reif für einen wissenschaftlichen Artikel. OCIANA, auf das er hinweist, ist das Online Corpus of the Inscriptions of Ancient North Arabia. Siehe dort auch unter Safaitic.
2. Safaitische Inschrift Nr. KRS 1131: kharaṣa ahl-oh ḥāṣ́era fa-hā-aḥad wal-lāt salām le-dhī da’aya. Safaitisch war ein Alfabet; man hat Tausende in dieser Schrift verfasste Inschriften gefunden, zwischen Südsyrien und dem Norden Saudi-Arabiens. Man kann sie zwischen dem 1. Jahrhundert v. Chr. und dem 4. n.Chr. datieren.

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Unfähige Propheten

Einer Erzählung zufolge, die Mohammeds erstes Offenbarungserlebnis  schildert, hatte der Prophet sich auf den Berg Hirā’ zurückgezogen, als der Engel Gibrīl (Gabriel) zu ihm kam:

  • Der Prophet selbst erzählte dazu: Während ich schlief, kam Gibrīl zu mir mit einer Brokatdecke, auf der Schriftzeichen standen. Er sagte: „Lies!“ Ich sagte: „Ich kann nicht lesen (mā aqra’u).“ Darauf drückte er mit der Decke meinen Hals so kräftig zu, dass ich dachte, es wäre der Tod. Dann ließ er mich los [und sagte: „Lies!“ Ich antwortete: „Ich kann nicht lesen.“ Darauf drückte er abermals so kräftig, dass ich dachte, es wäre der Tod. Dann ließ er mich los] und sagte wieder: „Lies!“ Ich sagte: „Was soll ich lesen? (mā dhā aqra’u)“ und das sagte ich nur um ihn los zu werden, aus Angst, dass er es noch mal tun würde. Da sagte er: Im Namen Gottes, des Gnädigen, des Barmherzigen. Lies im Namen deines Herrn, der erschuf,—erschuf den Menschen aus einem Klumpen Blut. Lies! denn dein Herr ist der Allgütige, der (den Menschen) lehrte durch die Feder, den Menschen lehrte, was er nicht wusste. [Koran 96:1–5] Dies rezitierte ich; dann ließ er mich los und ging weg. Als ich aufwachte war es, als wäre es in mein Herz geschrieben.
    Nun gab es kein Geschöpf, das mir verhasster war als Dichter und Besessene; ich konnte sie einfach nicht riechen. Und ich dachte: „O wehe, dieser Nichtswürdige“—er meinte sich selbst—„ist ein Dichter oder Besessener. Aber das werden die Quraisch nie von mir sagen! Ich werde hoch auf den Berg steigen und mich herunterstürzen und töten, dann habe ich Ruhe.“ In der Absicht machte ich mich also auf den Weg, aber als ich mitten auf dem Berg war, hörte ich eine Stimme vom Himmel: „Mohammed! Du bist der Gesandte Gottes, und ich bin Gibrīl.“ Ich schaute hoch zum Himmel und siehe da, es war Gibrīl in der Gestalt eines Mannes, der mit seinen Füßen neben einander am Horizont stand. Wieder sagte er: „Mohammed! Du bist der Gesandte Gottes, und ich bin Gibrīl.“ Ich sah ihn weiter an und das brachte mich von meinem Vorhaben ab; ich ging weder vorwärts noch rückwärts. Da wollte ich meinen Blick von ihm abwenden, aber in welche Richtung ich auch schaute, überall sah ich ihn wieder so stehen. Dort blieb ich so lange, ohne einen Schritt vorwärts oder Rückwärts zu tun, dass Khadīdja schon ihre Boten sandte um nach mir zu suchen; sie kamen bis oberhalb von Mekka, während ich noch am selben Ort stand. Dann verließ er mich.1

Diese Erzählung beschreibt das, was christliche Theologen eine Berufungsvision nennen. Von verschiedenen Propheten wird im Alten Testament erzählt, wie sie anfangs meinen der Aufgabe, die Gott ihnen auferlegen will, nicht gewachsen zu sein.
Moses wird beauftragt sein Volk aus Ägypten ins Land Kanaan zu führen. Er hat einige Ausreden und bringt zum Schluss vor: „Ach Herr! Ich bin kein redegewandter Mann […] denn unbeholfen ist mein Mund und unbeholfen meine Zunge.“ (2. Mose 4:10).

