Mohammed und Aischa: Hat der Prophet ein Kind geheiratet?

Eine Kurzfassung dieses Texts ist in Arbeit.

Der Hadith, nach dem der Prophet Mohammed seine Lieblingsfrau Aischa geheiratet habe, als sie sechs Jahre alt gewesen, und die Ehe vollzogen habe, als sie neun gewesen sei, wird zunehmend ein Stein des Anstoßes. Islamkritiker und -hasser nehmen ihn zum Anlass den Propheten noch mal so richtig zu beleidigen. Viele Muslime fühlen sich persönlich unbehaglich beim Inhalt dieser und ähnlicher Texte, und wissen oft nicht gut, wie sie auf die Kritik von außen reagieren sollen.

Der Hadith hat einige Varianten, die alle glasklar und eindeutig sind. Ein Beispiel:

  • Muhammad ibn Yūsuf überlieferte von Sufyān, und der letztere von Hishām ibn Urwa, der es von seinem Vater [Urwa ibn az-Zubair] gehört hatte: Es erzählte Aischa, dass der Prophet sie heiratete, als sie sechs Jahre alt war; sie wurde in sein Haus gebracht, als sie neun Jahre alt war, und dann blieb sie neun Jahre bei ihm.1

Im Grunde ist es nur ein Hadith, der in verschiedenen Varianten vorkommt, von denen die auffälligste die ist, in der auch ein Heiratsalter von sieben Jahren erwähnt wird. Alle Varianten mit allen Isnaden finden Sie hier: HadithAischaAlter. Sie zu lesen ist nicht jedermanns Sache; ich möchte den Leser, den kein fachspezifisches Interesse antreibt damit nicht belästigen.

Aber muss man wirklich glauben, dass diese Texte von Tatsachen berichten und dass sie als Quellen für Geschichtschreibung verwendet werden können?

Natürlich hegen konservative Muslime, die nicht mit moderner Literatur und Literaturwissenschaft vertraut sind, nicht den geringsten Zweifel an der Geschichtlichkeit dieser Hadithe. Manch einer dürfte sogar meinen, dass auf Grund des prophetischen Vorbilds es allen Muslimen erlaubt sei, solch junge Mädchen zu heiraten. Dazu werden sie vielleicht durch die Kapitelüberschriften in den Hadithsammlungen inspiriert. Auffällig ist dort nämlich eine gewisse Verallgemeinerung: „Über das Verheiraten kleiner Töchter,“ „Wer die Ehe vollzieht mit einer Frau, die neun Jahre alt ist,“ usw. Stets befindet sich aber unter dieser Überschrift nur der Hadith über Aischas Alter.2 In der Praxis war es wohl doch kein Thema; den Schariagelehrten zufolge war und ist das Heiratsalter das Eintreten der Pubertät.

Islamhasser in Europa und den Vereinigten Staaten3 haben ebenfalls keinen Zweifel: Aischa war neun, als sie entjungfert wurde. Nur ist deren Schlussfolgerung eine andere: Mohammed sei demzufolge ein Pädophiler und ein perverser Kinderschänder gewesen. Je schwärzer der Islam, desto schöner ist ja das Kämpfen gegen ihn.

WikiIslam, eine islamkritische Webseite, gibt sich wissenschaftlich, aber entlarvt sich bald und endet letztendlich auch bei den Islamhassern.4 Sie besteht ebenfalls auf der Realität des Ehevollzugs mit neun Jahren und weigert sich Vorschläge für Alternativen in Erwägung zu ziehen. Sie hält voll und ganz an der Glaubwürdigkeit der Hadithe als historische Berichte fest. Die Annahme eines höheren Alters der Ehevollziehung würde ja bedeuten, dass es einen Punkt weniger am Islam zu mäkeln gäbe — was die Hersteller der Webseite offensichtlich bedauern würden. Sie kritisieren lieber „den Islam“ als dass sie Texte kritisch lesen, und sind somit doch eher Gläubige als Gelehrte.

