Urwa, der älteste Biograf Mohammeds

BAUSTELLE!

Der bekannteste arabische Autor zur Mohammedbiografie (sira) ist Ibn Ishāq (704–767), der oft gelesen wird in einer Bearbeitung von Ibn Hisham (gest. ca. 830). Zwei Generationen älter und mindestens so wichtig war aber ‘Urwa ibn az-Zubair (± 643–712). Weil er kein Buch hinterlassen hat,1 hört man aber über ihn weniger. Dies kann sich ändern, wo jetzt ein wichtiger Teil seiner separat überlieferte Texte in einer deutschen Übersetzung zusammengebracht und kommentiert worden ist (→Görke/Schoeler, Die ältesten Berichte). Das Buch ist wichtig; leider ist es in den USA erschienen und liegt hier nicht in den Schaufenstern.

‘Urwa war ein Sohn des az-Zubair ibn al-‘Awwām, der zu den ersten Anhängern Mohammeds und zu der frühesten Elite dessen Bewegung gehörte. Als ‘Ali 656 Kalif wurde, wandte diese Elite sich gegen ihn. Az-Zubair und noch anderen lieferten im Süden Iraks eine Schlacht mit ‘Alī: die Kamelschlacht, benannt nach dem Reittier, auf dem Aischa die Kriegshandlungen beobachtete. ‘Alī gewann, az-Zubair fiel und Aischa wurde gefänglich nach Medina abgeführt.

Ein Vierteljahrhundert später rebellierten zwei Söhne az-Zubairs, diesmal gegen den Umayyadenkalif Yazīd, den sie als illegitim betrachteten. Kurz zusammengefasst: ʿAbdallāh etablierte ein *Gegenkalifat in Mekka (680–692) und sein Bruder Mus‘ab eroberte und verwaltete in seinem Namen den Irak und einen Großteil Irans. Andere Provinzen zögerten noch; für die Umayyadenkalifen blieb erst mal nicht viel mehr als Syrien übrig.
‘Urwa war viel junger als die beiden Rebellen; er war der Intellektuelle der Familie und nicht politisch oder militärisch aktiv – wenn er auch in der Kalifatsfrage die Seite seiner Brüder gewählt hatte. Er wohnte meist in Medina und studierte und unterrichtete dort das Leben des Propheten, wie auch Hadith und Recht.
Zwölf Jahre lang gelang es den Umayyaden nicht das Gegenkalifat aufzurollen, vor allem weil gerade einige schwache Kalifen an der Regierung waren. Als der starke Kalif ‘Abd al-Malik angetreten war, ging alles ziemlich schnell. ‘Abdallāh wurde getötet; Mus‘ab war schon etwas früher im Irak gefallen und das war das Ende des Gegenkalifats.

Diese kleine Geschichtsfragment war nötig um ‘Urwa’s Schriften besser einordnen zu können. Nach der Katastrophe in Mekka eilte ‘Urwa nämlich zu ‘Abd al-Malik in dessen Hauptstadt Damaskus. Der Kalif ließ ihn nicht umbringen, aber gab ihm eine Aufgabe: er sollte die Geschichte des Propheten und der Anfänge des Islams aufschreiben – natürlich aus seinem Medinagefärbten Gesichtspunkt. Als er in Medina zurückgekehrt war, tat er das, indem er eine Anzahl „Briefe“ (rasā’il) schrieb.
Das milde Verhalten ‘Abd al-Maliks ist gut verständlich. Er stand ja vor der Aufgabe das verteilte Reich zu einigen und versuchte das u.a. mittels einer Geschichtsschreibung, die für alle Teile des Reichs akzeptabel sein würde. Der früheste Islam, mit seinem Orientierungspunkt (qibla) nach Jerusalem, war vielleicht doch eine überwiegend syrisch-palästinensische Angelegenheit gewesen. Der *Felsendom in Jerusalem, eine rotunda, die 691 fertig gebaut wurde, war Endpunkt und Höhepunkt des „syrischen“ Islams. Eigentlich ist das Gebäude eine Ansage an die Christen, zu denen der junge Islam auf Distanz ging. Oft hat man gedacht, dass der Felsendom gebaut wurde, weil Mekka während des Gegenkalifats vorübergehend nicht zugänglich war. Aber es kann genau so gut umgekehrt sein: 692 fand eine Umkehr statt, durch welche Arabien in der Staatsideologie einen viel größeren Platz zugeteilt bekam und der Felsendom, so jung wie er war, gleich schon zweitrangig wurde. Mit anderen Worten: Mekka, die Ka‘ba und Medina wurden erst jetzt wichtig gemacht; die arabische Halbinsel zählte fortan voll und ganz mit und somit wurde potentiellen Rebellen wenigstens aus Arabien der Wind aus den Segeln genommen.