Jesaja sieht eine Ehrfurcht gebietende Vision des Herrn, umgeben von zwei Seraphim. Er ruft aus: „Wehe mir, ich bin verloren! Denn ein Mann mit unreinen Lippen bin ich …“ (Jesaja 6:5).
Jeremia sagt bei seiner Berufung: „Ach Herr, Herr, ich verstehe nicht zu reden; denn ich bin zu jung“ (Jeremia 1:6).
Hesechiel erschrickt gewaltig und fällt beim Anblick einer überwältigenden Vision auf sein Angesicht (Hesechiel 1–3).

Die Propheten haben Recht. Natürlich sind sie nicht im Stande ihre Aufgabe ohne Weiteres zu erfüllen. Aber Gott macht sie bereit und stärkt sie dazu, gibt ihnen seine Worte ein, worauf es dann gelingt. Jesajas unreine Lippen werden mit einer glühenden Kohle vom Altar gereinigt; dann ist er bereit zu prophezeihen. Hesechiel wird von Gott „emporgehoben“; er hat schon eine Schriftrolle zu essen bekommen, „süß wie Honig,“ und ihm wird die nötige Härte verliehen; Mohammed bekommt die Schrift buchstäblich fast in seinen Hals gepresst. Sowohl Hesechiel (Hes. 3:14–15) als auch Mohammed sind nach der Berufungsvision schwer angeschlagen.
Nur der biblische Prophet Jona sagt nicht, dass er kein Prophet sein kann; er weigert sich einfach. Sein Auftrag ist es in die große Stadt Ninive im Irak zu gehen, aber er nimmt ein Schiff in eine andere Richtung—das ist ein anderer Fall. Mohammed passt in die Reihe der anderen Propheten, die sich zunächst unfähig fühlen.

Ich musste etwas nachdenken über die Wörter mā aqra’u in der Erzählung über Mohammeds Berufung, oben übersetzt als: „Ich kann nicht lesen“— wobei wohlgemerkt in der alten Zeit lesen immer bedeutete: laut lesen, rezitieren.
mā aqra’u word manchmal aufgefasst als: „Was werde/soll ich lesen?“, aber naheliegender wäre in dem Fall mā dhā aqra’u, was etwas später kommt. Der Kontrast zwischen zweimal mā aqra’u und einmal mā dhā aqra’u ist beabsichtigt.
mā aqra’u ist in allerlei Varianten des modernen(!) gesprochenen Arabisch ein neutrales: „Ich lese nicht/werde nicht lesen“. In der Schriftsprache war und ist das aber lā aqra’u.
+ Imperfekt. Nach W. Fischer, Grammatik des klassischen Arabisch, Wiesbaden 21987, § 321 „bestreitet mit Impf. den Vorgang oder dessen Möglichkeit: [… ] mā yarāka, ‘er sieht dich gar nicht, kann dich nicht sehen’.“ Die anderen Grammatiken des klassischen Arabisch haben zu diesem Punkt nichts mitzuteilen.

Auf Grund dieses Paragraphen bei Fischer und der obigen biblischen Vorbilder habe ich in der Erzählung über das erste Offenbarungserlebnis die Übersetzung: „Ich kann nicht lesen“ gewählt.