Nicht nur die konservative Minderheit, sondern die Mehrzahl der Muslime glaubt an die Zuverlässigkeit von korrekt überlieferten Hadithen als Geschichtsquelle. Dazu gehört im Prinzip auch dieser Bericht, der die genannte Peinlichkeit enthält: Ihr Prophet hat ein neunjähriges Mädchen entjungfert. Im traditionellen Islam fängt das Heiratsalter, wie in vielen anderen alten Kulturen auch, mit der Pubertät an. Neun Jahre ist entschieden zu früh. Zwar soll der Prophet bestimmte Privilegien gehabt haben, aber es wäre in diesem Fall ungeschickt, damit zu argumentieren, weil der Prophet eben ein sittliches Vorbild war. Moderne Muslime, die wie die meisten anderen Menschen der Meinung sind, dass ein so junges Mädchen in einem Ehebett nichts verloren hat, müssen also andere Methoden finden um diese Peinlichkeit los zu werden und die lästigen Texte zu entschärfen.

Eine Methode ist: ignorieren und verdrängen. Es gibt in der Tat Muslime, die nicht mit dem Thema belästigt werden wollen. Ohne Zweifel hatte der Prophet das Beste mit der kleinen Aischa vor; zu etwas Anderem war er ja nicht fähig, und für das Mädchen war es eine Gnade, bereits als Kind die Nähe und den Segen des Propheten zu erfahren; Amen! Diese Haltung findet man zum Beispiel auf der einschlägigen Webseite der Islam-pedia. Dort wird ausführlich geschildert, wie ungemein liebevoll und segenreich die Ehe Mohammeds mit Aischa war. Das Heiratsalter von neun Jahren wird kurz erwähnt, aber mit keinem Wort thematisiert. Solche Gläubige fantasieren sich ein ganzes Eheleben zusammen, doch die Frage: „Aber wie war es denn genau mit dem Vollzug der Ehe?“ stellen sie sich grundsätzlich nicht. Sie weigern sich sich vorzustellen, wie der etwas beleibte Fünfziger mit einem so kleinen Mädchen Geschlechtsverkehr hatte. Und den müssten sie gehabt haben, denn eine Ehe besteht erst durch ihren Vollzug. Das Ignorieren des Problems wird durch die eindringlichen Fragen der Außenwelt immer schwieriger.

Sehr viele Menschen wollen aber das Problem nicht vertuschen, sondern versuchen diese Hadithe mit Argumenten zu retten – nicht nur Muslime, sondern auch Andersgläubige, die gerne Verständnis für diese haben. Ihre Argumente sind meist lässig und vage, wie zum Beispiel: „Zu der Zeit fing die Pubertät ja viel früher an,“ oder: „Aischa war bestimmt frühreif; das kommt in warmen Ländern öfters vor,“ oder: „Damals wusste niemand, wie alt er genau war.“ Das letzte Argument ist sicherlich zutreffend, aber eine Ehe mit einem viel zu jungen Mädchen fällt auch ohne Einwohnermeldeamt auf. Die ersten beiden Aussagen sind völlig spekulativ und frei von Sachverstand. Ärzte versichern mir sogar, dass die Pubertät in der Antike durch die schlechtere Ernährung erheblich später eintrat als heutzutage. Überdies, wenn diese Ehe normal wäre, warum hat die Literatur ihr dann so viel Aufmerksamkeit geschenkt?

Später in diesem Beitrag werde ich die viel interessanteren Argumente von Muslimen besprechen, die diese Hadithe nicht retten, sondern loswerden möchten, unter Beibehaltung der anderen und ohne gleich das ganze Glaubensgebäude niederzureißen. Solche Muslime gibt es nämlich zunehmend, und so ergibt sich die interessante Sachlage, dass viele Gläubige den verehrten Hadithen diesmal keinen Glauben schenken möchten — wozu sie eigentlich verpflichtet sind —, während ungläubige Islamhasser sie einfach hinnehmen und daran glauben — wozu sie normalerweise nicht bereit sind.