Bei dieser Arabisiering des Islams haben ‘Urwas Schriften meiner Meinung nach2 eine wichtige Rolle gespielt. Die Briefe schrieb er für den Hof, aber er hatte auch noch etliche andere Texte, die er seinen Schülern überlieferte. Von seinem Werk ist ein erheblicher Teil bewahrt und somit können wir feststellen, dass ʿUrwa der Lieferant der wichtigsten sira-Kapitel gewesen ist. Sie sind hauptsächlich von zwei Personen überliefert worden: sein Sohn Hishām und der Gelehrte az-*Zuhrī. Ibn Ishāqs Werk enthält viel ‘Urwa-Material, wie auch das des *Ma‘mar ibn Rāshid, der noch einen separaten Beitrag verdient.
Die Briefe sind meist kurz gefasst. ‘Abd al-Malik mochte keine lange Texte und verabscheute die Fantasie der sog. Erzähler (qussās). Ein Beispiel von ‘Urwas persönlichem Wirken in der frühesten islamischen Geschichtsschreibung sieht man an der Rolle, die Abū Bakr und dessen Familie in einigen zentralen Texten spielen. ‘Urwa’s Mutter war Asmā’, eine Tochter Abū Bakrs. Ihre Schwester Aischa, die Frau des Propheten, war also seine Tante. In ‘Urwas Berichte und Erzählungen zur Emigration (*hidschra), zum Sterbebett des Propheten und zur Keuschheit Aischas werden Abū Bakr und seine Familie stark auf den Vordergrund gestellt. Liegt es nicht nahe, dass ʿUrwa auch in anderen Erzählungen seine eigene Akzente gesetzt hat und dabei die Wichtigkeit von Mekka und Medina gehörig aufgeblasen hat?

ANMERKUNG
1. Außer dem Koran gab es zu der Zeit noch keine Bücher. Das Werk: ‘Urwa ibn al-Zubair, Maghāzī rasūl Allāh, bi-riwāyat Abī al-Aswad ‘anhu, Hrsg. M.M. al-A‘zamī, ar-Riyād 1981, ist nicht von ʿUrwas Hand.
2. Sie werden es bemerkt haben: in diesem Beitrag gibt es viel Mutmaßungen von mir und wenig gefestigte Kenntnis. Meine Mutmaßungen sind aber auch nicht dummer als die von Anderen, die sich in der letzten Zeit zur frühislamische Geschichte geäußert haben. Mehr dazu hier.

BIBLIOGRAPHIE
– A.A. Duri, The rise of historical writing among the Arabs, Hg. u. Übers. L.I. Conrad, Einl. F.M. Donner, Princeton 1983, insbes. S. 76–95.
– A. Görke, The historical tradition about al-Hudaybiya. A study of ‘Urwa ibn al-Zubayr’s account, in H. Motzki (Hrsg.), The biography of Muḥammad. The issue of the sources, Leiden 2000, 240-75.
– A. Görke und G. Schoeler, Die ältesten Berichte über das Leben Muḥammads. Das Korpus ‘Urwa ibn az-Zubair, Princeton 2008.
– G. Schoeler, Art. „‘Urwa ibn al-Zubayr,“ in EI2.
– G. Schoeler, Charakter und Authentie der muslimischen Überlieferung über das Leben Mohammeds, Berlin und New York 1996, 28–32, 145–54.