ANMERKUNGEN

1. At-Tabarī, [Ta’rīkh al-rusul wal-mulūk] Annales, hrsg. M.J. de Goeje et al., 14 Bde., Leiden 1879–1901, i, 1150:

قال رسول الله ص: فجاءني [جبريل] وأنا نائم بنمط من ديباج فيه كتاب ، فقال: اقرأ، فقلت: ما أقرأ. فغتني حتى ظننت أنه الموت، ثم أرسلني فقال: اقرأ، فقلت: [ما أقرأ ؟ قال : فغتني به حتى ظننت أنه الموت، ثم أرسلني، فقال: اقرأ، قلت:] ماذا أقرأ؟ ما أقول ذلك إلا افتداء منه أن يعود إلي بمثل ما صنع بي، قال:(اقرأ باسم ربك الذي خلق) ألى قوله (علم الإنسان ما لم يعلم.) قال: فقرأته. قال: ثم انتهى ثم انصرف عني وهببت من نومي ، وكأنما كتبت في قلبي كتابا. قال: ولم يكن من خلق الله أحد أبغض إلي من شاعر أو مجنون، كنت لا أطيق أن أنظر إليهما، قال: قلت إن الأبعد – يعني نفسه – لشاعر أو مجنون، لا تحدث بها عني قريش أبدًا. لأعمدنّ إلى حالق من الجبل فلأطرحنّ نفسي منه فلأقتلنّها فلأستريحنّ.) قال: فخرجت أريد ذلك حتى إذا كنت في وسط من الجبل سمعت صوتا من السماء يقول : يا محمد، أنت رسول الله وأنا جبرئيل. قال: فرفعت رأسي إلى السماء ، فإذا جبريل في صورة رجل صاف قدميه في أفق السماء يقول: يا محمد، أنت رسول الله وأنا جبرئيل. قال: فوقفت أنظر إليهِ فما أتقدم وما أتأخر، وجعلت أصرف وجهي عنه في آفاق السماء فلا أنظر في ناحية منها إلا رأيته كذلك ، فما زلت واقفا ما أتقدم أمامي ولا أرجع ورائي حتى بعثت خديجة رسلها في طلبي ، ختى بلغوا أعلى مكة ورجعوا إليها وأنا واقف في مكاني؛ ثم انصرف عني.

Der häufiger gelesene Ibn Hishām hat die Teile zum Selbstmordvorhaben aus der Vorlage von Ibn Ishāq gestrichen; deshalb zitiere ich hier die Fassung von at-Tabarī, die den ursprünglichen Wortlaut erhalten hat. Dafür hat Ibn Hishām dreimal den Auftrag: „Lies!“ Das zweite Mal habe ich hier zwischen Klammern hinzugefügt. Dreimal ein Auftrag und zweimal eine Weigerung ist klassisch; das gibt es z.B. auch in der Erzählung von der Berufung des Mönchs Cædmon bei Beda Venerabilis.

Diakritische Zeichen: Ḥirāʾ, Ǧibrīl, Quraiš, aṭṬabarī, taʾrīḫ, Hišām, Isḥāq

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Aischa: ein Fall von Akkommodation

Es kam eine Frage: „Was sagt der Koran zu Aischa?“1 Meine Antwort lautet: „Nichts, verehrter Leser, gar nichts.“ Sehr vieles, was zur islamischen Religion gehört, steht nun einmal nicht im Koran.

Aischa soll die Lieblingsfrau des Propheten Mohammed gewesen sein. Und so überrascht es nicht, dass Muslime seit Jahrhunderten dennoch immer wieder gemeint haben, etwas über sie in der heiligen Schrift lesen zu können. Koran 24:11 zum Beispiel soll sogar in Bezug auf sie offenbart worden sein:

Diejenigen, welche die große Lüge vorbrachten, sind eine Gruppe unter euch. Glaubt nicht, es sei ein Übel für euch; im Gegenteil, es ist euch zum Guten. Jedem von ihnen soll die Sünde, die er begangen hat[, vergolten werden]; und der unter ihnen, der den Hauptanteil daran hatte, soll eine schwere Strafe erleiden.