Aber hat es diese Ehe mit einem Kind wirklich gegeben? Hier geht’s weiter !

ANMERKUNGEN
1. D.h. bis zu seinem Tod. Bukhārī, Nikāh 38, vgl. 39; ähnlich Muslim, Nikāh 70, 72: عن عائشة أن النبي ص تروّجها وهي بنت ستّ سنين وأُدخلت عليه وهي بنت تسع ومكثت عنده تسعًا
2. Bukhārī, Manāqib al-Ansār 44a باب تزويج النبي ص عائشةَ وقدومها المدينة وبنائه بها ; Nikāh 38 باب إنكاح الرجل ولده الصغار لقول اللَّه تعالى واللّائي لم يحضن فجعل عدتها ثلاثة أشهر قبل البلوغ ; Nikāh 59 باب من بنى بامرأة وهي بنت تسع سنين ; Muslim Nikāh 69 باب تزويج الأب البكر الصغيرة ; Ibn Mādja, Nikāh 13 باب نكاح الصغار يزوّجهن الآباء ; Dārimī, Nikāh 56 باب في تزويج الصغار إذا زوّجهنّ آباؤهنّ ; Nasā’ī, Nikāh, 29a إنكاح الرجل ابنته الصغيرة .
3. Wie z. B. Bat Ye’or, Elisabeth Sabaditsch-Wolff, der niederländische Filmemacher Theo van Gogh, Ayaan Hirsi Ali u.v.a.. Wenn Sie einfach Mohammed + Pädophile, oder + Kinderschänder in eine Suchmaschine eingeben, qualmt Ihnen der Hass bereits entgegen.
4. http://www.wikiislam.net/wiki/Main_Page, http://www.wikiislam.net/wiki/Aisha_Age_of_Consummation, http://wikiislam.net/wiki/David_Liepert       Abgerufen am 13. März, 2013.

Diakritische Zeichen: ʿĀʾiša, Muḥammad, Hišām ibn ʿUrwa, Buḫārī, Nikāḥ, al-Anṣār, Ibn Māǧa

„Verdienste der Gefährten“: Abu Bakr vs. Umar und Ali

In dem Artikel „Verdienste der Prophetengefährten“ hatte ich schon darauf hingewiesen, wie Ruf und Status der Gefährten in Sira-Erzählungen gemacht oder gebrochen werden können. Die meistbehandelten Personen aus der Umgebung des Propheten waren die ersten Kalifen. Deshalb bin ich mal der Sache nachgegangen, wie zum Beispiel Abū Bakr, der erste Kalif (reg. 632–34) in den Quellentexten davonkommt. Seine Verdienste stehen in Kontrast zu denen von ‘Umar und ‘Alī.
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Das Sterbebett des Propheten: Abū Bakr und ‘Umar
Die letzten Tage des Propheten bilden ein spannendes Kapitel in der Biografie.1 Die heikle Frage war: Hat der Prophet einen Nachfolger ernannt oder nicht? Abū Bakr war der Nachfolger des Propheten als Staatsoberhaupt und es könnte interessant sein, der Frage nachzugehen, ob davon in den Quellen etwas zu bemerken ist. Wir werden sehen: Sein „Kurs“ geht auf und ab.

Der Prophet vertraute Abū Bakr während seiner letzten Krankheit die Leitung des öffentlichen Gebets an.2 Aus diesem Auftrag als Imam zu wirken könnte man eventuell folgern, dass auch eine Nachfolge als Imam im Sinne von Staatsoberhaupt, Kalif, gemeint war.