Diakritische Zeichen: ʿUrwa, Ibn Isḥāq, Hišām, Muṣʿab, Maʿmar ibn Rāšid, quṣṣāṣ, Maġāzī, al-Aʿẓamī, ar-Riyāḍ, Ḥudaybiya

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„Verdienste der Gefährten“: Abu Bakr vs. Umar und Ali

In dem Artikel „Verdienste der Prophetengefährten“ hatte ich schon darauf hingewiesen, wie Ruf und Status der Gefährten in Sira-Erzählungen gemacht oder gebrochen werden können. Die meistbehandelten Personen aus der Umgebung des Propheten waren die ersten Kalifen. Deshalb bin ich mal der Sache nachgegangen, wie zum Beispiel Abū Bakr, der erste Kalif (reg. 632–34) in den Quellentexten davonkommt. Seine Verdienste stehen in Kontrast zu denen von ‘Umar und ‘Alī.
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Das Sterbebett des Propheten: Abū Bakr und ‘Umar
Die letzten Tage des Propheten bilden ein spannendes Kapitel in der Biografie.1 Die heikle Frage war: Hat der Prophet einen Nachfolger ernannt oder nicht? Abū Bakr war der Nachfolger des Propheten als Staatsoberhaupt und es könnte interessant sein, der Frage nachzugehen, ob davon in den Quellen etwas zu bemerken ist. Wir werden sehen: Sein „Kurs“ geht auf und ab.

Der Prophet vertraute Abū Bakr während seiner letzten Krankheit die Leitung des öffentlichen Gebets an.2 Aus diesem Auftrag als Imam zu wirken könnte man eventuell folgern, dass auch eine Nachfolge als Imam im Sinne von Staatsoberhaupt, Kalif, gemeint war.

In zwei Berichten ist es ‘Umar (der spätere zweite Kalif, reg. 634–44), der die Leitung des Gebets übernahm, weil Abū Bakr kurz abwesend war. Bald erwies sich aber, dass dies nicht dem Wunsch des Propheten entsprach und so übernahm Abū Bakr doch noch die Leitung.3

Laut einem anderen Bericht war Abū Bakr sogar im Augenblick, da der Prophet verstarb, nicht anwesend. War er weit weg, hatte er eine wichtige Aufgabe zu erfüllen, wie zum Beispiel Usāma ibn Zaid, der gerade außerhalb der Oase einen Feldzug gen Norden vorbereitete aber, als der Prophet wirklich im Sterben lag, doch schnellstens nach Medina kam? Nein, Abū Bakr wollte nur in seinem Haus am Rande von Medina ein wenig quality time mit seiner Frau verbringen.4 Er hatte dazu um Erlaubnis gebeten und sie erhalten; trotzdem macht seine Abwesenheit keinen guten Eindruck. Das Detail war offensichtlich unleugbar oder nicht aus der Überlieferung wegzuschaffen. Kann jemand, der in kritischen Augenblicken nicht da ist, die Gemeinschaft führen? 

Aber noch war nicht alles verloren. Wenn Abū Bakr auch nicht selbst beim Dahinscheiden des Propheten zugegen war, seine Familie war das in hohem Maße.5 Abū Bakrs Tochter Aischa, die Lieblingsfrau des Propheten, ist sogar die Heldin der Sterbeszene. Sie witzelt mit dem kranken Propheten und sie ist es, die ihn in seinen letzten Tagen in ihre Wohnung aufnimmt und pflegt. In seinen letzten Augenblicken sah der Prophet dort einen Mann mit einem Zweig in der Hand, eben von der Sorte, die als Zahnholz (siwāk) verwendet wird. Der war natürlich ein Verwandter, denn fremde Männer sind in Aischas Haus nicht zu erwarten. Eine Überlieferung nennt ihn beim Namen: es war Aischas Bruder ‘Abd ar-Rahmān. Der Prophet winkte, dass er das Zahnholz haben wolle; Aischa kaute es vor und überreichte es ihm. Darauf verschied er an ihrer Brust. Größere Intimität ist nicht möglich! So wird in dieser Erzählung Abū Bakrs Abwesenheit von seinen Verwandten, vor allem von seiner Tochter, einigermaßen wettgemacht.