Eigentlich gehören auch die nächsten Verse noch dazu:

Warum dachten die gläubigen Männer und Frauen, als ihr es hörtet, nicht Gutes von ihren eigenen Leuten und sprachen: „Das ist eine offenkundige Lüge“?
Warum brachten sie nicht vier Zeugen dafür? Da sie keine Zeugen gebracht haben, sind sie es also, die vor Allah die Lügner sind.
Wäre nicht Allahs Huld und Seine Barmherzigkeit über euch, hienieden und im Jenseits, eine schwere Strafe hätte euch getroffen für das, worin ihr euch einließet.
Als ihr es übernahmt mit euren Zungen und ihr mit eurem Munde das aussprachet, wovon ihr keine Kenntnis hattet, da hieltet ihr es für eine geringe Sache, indes es vor Allah eine große war. [Koran 24:12–15]

Lesen Sie hier etwas zu Aischa? Das gelingt nur, wenn Sie bereit sind eine ganze Erzählung im Kauf zu nehmen, nämlich die Erzählung der „Lüge“ (al-ifk). Diese entstand Jahrzehnte nach dem Koran und geht nicht auf den Propheten zurück, wie man das bei Hadithen gerne hat, sondern auf unterschiedliche Überlieferer. Die Erzählung2 geht so: Während einer Reise bleibt Aischa kurz zurück. Die Karawane zieht weiter ohne zu bemerken, dass sie fehlt. Sie wird von einem Mann zurückgebracht und sofort verbreitet sich das Gerücht, dass dieser die Situation missbraucht habe. Eine Hetzkampagne kommt in Gang, die sogar den Propheten nicht unberührt lässt: Eine Zeitlang ignoriert er Aischa. Letztendlich wird alles gut, weil Gott selbst eingreift und die obigen Koranverse offenbart, in denen Aischa von jeder Schuld freigesprochen wird und den Verleumdern Strafe angedroht wird.
Dies alles „wissen“ wir also aus einer Erzählung, die nicht aus dem Koran, sondern aus der Prophetenbiografie stammt. Sie wird seit Jahrhunderten in Korankommentaren und Prophetenbiografien wiederholt, aber weil deren Verfasser normal sterbliche Menschen waren — Heilige oder Kirchenväter gibt es im Islam nicht — ist niemand daran gebunden.

Wenn eine Erzählung viel Korantext enthält, gibt es grob gesagt zwei Möglichkeiten:

    • 1. Der Korantext steht im Mittelpunkt und die Erzählung dient zur Erklärung des Korantexts. Das heißt Koranexegese (tafsīr).
    • 2. Es gab erst eine Erzählung. Um diese überzeugender oder erbaulicher zu gestalten werden darin Koranverse eingeflochten: Verse, die vielleicht ursprünglich von etwas ganz anderes handelten. Das heißt koranisieren.

Auf jeden Fall wird der Korantext zumindest einige Jahrzehnte älter sein als die Erzählung.

Die Erzählung von Aischas Unschuld diente dazu, der Hetzkampagne wegen ihrer angeblichen Unkeuschheit entgegenzutreten. Aber hat wirklich jemand die blutjunge Frau des Propheten ein oder zwei Jahre nach ihrer Hochzeit mit Schlamm bewerfen wollen? Das muss erst viel später geschehen sein, rückwirkend, als der Prophet längst gestorben war und Aischa politisch aktiv war und sich im Konflikt mit Kalif ‘Alī (reg. 656–661) befand. Die Verfasser bemühen sich sehr, Aischas Unschuld zu beweisen und ziehen dabei alle Register, auch koranische. Einen ursprünglichen Bezug zwischen der Erzählung und den Koranversen sehe ich nicht. Der Koran ist sekundär herangezogen, oder anders gesagt: die Erzählung wurde koranisiert.

Aischa ist längst nicht das einzige Thema, über das Muslime gerne etwas im Koran lesen wüden—und das letztendlich auch tun.