In zwei Berichten ist es ‘Umar (der spätere zweite Kalif, reg. 634–44), der die Leitung des Gebets übernahm, weil Abū Bakr kurz abwesend war. Bald erwies sich aber, dass dies nicht dem Wunsch des Propheten entsprach und so übernahm Abū Bakr doch noch die Leitung.3

Laut einem anderen Bericht war Abū Bakr sogar im Augenblick, da der Prophet verstarb, nicht anwesend. War er weit weg, hatte er eine wichtige Aufgabe zu erfüllen, wie zum Beispiel Usāma ibn Zaid, der gerade außerhalb der Oase einen Feldzug gen Norden vorbereitete aber, als der Prophet wirklich im Sterben lag, doch schnellstens nach Medina kam? Nein, Abū Bakr wollte nur in seinem Haus am Rande von Medina ein wenig quality time mit seiner Frau verbringen.4 Er hatte dazu um Erlaubnis gebeten und sie erhalten; trotzdem macht seine Abwesenheit keinen guten Eindruck. Das Detail war offensichtlich unleugbar oder nicht aus der Überlieferung wegzuschaffen. Kann jemand, der in kritischen Augenblicken nicht da ist, die Gemeinschaft führen? 

Aber noch war nicht alles verloren. Wenn Abū Bakr auch nicht selbst beim Dahinscheiden des Propheten zugegen war, seine Familie war das in hohem Maße.5 Abū Bakrs Tochter Aischa, die Lieblingsfrau des Propheten, ist sogar die Heldin der Sterbeszene. Sie witzelt mit dem kranken Propheten und sie ist es, die ihn in seinen letzten Tagen in ihre Wohnung aufnimmt und pflegt. In seinen letzten Augenblicken sah der Prophet dort einen Mann mit einem Zweig in der Hand, eben von der Sorte, die als Zahnholz (siwāk) verwendet wird. Der war natürlich ein Verwandter, denn fremde Männer sind in Aischas Haus nicht zu erwarten. Eine Überlieferung nennt ihn beim Namen: es war Aischas Bruder ‘Abd ar-Rahmān. Der Prophet winkte, dass er das Zahnholz haben wolle; Aischa kaute es vor und überreichte es ihm. Darauf verschied er an ihrer Brust. Größere Intimität ist nicht möglich! So wird in dieser Erzählung Abū Bakrs Abwesenheit von seinen Verwandten, vor allem von seiner Tochter, einigermaßen wettgemacht.