Als der Prophet verstorben war, machte Abū Bakr laut Überlieferung eine gute Figur. Während ʿUmar in Verwirrung geriet und behauptete, der Prophet sei nicht wirklich verstorben, bewahrte Abū Bakr seine Ruhe und führte die Gemeinschaft mit Hilfe eines Koranverses zurück in die Realität.6 Hier wird er also als überzeugende Führungspersönlichkeit dargestellt.
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Die Hidschra-Erzählungen: Abū Bakr vs ‘Alī
Das bekannteste sunnitische Erzählmaterial zur Hidschra des Propheten von Mekka nach Medina und den Vorbereitungen dazu findet man bei Ibn Ishāq.7 Der Abschnitt über Abū Bakrs Anteil daran stammt von Urwa ibn al-Zubayr (ca. 635–712), dessen Mutter Asmā’ eine Tochter Abū Bakrs war. Aischa, dessen berühmteste Tochter, war also seine Tante. Es wird daher nicht verwundern, dass Abū Bakr in ʿUrwas Erzählung eine Glanzrolle spielt. Die Verwandten ‘Urwas gehörten mütterlicherseits zu der ältesten islamischen Elite, aber väterlicherseits ebenfalls. Seine Brüder hatten, kurz bevor ‘Urwa die Erzählung niederschrieb, noch vergeblich versucht in Mekka ein Kalifat zu etablieren.
Nahezu alle Muslime sind schon nach Medina abgereist, aber der Prophet wartet noch in Mekka, bis er Gottes Erlaubnis zur Abreise erhält. Nur Abū Bakr und ‘Alī8 sind mit ihm zurückgeblieben.
Abū Bakr hofft und betet, dass er den Propheten auf dessen gefährlicher Reise begleiten darf. Er kauft schon die Kamele, auf denen der Prophet und er die Reise machen können. Der Prophet erscheint  unerwartet in Abū Bakrs Haus und teilt ihm mit, dass die Zeit gekommen ist und er zusammen mit ihm abreisen darf. Abū Bakrs Töchter sind dabei ausdrücklich präsent. Darauf versuchen die Gegner des Propheten diesen zu töten. Als das misslingt und der Prophet und Abū Bakr die Stadt fluchtartig verlassen, verstecken sie sich einige Tage in einer Höhle. Hiermit wird gelegentlich der Koranvers 9:40 in Verbindung gebracht: فقد نصره الله إذ أخرجه الذين كفروا ثاني اثنين إذ هما في الغار  „[…] Gott hat ihm ja schon geholfen, als die Ungläubigen ihn zusammen mit einem Zweiten herauswarfen, als die beiden in der Höhle waren […].“
Abū Bakr macht sich abermals unentbehrlich, indem er die Höhle von Ungeziefer und Skorpionen säubert. Seine Tochter Asmā’ bringt Proviant zur Höhle, sein Sohn ‘Abdallāh belauscht, was die Menschen in Mekka sagen und meldet das abends dem Propheten in der Höhle. Kurzum, die ganze Familie Abū Bakrs legt sich ins Zeug und geht dabei beträchtliche Risiken ein. Nur Aischa betätigt sich nicht, weil sie noch zu jung ist; aber sie hat später die ganze Erzählung überliefert.
Auch ‘Alī ist in Mekka zurückgeblieben, aber seine Rolle ist relativ unbedeutend: Er soll sich ins Bett des Propheten legen, um die Männer irrezuführen, die diesen im Bett ermorden wollen. Nach der Abreise des Propheten mit Abū Bakr bleibt ‘Alī noch einige Tage in Mekka zurück um den Leuten die Güter zurückzugeben, die sie beim Propheten in Aufbewahrung gegeben hatten: eine ehrenvolle, aber untergeordnete Aufgabe. Anders als Abū Bakr hat ‘Alī so die Hidschra des Propheten und dessen triumphalen Einzug in Medina nicht persönlich miterleben können.
Ohne Abū Bakr und Familie hätte die ganze Hidschra nicht stattfinden können—das scheint uns die obige Erzählung vermitteln zu wollen. Ohne den Erzähler ‘Urwa und seine (vermeintliche?) Quelle, Tante Aischa, hätte die ganze Geschichte bestimmt anders ausgesehen.