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Mulier amicta sole

Mulier amicta sole

Ich war neugierig, ob auch Christen solche Fälle kennen.  Und in der Tat, bei Maria, der Mutter Jesu, der first lady der Christen, wurde ich gleich fündig. Sie kommt zwar in der Bibel vor: Es gibt die wohlbekannte Weihnachtsgeschichte und noch einige Splitter, aber für die Millionen Marienverehrer war das offensichtlich nicht genug. Deshalb haben sie eine Anzahl Bibelverse neu interpretiert, um ihre Sehnsucht zu erfüllen. In Offenbarung 12:1 erscheint beispielsweise „eine Frau, mit der Sonne bekleidet, und der Mond unter ihren Füßen und auf ihrem Haupt eine Krone von zwölf Sternen.“ 3 Sie ist hochschwanger und ein Drache mit sieben Häuptern liegt schon auf der Lauer um ihr Kind zu verschlingen, aber das wird gerettet und zu Gott entrückt. Man könnte hier tatsächlich an die Mutter Gottes denken, denn das Kind ist ein „Knabe, der alle Völker weiden sollte mit eisernem Stabe,“ und der eiserne Hirtenstab ist Vers 19:15 zufolge auch das Attribut Christi. Dann hätte der Autor der Offenbarung aber eine ganz andere Auffassung von Jesu und seiner Mutter gehabt als die Evangelisten. Vielleicht hatte er Eva oder die Frau im Allgemeinen im Kopf. Bereits 1. Mose 3:15 sagt ja den Kampf zwischen der Schlange und der Frau vorher.4

Turris davidica

Turris davidica

Noch merkwürdiger ist es, Maria in Hohelied (4:4) entdecken zu wollen, wo „Salomo“ seine Geliebte besingt: „Dein Hals ist wie der Turm Davids (turris davidica), mit Brustwehr gebaut, an der tausend Schilde hangen, lauter Schilde der Starken.“ 5 Auch dieser Vers wird in der katholischen Kirche auf Maria bezogen. Der Bezug zu der erst Jahrhunderte später lebenden Mutter Gottes ist sehr weit hergeholt. Der Vergleichspunkt ist hier wohl die Stärke eines Turms und der Schutz, den er bietet.

Der Bedarf an Mariaversen in der Bibel war offensichtlich so enorm, dass auch dieser Vers zum Zweck der Verehrung herangezogen wurde. Einer Wikipedia-Seite entnehme ich den technischen Terminus, den ich sonst nirgendwo finde: Akkommodation, eine dogmatisch korrekte und liturgisch verwertbare Anwendung eines Schriftwortes auf eine heilige Person oder Sache, die aber im Text selbst keine Stütze findet.

Ein Fall der Akkommodation, den sich auch die Protestanten zu eigen gemacht haben, ist die Entdeckung des Heiligen Geistes, des dritten Glieds der Heiligen Dreifaltigkeit, in den Worten der Schöpfungsgeschichte: „… und Gottes Geist/Wind (Hebr.: ruach) schwebte auf dem Wasser“ (1. Mose 1: 2).6

Ohne Zweifel gibt es noch viele andere Bibelverse, in denen man ganz andere Themen behandelt gesehen hat ohne sich auf den Text stützen zu können.

Muslime und Christen haben andere Herangehensweisen, aber alle bedienen sie sich freimütig in ihrer jeweiligen Heiligen Schrift, wenn sie darin etwas lesen möchten, das diese gar nicht enthält. Zu den Eigenschaften heiliger Schriften gehört offensichtlich, dass sie fast unendlich dehnbar sind, bis weit außerhalb der Grenzen ihres Textes.