Als der Prophet verstorben war, machte Abū Bakr laut Überlieferung eine gute Figur. Während ʿUmar in Verwirrung geriet und behauptete, der Prophet sei nicht wirklich verstorben, bewahrte Abū Bakr seine Ruhe und führte die Gemeinschaft mit Hilfe eines Koranverses zurück in die Realität.6 Hier wird er also als überzeugende Führungspersönlichkeit dargestellt.
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Die Hidschra-Erzählungen: Abū Bakr vs ‘Alī
Das bekannteste sunnitische Erzählmaterial zur Hidschra des Propheten von Mekka nach Medina und den Vorbereitungen dazu findet man bei Ibn Ishāq.7 Der Abschnitt über Abū Bakrs Anteil daran stammt von Urwa ibn al-Zubayr (ca. 635–712), dessen Mutter Asmā’ eine Tochter Abū Bakrs war. Aischa, dessen berühmteste Tochter, war also seine Tante. Es wird daher nicht verwundern, dass Abū Bakr in ʿUrwas Erzählung eine Glanzrolle spielt. Die Verwandten ‘Urwas gehörten mütterlicherseits zu der ältesten islamischen Elite, aber väterlicherseits ebenfalls. Seine Brüder hatten, kurz bevor ‘Urwa die Erzählung niederschrieb, noch vergeblich versucht in Mekka ein Kalifat zu etablieren.
Nahezu alle Muslime sind schon nach Medina abgereist, aber der Prophet wartet noch in Mekka, bis er Gottes Erlaubnis zur Abreise erhält. Nur Abū Bakr und ‘Alī8 sind mit ihm zurückgeblieben.
Abū Bakr hofft und betet, dass er den Propheten auf dessen gefährlicher Reise begleiten darf. Er kauft schon die Kamele, auf denen der Prophet und er die Reise machen können. Der Prophet erscheint  unerwartet in Abū Bakrs Haus und teilt ihm mit, dass die Zeit gekommen ist und er zusammen mit ihm abreisen darf. Abū Bakrs Töchter sind dabei ausdrücklich präsent. Darauf versuchen die Gegner des Propheten diesen zu töten. Als das misslingt und der Prophet und Abū Bakr die Stadt fluchtartig verlassen, verstecken sie sich einige Tage in einer Höhle. Hiermit wird gelegentlich der Koranvers 9:40 in Verbindung gebracht: فقد نصره الله إذ أخرجه الذين كفروا ثاني اثنين إذ هما في الغار  „[…] Gott hat ihm ja schon geholfen, als die Ungläubigen ihn zusammen mit einem Zweiten herauswarfen, als die beiden in der Höhle waren […].“
Abū Bakr macht sich abermals unentbehrlich, indem er die Höhle von Ungeziefer und Skorpionen säubert. Seine Tochter Asmā’ bringt Proviant zur Höhle, sein Sohn ‘Abdallāh belauscht, was die Menschen in Mekka sagen und meldet das abends dem Propheten in der Höhle. Kurzum, die ganze Familie Abū Bakrs legt sich ins Zeug und geht dabei beträchtliche Risiken ein. Nur Aischa betätigt sich nicht, weil sie noch zu jung ist; aber sie hat später die ganze Erzählung überliefert.
Auch ‘Alī ist in Mekka zurückgeblieben, aber seine Rolle ist relativ unbedeutend: Er soll sich ins Bett des Propheten legen, um die Männer irrezuführen, die diesen im Bett ermorden wollen. Nach der Abreise des Propheten mit Abū Bakr bleibt ‘Alī noch einige Tage in Mekka zurück um den Leuten die Güter zurückzugeben, die sie beim Propheten in Aufbewahrung gegeben hatten: eine ehrenvolle, aber untergeordnete Aufgabe. Anders als Abū Bakr hat ‘Alī so die Hidschra des Propheten und dessen triumphalen Einzug in Medina nicht persönlich miterleben können.
Ohne Abū Bakr und Familie hätte die ganze Hidschra nicht stattfinden können—das scheint uns die obige Erzählung vermitteln zu wollen. Ohne den Erzähler ‘Urwa und seine (vermeintliche?) Quelle, Tante Aischa, hätte die ganze Geschichte bestimmt anders ausgesehen.

Es gibt aber tatsächlich Geschichten, die ganz anders aussehen: Fassungen der Hidschra-Erzählung, in denen Abū Bakr einen etwas unschönen Auftritt hat, zu spät kommt oder sogar den Propheten aufhält, während ʿAlī eine Glanzrolle spielt. Eine kurze, anonyme, offensichtlich schiitisch inspirierte Fassung, die u.a. bei at-Tabarī9 bewahrt geblieben ist, bietet den Stoff wie folgt an:

Abū Bakr wusste offenbar nicht, dass der Prophet schon weg war, und fragte ‘Alī, wo jener sei. Der sagte ihm, er habe die Stadt verlassen und er sei in einer bestimmten Höhle, in der er sich ihm anschließen solle. Abū Bakr machte sich eilends auf den Weg. Der Prophet hörte jemanden hinter sich herkommen und fürchtete, dass es ein Feind sei. Er beschleunigte seinen Schritt, hatte aber mit einer kaputten Sandale zu kämpfen und verletzte seinen Fuß. Abū Bakr wollte ihn nicht weiter belästigen und machte sich bemerkbar. Erst ab diesem Augenblick gingen sie zusammen weiter, während der Fuß des Propheten heftig blutete.

‘Alī dagegen zeigte Heldenmut in der Konfrontation mit den verhinderten Prophetenmördern. Sie verpassten ihm auf der Stelle eine Tracht Prügel und sperrten ihn eine Zeitlang ein, was er tapfer durchstand.