Es gibt aber tatsächlich Geschichten, die ganz anders aussehen: Fassungen der Hidschra-Erzählung, in denen Abū Bakr einen etwas unschönen Auftritt hat, zu spät kommt oder sogar den Propheten aufhält, während ʿAlī eine Glanzrolle spielt. Eine kurze, anonyme, offensichtlich schiitisch inspirierte Fassung, die u.a. bei at-Tabarī9 bewahrt geblieben ist, bietet den Stoff wie folgt an:

Abū Bakr wusste offenbar nicht, dass der Prophet schon weg war, und fragte ‘Alī, wo jener sei. Der sagte ihm, er habe die Stadt verlassen und er sei in einer bestimmten Höhle, in der er sich ihm anschließen solle. Abū Bakr machte sich eilends auf den Weg. Der Prophet hörte jemanden hinter sich herkommen und fürchtete, dass es ein Feind sei. Er beschleunigte seinen Schritt, hatte aber mit einer kaputten Sandale zu kämpfen und verletzte seinen Fuß. Abū Bakr wollte ihn nicht weiter belästigen und machte sich bemerkbar. Erst ab diesem Augenblick gingen sie zusammen weiter, während der Fuß des Propheten heftig blutete.

‘Alī dagegen zeigte Heldenmut in der Konfrontation mit den verhinderten Prophetenmördern. Sie verpassten ihm auf der Stelle eine Tracht Prügel und sperrten ihn eine Zeitlang ein, was er tapfer durchstand.

Kurzum: eine schiitische Erzählung. Man findet sie ebenfalls in einem Papyrus aus dem 9. Jahrhundert, dessen Inhalt auf den Erzähler → *Wahb ibn Munabbih (± 654–730) zurückgeht.10 Diese viel ausführlichere Erzählung enthält die folgenden „Verdienste“-Elemente:
Mohammed begibt sich eines Mittags zu Abū Bakr und berichtet über die Verschwörung der Quraisch gegen ihn. Dass die Töchter dabei auch zugegen wären, liest man hier nicht. Abū Bakr macht sich dann verdient, indem er draußen belauscht, was die Leute vorhaben. Er folgt zwei Feinden; einer von ihnen ist sogar der Leibhaftige. Dann bittet er um die Erlaubnis mit dem Propheten mitzureisen. Die bekommt er; die Abreise soll am Abend sein. Er bereitet sich vor.
Der Prophet lässt inzwischen ‘Alī holen und sagt diesem, dass er sich in sein Bett legen solle um die Verschwörer irrezuführen. Quasi nebenbei wird ihm auch gesagt, dass er Abū Bakr beauftragen solle, sich in einer gewissen Höhle dem Propheten anzuschließen. In dieser Fassung verlässt Abū Bakr also doch nicht zusammen mit dem Propheten die Stadt; das ist eine Inkonsequenz in der stark redigierten Erzählung. Oder der Prophet hat nicht die Mühe genommen, Abū Bakr die Änderung in seinem Plan mitzuteilen. Wie auch immer, der Prophet entkommt; Abū Bakr geht ihm nach, aber erschreckt ihn, so dass der Prophet stolpert und seinen Fuß verletzt. Um Schlimmerem vorzubeugen macht Abū Bakr sich jetzt bemerkbar. Zusammen betreten sie die Höhle, in der sie sich verstecken können. Beim Reinigen der Höhle wird Abū Bakr von einem Skorpion gestochen und der Prophet muss seine Zauberkunst (ruqya) anwenden um ihn zu heilen. Kurzum, Abū Bakr legt sich schon ins Zeug, aber der Prophet hat seine liebe Not mit ihm.
‘Alī hat inzwischen im Bett des Propheten geschlafen. Er zeigt den Verschwörern gegenüber Heldenmut.
Sowohl Abū Bakrs Tochter Asmā’ wie auch ‘Alī bringen tagtäglich Proviant zur Höhle; die beiden wetteifern sogar. ‘Abdallāh, der Sohn Abū Bakrs, wird in dieser Fassung nicht erwähnt.
‘Alī bekommt den Auftrag drei Kamele und einen Führer für die Weiterreise zu mieten. In der anderen Erzählung kauft Abū Bakr die Kamele aus freien Stücken und bezahlt sie aus eigener Tasche.
Beim Einzug in Medina wird Abū Bakr nicht mal erwähnt; dafür aber ‘Alī, obwohl dieser erst einige Tage später eintrifft.