 

ANMERKUNGEN
1. Aischa soll die Lieblingsfrau des Propheten Mohammed gewesen sein. Siehe zu ihr hier.
2. Ibn Ishāq: Das Leben Muhammed’s nach Muhammed Ibn Ishâk bearbeitet von Abd el-Malik Ibn Hischâm, Hrsg. F. Wüstenfeld, Göttingen 1858–60, 731–739; Übersetzung A. Guillaume, The Life of Muhammad, Oxford 1955, 493–499.
3. Mulier amicta sole et luna sub pedibus eius et in capite eius corona stellarum duodecim. Hier auch das ursprüngliche Griechisch: γυνὴ περιβεβλημένη τὸν ἥλιον, καὶ ἡ σελήνη ὑποκάτω τῶν ποδῶν αὐτῆς, καὶ ἐπὶ τῆς κεφαλῆς αὐτῆς στέφανος ἀστέρων δώδεκα, aber solche Sachen hören sich oft auf Latein viel besser an.
4. Die Wörter „deinem Nachkommen“ (τοῦ σπέρματος ἀυτῆς, de semine eius) werden in Offenbarung 12:17 wieder aufgegriffen „von ihrem Geschlecht“, aber sind lost in translation.
5. Sicut turris David collum tuum, quae aedificata est cum propugnaculis: mille clipei pendent ex ea, omnis armatura fortium. כְּמִגְדַּל דָּוִיד צַוָּארֵךְ, בָּנוּי לְתַלְפִּיּוֹת; אֶלֶף הַמָּגֵן תָּלוּי עָלָיו, כֹּל שִׁלְטֵי הַגִּבֹּרִים.
6. Et spiritus Dei ferebatur super aquas. וְרוּחַ אֱלֹהִים, מְרַחֶפֶת עַל-פְּנֵי הַמָּיִם,

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„Der Islam ist nur der Koran“

„Der Islam ist nur der Koran.“ Unter diesem Titel hat Taufīq →Sidqī 1906 einen Artikel abgefasst, in dem er die Meinung vertrat, dass die Hadithliteratur als alter Ballast abgeschafft werden sollte und dass es für einen Muslim ausreichend sei, sich auf den Koran zu verlassen. Obwohl er sehr gegen die Christen war, wollte er genau das, was der christliche Reformator Martin Luther damals gesagt hatte: sola scriptura, „nur die Schrift“.
Tawfīq Sidqī (1881–1920) war Gefängnisarzt in Tura bei Kairo; ein wissenschaftlich ausgebildeter Mensch mit Kenntnis moderner Sprachen, aber weder in der traditionellen islamischen Gelehrsamkeit noch in der Literaturwissenschaft versiert. Bis heute lässt sich beobachten, dass namentlich gebildete Muslime der nicht-geisteswissenschaftlichen Richtungen—also Ärzte, Ingenieure u. dgl.— Sidqis Meinungen zum Hadith gerne übernehmen. Diese Vertreter des Standpunkts, der Koran sei ausreichend, werden Koranisten genannt.’ 1

  • „Alle Muslime sind sich darüber einig,“ schreibt Sidqī in seinem Essay, „dass der Text des Korans definitiv ist, weil er wörtlich so vom Propheten überliefert worden ist, ohne dass etwas hinzugefügt oder weggenommen wäre, und in seiner Zeit und auf sein Geheiß niedergeschrieben worden ist; im Gegensatz zu den prophetischen Hadithen, von denen überhaupt erst nach seinem Tod etwas schriftlich niedergelegt worden ist, lange genug danach um Betrug und Textkorruption darin zu ermöglichen. Daraus erkennen wir, dass der Prophet nicht wollte, dass etwas von ihm die Menschheit in schriftlicher Form erreichen würde, außer dem Koran, dessen Erhaltung Gott gewährleistet, wie es heißt in Koran 15:9: ‘Wir haben die Mahnung hinabgesandt und wir geben auf sie Acht.’ Wäre in der Religion etwas anderes als der Koran nötig gewesen, so hätte der Prophet befohlen es schriftlich festzulegen, und  Gott hätte dessen Erhaltung gewährleistet.“
    • Wenn nun jemand sagt, dass der Prophet nicht befohlen hat seine Worte niederzuschreiben um der Verwechslung mit dem Wort Gottes vorzubeugen, wie kann das denn sein, wo doch der Koran ein Gotteswunder der Komposition ist und keine Menschenseele in der Lage ist etwas Ähnliches hervorzubringen?“
  • [—]
  • Und weshalb sollte ein Teil des Glaubens im Koran niedergelegt worden sein und ein anderer Teil in der sunna? „Der Koran sagt ja in 6:38: „Wir haben in der Schrift nichts übergangen,“ und in 16:89: „Wir haben die Schrift auf dich hinabgesandt um alles klarzulegen ….“ 2