Kurzum: eine schiitische Erzählung. Man findet sie ebenfalls in einem Papyrus aus dem 9. Jahrhundert, dessen Inhalt auf den Erzähler → *Wahb ibn Munabbih (± 654–730) zurückgeht.10 Diese viel ausführlichere Erzählung enthält die folgenden „Verdienste“-Elemente:
Mohammed begibt sich eines Mittags zu Abū Bakr und berichtet über die Verschwörung der Quraisch gegen ihn. Dass die Töchter dabei auch zugegen wären, liest man hier nicht. Abū Bakr macht sich dann verdient, indem er draußen belauscht, was die Leute vorhaben. Er folgt zwei Feinden; einer von ihnen ist sogar der Leibhaftige. Dann bittet er um die Erlaubnis mit dem Propheten mitzureisen. Die bekommt er; die Abreise soll am Abend sein. Er bereitet sich vor.
Der Prophet lässt inzwischen ‘Alī holen und sagt diesem, dass er sich in sein Bett legen solle um die Verschwörer irrezuführen. Quasi nebenbei wird ihm auch gesagt, dass er Abū Bakr beauftragen solle, sich in einer gewissen Höhle dem Propheten anzuschließen. In dieser Fassung verlässt Abū Bakr also doch nicht zusammen mit dem Propheten die Stadt; das ist eine Inkonsequenz in der stark redigierten Erzählung. Oder der Prophet hat nicht die Mühe genommen, Abū Bakr die Änderung in seinem Plan mitzuteilen. Wie auch immer, der Prophet entkommt; Abū Bakr geht ihm nach, aber erschreckt ihn, so dass der Prophet stolpert und seinen Fuß verletzt. Um Schlimmerem vorzubeugen macht Abū Bakr sich jetzt bemerkbar. Zusammen betreten sie die Höhle, in der sie sich verstecken können. Beim Reinigen der Höhle wird Abū Bakr von einem Skorpion gestochen und der Prophet muss seine Zauberkunst (ruqya) anwenden um ihn zu heilen. Kurzum, Abū Bakr legt sich schon ins Zeug, aber der Prophet hat seine liebe Not mit ihm.
‘Alī hat inzwischen im Bett des Propheten geschlafen. Er zeigt den Verschwörern gegenüber Heldenmut.
Sowohl Abū Bakrs Tochter Asmā’ wie auch ‘Alī bringen tagtäglich Proviant zur Höhle; die beiden wetteifern sogar. ‘Abdallāh, der Sohn Abū Bakrs, wird in dieser Fassung nicht erwähnt.
‘Alī bekommt den Auftrag drei Kamele und einen Führer für die Weiterreise zu mieten. In der anderen Erzählung kauft Abū Bakr die Kamele aus freien Stücken und bezahlt sie aus eigener Tasche.
Beim Einzug in Medina wird Abū Bakr nicht mal erwähnt; dafür aber ‘Alī, obwohl dieser erst einige Tage später eintrifft.

Europäische Orientalisten fühlen sich oft in rätselhafter Weise mit dem sunnitischen Islam verbunden. Demzufolge meinen sie häufig, dass ‘Urwas Erzählung die ursprüngliche sei und die andere eine schiitische Überarbeitung. Vielleicht haben sie Recht, aber das Umgekehrte ist genauso gut möglich.
Die Schia, die Partei ‘Alīs, existierte schon zu dessen Lebzeiten. Sein Anrecht auf das Kalifat war von Anfang an und vor allem nach seinem Tod im Jahr 661 stets ein zentraler Streitpunkt, während das Gedankengut ‘Urwas erst nach 690 seinen Durchbruch erlebte. Wahb verstarb ca. 728, aber seine Fassung hatte schon eine ganze Geschichte hinter sich. Sie weist deutlich sekundäre ‘Alī-Reklame auf, wie z.B. dessen auffällige Rolle bei der Ernährung in der Höhle und dem Besorgen der Kamele, aber es ist nicht alles nur ‘Alī, wo man hinhört; es gibt durchaus auch Verdienste von Abū Bakr, die zum Kern der Erzählung gehören. Dagegen könnte man an ‘Urwas Version wiederum bemängeln, dass sie überall Abū Bakr und Familie auftreten lässt. Wahbs Erzählung ist eine Mischversion. Die undatierte Fassung des at-Tabarī ist viel einseitiger schiitisch. Die schiitische Erzählung könnte älter als die andere gewesen sein; man sollte diese Möglichkeit nicht voreilig ausschließen. Nur ein sorgfältiger Vergleich aller Fassungen dürfte uns hier weiter bringen. Eine Doktorarbeit wäre denkbar. 