Europäische Orientalisten fühlen sich oft in rätselhafter Weise mit dem sunnitischen Islam verbunden. Demzufolge meinen sie häufig, dass ‘Urwas Erzählung die ursprüngliche sei und die andere eine schiitische Überarbeitung. Vielleicht haben sie Recht, aber das Umgekehrte ist genauso gut möglich.
Die Schia, die Partei ‘Alīs, existierte schon zu dessen Lebzeiten. Sein Anrecht auf das Kalifat war von Anfang an und vor allem nach seinem Tod im Jahr 661 stets ein zentraler Streitpunkt, während das Gedankengut ‘Urwas erst nach 690 seinen Durchbruch erlebte. Wahb verstarb ca. 728, aber seine Fassung hatte schon eine ganze Geschichte hinter sich. Sie weist deutlich sekundäre ‘Alī-Reklame auf, wie z.B. dessen auffällige Rolle bei der Ernährung in der Höhle und dem Besorgen der Kamele, aber es ist nicht alles nur ‘Alī, wo man hinhört; es gibt durchaus auch Verdienste von Abū Bakr, die zum Kern der Erzählung gehören. Dagegen könnte man an ‘Urwas Version wiederum bemängeln, dass sie überall Abū Bakr und Familie auftreten lässt. Wahbs Erzählung ist eine Mischversion. Die undatierte Fassung des at-Tabarī ist viel einseitiger schiitisch. Die schiitische Erzählung könnte älter als die andere gewesen sein; man sollte diese Möglichkeit nicht voreilig ausschließen. Nur ein sorgfältiger Vergleich aller Fassungen dürfte uns hier weiter bringen. Eine Doktorarbeit wäre denkbar. 

Auf jeden Fall ist offensichtlich geworden, dass die Wertschätzung der „Verdienste“ eines bestimmten Prophetengefährten auf und ab geht, je nach Verwandtschaftsgrad und politischer Überzeugung des Erzählers. 

ANMERKUNGEN
1. Ibn Ishāq (Wüstenfeld), 323–333; Übers. Rotter 103–8;  Übers. Guillaume, 221–227.
2. ‘Alī ibn Abī Tālib, der spätere vierte Kalif (reg. 656–661, die Galionsfigur der Schiiten, die die ersten drei Kalifen für illegitim halten. Deshalb ist er in vielen Erzählungen rückwirkend ein Gegenspieler von Abū Bakr en ‘Umar. Wie die Männer sich während ihres Lebens tatsächlich zueinander verhielten, ist unbekannt.
3. At-Tabarī, Ta’rīkh i, 1233-4.
4. Khoury, Wahb i, 136–151.
5. Arabischer Text: Ibn Ishāq (Wüstenfeld), 999–1013; deutsche Übersetzung Rotter 251–259; englische Übersetzung Guillaume 678–683.
6. Ibn Ishāq (Wüstenfeld), 1008; Übers. Rotter 253–4; Übers. Guillaume 680.
7. Ibn Ishāq (Wüstenfeld), 1009 und 1010; Übers. Rotter 254–5; Übers. Guillaume 681.
8. Ibn Ishāq (Wüstenfeld), 1010; Übers. Guillaume 682.
9. Ibn Ishāq (Wüstenfeld), 1011; Übers. Rotter 255–6; Übers. Guillaume 682; Raven, Chew stick, 593–598.)
10. Ibn Ishāq (Wüstenfeld), 1012–13; Übers. Rotter 256–7; Übers. Guillaume 682–3. S. auch Der Tod des Propheten

LITERATUR
Ibn Ishāq: 
Das Leben Muhammed’s nach Muhammed Ibn Ishâk bearbeitet von Abd el-Malik Ibn Hischâm, hrsg. F. Wüstenfeld, Göttingen, 2 Bde., 1858–60 (Arabischer Text, editio princeps).
– Deutsche Übersetzung (Auswahl): Ibn Ishāq, Das Leben des Propheten, übers. Gernot Rotter, Kandern 1999.
– Englische Übersetzung: A. Guillaume, The Life of Muhammad. A translation of Isḥāq’s (sic!) Sīrat Rasūl Allāh, Oxford 1955.