Daraufhin legt Sidqī ausführlich dar, dass allerlei Regeln durchaus aus dem Koran abgeleitet werden können. Und wenn nicht, so sind sie nicht wichtig und müssen nicht befolgt werden.

Der Artikel wurde heftig kritisiert und der Herausgeber von Al-Manār Rashīd Ridā (1865–1935), der Sidqi im Übrigen sehr schätzte, korrigierte ein wenig, woraufhin der Autor etwas einlenkte.3

Angesichts der Kritik muss man festhalten: Der berühmte ägyptische Islamreformer Muḥammad ‘Abduh (1845–1905) war Sidqī in seinem Ansinnen vorausgegangen. Auch ‘Abduh wollte bereits modernisieren und vieles über Bord werfen. So schrieb er 1897, das Glaubensgut wolle er reduzieren auf „das, was mehrfach überliefert worden ist und von dem bekannt ist, dass es zur Religion gehört, das heißt auf das, was in der Schrift steht, und ein wenig aus der sunna ‘amalīya.“ 4 Mit letzterer meinte er mehrfach überlieferte Hadithe, in denen praktische Angelegenheiten behandelt werden, etwa die Ausführung des Gebets oder die Pilgerfahrt.

‘Abduhs Schüler und Mitarbeiter Rashīd Ridā entfernte sich nach dem Tod seines Lehrmeisters immer weiter von dessen Standpunkten. Auf Dauer sollte er den Weg zurück einschlagen, zu einer fiktiven, idealisierten Vergangenheit.

Als Nicht-Muslim versuche ich aus dem Abseits ein wenig mitzudenken — und muss feststellen, dass ohne den Hadith nur wenig vom Islam übrigbleiben würde. Ein Islam nur mit  dem Koran, das geht einfach nicht. Es gibt so vieles, das nicht im Koran steht! Große Teile der Scharia würden wegfallen—und nicht nur die Teile, die man gerne loswerden würde.

Der Koran ist ohne Exegese (tafsīr) kaum zu verstehen. An die Stelle des Hadiths würden also mehr denn je die Korankommentare treten—und die enthalten doch auch Hadithe: nicht immer viele, aber durchaus wichtige. Abgesehen davon sind die Kommentare voller Aussagen, die deutlich weniger Gewicht haben als Hadithe. Warum sollte man sich der Hadithe entledigen und auf den Kommentaren sitzen bleiben? Der Hadith ist eine Literatur, die nicht nur erbaulich und unterhaltsam ist, sondern auch identitätsstiftend. 

Was dann? Noch immer aus dem Abseits: Hadithe wegwerfen ist schade, wenn sie auch noch so viel altes Zeug enthalten. „Nur der Koran“ würde meines Erachtens die Probleme moderner Muslime auch deshalb nicht lösen, weil der Koran ebenfalls veraltete Auffassungen enthält. Alte Bücher soll man nie wegwerfen