Auf jeden Fall ist offensichtlich geworden, dass die Wertschätzung der „Verdienste“ eines bestimmten Prophetengefährten auf und ab geht, je nach Verwandtschaftsgrad und politischer Überzeugung des Erzählers. 

ANMERKUNGEN
1. Ibn Ishāq (Wüstenfeld), 323–333; Übers. Rotter 103–8;  Übers. Guillaume, 221–227.
2. ‘Alī ibn Abī Tālib, der spätere vierte Kalif (reg. 656–661, die Galionsfigur der Schiiten, die die ersten drei Kalifen für illegitim halten. Deshalb ist er in vielen Erzählungen rückwirkend ein Gegenspieler von Abū Bakr en ‘Umar. Wie die Männer sich während ihres Lebens tatsächlich zueinander verhielten, ist unbekannt.
3. At-Tabarī, Ta’rīkh i, 1233-4.
4. Khoury, Wahb i, 136–151.
5. Arabischer Text: Ibn Ishāq (Wüstenfeld), 999–1013; deutsche Übersetzung Rotter 251–259; englische Übersetzung Guillaume 678–683.
6. Ibn Ishāq (Wüstenfeld), 1008; Übers. Rotter 253–4; Übers. Guillaume 680.
7. Ibn Ishāq (Wüstenfeld), 1009 und 1010; Übers. Rotter 254–5; Übers. Guillaume 681.
8. Ibn Ishāq (Wüstenfeld), 1010; Übers. Guillaume 682.
9. Ibn Ishāq (Wüstenfeld), 1011; Übers. Rotter 255–6; Übers. Guillaume 682; Raven, Chew stick, 593–598.)
10. Ibn Ishāq (Wüstenfeld), 1012–13; Übers. Rotter 256–7; Übers. Guillaume 682–3. S. auch Der Tod des Propheten

LITERATUR
Ibn Ishāq: 
Das Leben Muhammed’s nach Muhammed Ibn Ishâk bearbeitet von Abd el-Malik Ibn Hischâm, hrsg. F. Wüstenfeld, Göttingen, 2 Bde., 1858–60 (Arabischer Text, editio princeps).
– Deutsche Übersetzung (Auswahl): Ibn Ishāq, Das Leben des Propheten, übers. Gernot Rotter, Kandern 1999.
– Englische Übersetzung: A. Guillaume, The Life of Muhammad. A translation of Isḥāq’s (sic!) Sīrat Rasūl Allāh, Oxford 1955.

– R. G. Khoury, Wahb b. Munabbih. Teil 1. Der Heidelberger Papyrus PSR Heid Arab 23. Leben und Werk des Dichters. Teil 2. Faksimiletafeln, Wiesbaden 1972.
– M. J. Kister, „On the Papyrus of Wahb B. Munabbih,“ BSOAS 37 (1974), 547–71.
– M. J. Kister, „On the Papyrus of Wahb B. Munabbih: An Addendum,“ BSOAS 40 (1977), 125–27.
– W. Raven, „The chew stick of the prophet in Sira and Hadith,“ in Anna Akasoy und Wim Raven (Hrsg.), Islamic Thought in the Middle Ages. Studies in Text, Transmission and Translation in Honour of Hans Daiber, Leiden 2008, 593–611, insbes. S. 593–5.

Diakritische Zeichen: ʿĀʾiša, ʿĀʾisha, ʿAlī ibn Abī Ṭālib, futūḥ, al-Ṭabarī, ʿUmar ibn al-Ḫaṭṭāb, Taʾrīḫ

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