– R. G. Khoury, Wahb b. Munabbih. Teil 1. Der Heidelberger Papyrus PSR Heid Arab 23. Leben und Werk des Dichters. Teil 2. Faksimiletafeln, Wiesbaden 1972.
– M. J. Kister, „On the Papyrus of Wahb B. Munabbih,“ BSOAS 37 (1974), 547–71.
– M. J. Kister, „On the Papyrus of Wahb B. Munabbih: An Addendum,“ BSOAS 40 (1977), 125–27.
– W. Raven, „The chew stick of the prophet in Sira and Hadith,“ in Anna Akasoy und Wim Raven (Hrsg.), Islamic Thought in the Middle Ages. Studies in Text, Transmission and Translation in Honour of Hans Daiber, Leiden 2008, 593–611, insbes. S. 593–5.

Diakritische Zeichen: ʿĀʾiša, ʿĀʾisha, ʿAlī ibn Abī Ṭālib, futūḥ, al-Ṭabarī, ʿUmar ibn al-Ḫaṭṭāb, Taʾrīḫ

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Die Ridda-Kriege

Die Ridda-kriege sind die Feldzüge, die 632–634 geführt wurden, um die ganze Arabische Halbinsel dem neugebildeten Staat in Medina einzuverleiben.
Dazu gibt es eine traditionell-islamische Überlieferung und eine moderne historiographische Betrachtung. Wie bei vielen Themen aus der frühislamischen Geschichte klaffen diese weit auseinander.

Die islamischen Quellen betrachten die Sache religiös. Nach ihnen hatte Mohammed ganz Arabien unter sich vereint, aber sofort nach seinem Tod verleugneten etliche Stämme den Islam wieder. Oder in den Worten des Prophetenbiographen Ibn Ishāqs:

  • Als der Prophet verstorben war, wurden die Araber abtrünnig, lebten Christentum und Judentum wieder auf und trat die Halbherzigkeit (nifāq) ans Tageslicht. Die Muslime waren wie Schafe im Regen in einer Winternacht, nun da sie den Propheten verloren hatten, bis Gott sie unter Abū Bakr wieder vereinte.1

Während des zweijährigen Kalifats des Abū Bakr wurden in einer Reihe von Feldzügen, viele unter Führung des berühmten Generals Khālid ibn al-Walīd, die Abtrünnigen unter dem Banner des Islam zurückgebracht. Auch wurde mit einigen „falschen Propheten“ abgerechnet, unter ihnen Musailima.
Ridda bedeutet ‘Glaubensabfall’ und in der Tat: In dieser Überlieferung wird die Vergangenheit religiös gestaltet und interpretiert .

Moderne Historiker beschreiben Ereignisse aus der Vergangenheit nicht religiös. Nach ihnen nahm der neue Staat im Jahr 632 nur einen kleinen Teil der Halbinsel ein. In den Jahren danach wurde Arabien nicht wiedervereint, sondern zum ersten Mal vereint. Die Stämme, die sich Medina anschlossen, taten das nicht aus Religiosität, sondern aus politischem Kalkül. Sie sahen die Vorteile eines größeren Bündnisses und hatten dafür eine gewisse Unterordnung unter die zentrale Gewalt und einiges an Steuern übrig. Und wenn sie nicht einsichtig waren, wurde ihnen während der Ridda-Feldzüge mit Drohung und Gewalt auf die Sprünge geholfen. Es gab auch noch nicht etwas wie einen fertigen Islam, zu dem man hätte beitreten können oder dem man gegebenenfalls wieder hätte abschwören können.

ANMERKUNG:
1. [Ibn Ishāq, Sīra:] Das Leben Muhammed’s nach Muhammed Ibn Ishâk bearbeitet von Abd el-Malik Ibn Hischâm, uitg.. F. Wüstenfeld, Göttingen 1858–60, 1021. لما توفي رسول الله ص ارتدت العرب، واشرأبت اليهودية والنصرانية، ونجم النفاق، وصار المسلمين كالغنم المطيرة في الليلة الشاتية، لفقد نبيهم ص حتى جمعهم الله على أبي بكر.

Literatur
M. Lecker, ‘Ridda,’ in EI2 Suppl. [große Bibliographie!].
E. S. Shoufani, AlRiddah and the Muslim Conquest of Arabia, Toronto/Beirut 1973.
M. J. Kister, ‘The struggle against Musaylima and the conquest of Yamāma,’ in Jerusalem Studies of Arabic and Islam 27 (2002), 1–56. Auch online.

Diakritische Zeichen: Ibn Isḥāq, Ḫālid

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