Darin liegt vielleicht auch der Schlüssel zur Lösung. Sowohl Koran wie auch Hadith könnten vielleicht allmählich verblassen, in ihrer gesetzgebenden Rolle unschädlich werden. Die Juden und Christen haben das schon geschafft. In der Bibel enthalten 3. Mose 13 und 14 zum Beispiel ausführliche Regeln über was bei Aussatz zu tun ist. Der Patient gilt als kultisch unrein und gewissermaßen schuldig; es gibt ein Ritual, einen Priester, Tieropfer sollen gebracht werden; nach der Heilung folgt ein Sühneritual. Moderne Juden und Christen tun das alles nicht; sie gehen mit einer Hautkrankheit zum Dermatologen und finden oft Genesung auf eine Weise, die die Bibel nicht vorhersehen konnte. Kurzum, die erwähnten Vorschriften sind veraltet, und viele ähnliche ebenso. Wie genau es Juden und Christen gelungen ist, solche Teile ihrer doch ungemein Heiligen Schrift für ungültig zu erklären, weiß ich nicht; fragen Sie einen Rabbiner oder Pastor. Aber gelungen ist es: Die meisten solcher Passagen stören kaum noch. Hat man, islamisch formuliert, eine Art „Abschaffung der Rechtsregel, aber nicht des Textes“ (naskh al-hukm dūn al-tilāwa) ausgeübt? Ich kann nur hoffen, dass es auch Muslimen demnächst gelingen wird, sich veralteter Inhalte von Schrift und Hadith zu entledigen. Stillschweigend tun sie das längst. Niemand — vielleicht ausgenommen die Verrückten von „Islamischer Staat“ — lässt zum Beispiel Koran 4:3 noch komplett gelten: Demzufolge darf ein Mann zwei, drei oder vier Frauen heiraten — und wenn man fürchtet diese nicht gerecht behandeln zu können, „dann eine; oder Sklavinnen“. Von den Sklavinnen hört man heutzutage nicht mehr; der Teil des Verses wird einfach nicht mehr angewandt. Eine umfassende Theorie zu veralteten Texten steht aber noch aus. Die Lehre der Abschaffung (naskh) bietet bestimmt Möglichkeiten, wie auch das Denken über die „Zwecke der Scharia“ (maqāsid al-sharī‘a): die Suche nach dem „Geist des Gesetzes“. Diese Themen beschäftigen Muslime schon lange; sie werden in der ganzen islamischen Welt intensiv diskutiert. Das Geschrei der Salafisten wirkt dabei aber verzögernd, wie auch das Fauchen der Islamhasser in Europa und Amerika.

ANMERKUNGEN
1. Auch unter Islamhassern herrscht oft die Auffassung, dass der Islam nur aus dem Koran bestehe; bei ihnen basiert sie aber auf Unwissenheit.
2. Ṣidqī, Al-Islām 515–6.
3. Juynboll, Authenticity 23–9; Ryad, Islamic reformism 43–6.
4. ‘Abduh, Risāla 189: .بما تواتر وعلم أته من الدين بالضرورة، وهو ما في الكتاب وقليل من السنة في العمل […] Über eine ausführlichere Betrachtung ‘Abduhs zum Hadith siehe Juynboll, Authenticity 15–21.

BIBLIOGRAFIE
Primär:
– Ṣidqī, „Al-islām huwa al-qur’ān waḥdahu,“ Al-Manār 9 (1906), 515–24. Weil nicht jeder die Jahrgänge komplett hat, setze ich den Artikel hier online.
– Muḥammad ‘Abduh, Risālat al-tawḥīd, Cairo o.J. (Dār al-Ma’ārif, ca. 1970; Erstauflage war 1897).

Sekundär:
– G. H. A. Juynboll, The Authenticity of the Tradition Literature. Discussions in Modern Egypt, Leiden 1969, 23–9, und siehe den General Index.
– Umar Ryad, Islamic reformism and Christianity : a critical reading of the works of Muhammad Rashid Rida and his associates (1898-1935), Diss. Leiden 2008, ch. 1, 43–46, hier online.  Ryads Kap. 6 behandelt Ṣidqīs Widerlegung des Christentums.

Diakritische Zeichen: Ṣidqī, Ṭura, Muḥammad ʿAbduh, Rašīd Riḍā, al-ḥukm, nasḫ, maqāṣid aš-šarīʿa

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