Mohammeds Selbstmordvorhaben

In at-Tabarīs großem Geschichtswerk steht auch Ibn Ishāqs Erzählung über Mohammeds erstes Offenbarungserlebnis auf dem Berg Hirā’. Sie ist dem Propheten selbst in den Mund gelegt; wer sonst wäre als Quelle plausibel? Die ganze Erzählung wird in diesem Lesewerk auch mal abgedruckt werden; für den Augenblick beschränke ich mich auf den Selbstmordgedanken des Propheten. Er hat gerade erzählt, wie ihm Djibrīl (Gabriel) im Traum die ersten Koranverse übermittelt habe; dann fährt er fort:

  • … Dies rezitierte ich; dann ließ er mich los und ging weg, und als ich aufwachte war es, als wäre es in mein Herz geschrieben.
    Nun gab es kein Geschöpf, das mir verhasster war als Dichter und Besessene; ich konnte sie einfach nicht riechen. Und ich dachte: „O wehe, dieser Nichtswürdige“—er meinte sich selbst—„ist ein Dichter oder Besessener. Aber das werden die Quraisch nie von mir sagen! Ich werde hoch auf den Berg steigen und mich herunterstürzen und töten; dann habe ich Ruhe.“ In der Absicht machte ich mich also auf den Weg, aber als ich mitten auf dem Berg war, hörte ich eine Stimme vom Himmel: „Mohammed! Du bist der Gesandte Gottes, und ich bin Djibrīl.“ …1

Diese Fassung der Erzählung ist wenig bekannt; meistens liest man Ibn Ishāqs Erzählung in der Rezension des Ibn Hishām, die für viele „die“ Biografie des Propheten ist:

  • … Dies rezitierte ich; dann ließ er mich los und ging weg, und als ich aufwachte war es, als wäre es in mein Herz  geschrieben. Ich machte mich also auf den Weg, und als ich mitten auf dem Berg war, hörte ich eine Stimme vom Himmel: „Mohammed! Du bist der Gesandte Gottes, und ich bin  Djibrīl.“ …1

Ibn Hishām hat das mit dem Selbstmordgedanken herausgeschnitten und die beiden verbleibenden Texthälften etwas krude wieder zusammengenäht. Die Naht ist deutlich erkennbar. Warum hat er das getan? Er wollte offensichtlich keinen Text herausgeben, in dem etwas Negatives über Mohammed vorkommt. Aber darin zeigte er wenig Gespür für Erzählen und für islamische Theologie. Denn ist es nicht plausibel, dass Mohammed, der dem Koran zufolge ein normaler Mensch war, in dem Augenblick äußerst bedrückt gewesen sei? Nicht nur Propheten wissen, dass einer mystischen Erfahrung oft depressive Gefühle folgen. Überdies wirkt so in der Erzählung die Aufhebung aus dem Tief umso schöner. Gott greift sofort ein: So bald Mohammed den Berg hochsteigt, bekommt er abermals eine mystische Vision und es erscheint ihm der Engel über die ganze Breite des Himmels.2 Wenn das keine erbauliche Geschichte ist! Eigentlich ist sie erst schlüssig durch den Selbstmordgedanken. Gott bietet Perspektive bei Trübsinn, Gott schützt seinen Propheten vor dem Bösen, genau wie hier. Aber nein, der brave Ibn Hishām verstand so etwas nicht, und wohl mit dadurch ist sein Buch ein Bestseller geworden.

Die Möglichkeit den Propheten überhaupt an Selbstmord denken lassen zu können wird durch Koran 18:6 dargereicht: فلعلك بـٰخع نفسك على أثـٰرهم إن لم يؤمنوا بهذا الحديث أسفا . „Vielleicht willst du, wenn sie an diese Verkündigung nicht glauben, dich selber umbringen […],“ und durch K. 26:3:  لعلك بـٰخع نفسك ألاّ يكونوا مؤمنين . „Vielleicht willst du dich selber umbringen, weil sie nicht gläubig sind.“ Zwar hat Ullmann3 nachgewiesen, dass das dort verwendete Wort bākhi‘ nicht „umbringen“ bedeutet, aber viele Koranausleger haben es doch so aufgefasst, und der Erzähler des obigen Textes könnte das ebenfalls getan haben..

ANMERKUNGEN
1. At-Tabarī, [Ta’rīkh al-rusul wal-mulūkAnnales, hrsg. M.J. de Goeje et al., 14 Bde., Leiden 1879–1901, i, 1150.

قال: فقرأتها ثم انتهى فانصرف عني وهببت من نومي ، فكأنما كتبت في قلبي كتابا. (قال: ولم يكن من خلق الله أحد أبغض إلي من شاعر أو مجنون، كنت لا أطيق أن أنظر إليهما، قال: قلت إن الأبعد – يعني نفسه – لشاعر أو مجنون، لا تحدث بها عني قريش أبدا! لأعمدن إلى حالق من الجبل فلأطرحن نفسي منه فلأقتلنها فلأستريحن.) قال: فخرجت (أريد ذلك) حتى إذا كنت في وسط من الجبل سمعت صوتا من السماء يقول : يا محمد، أنت رسول الله وأنا جبريل.

Ibn Hishām hat denselben Text, aber er hat die eingeklammerten Teile gestrichen: Das Leben Muhammed’s nach Muhammed Ibn Ishâk bearbeitet von Abd el-Malik Ibn Hischâm, ed. F. Wüstenfeld, Göttingen, 2 Tle., 1858–60, i, 153.
2. Oder ist es Gott selbst? Vgl. Koran 53:8–10: . ثم دنا فتدلّى فكان قاب قوسين أو أدنى فأوحى إلى عبده ما أوحى  „Hierauf näherte er sich und kam (immer weiter) nach unten und war (schließlich nur noch) zwei Bogenlängen entfernt oder noch näher; darauf offenbarte er seinem Knecht das, was er offenbarte.“ Wenn das Subjekt Gabriel ist, ist „sein Knecht“ merkwürdig. Mohammed ist Gottes, nicht Gabriels Knecht.
3. Manfred Ullmann, „Wollte Mohammed Selbstmord begehen? Die Bedeutung des arabischen Verbums baha‘a,“ in Die Welt des Orients 34 (2004), 64–71.

Diakritische Zeichen: aṭ-Ṭabarī, Ibn Ishāq, Ḥirāʾ, Ǧibrīl, Ibn Hišām, Taʾrīḫ, bāḫiʿ, baḫaʿa

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Islamische Verkündigung

Nicht nur die Geburt Jesu wurde seiner Mutter verkündet, auch die des Mohammeds. So will es wenigstens ein kurzer, schwer datierbarer Text (zwischen 650-750 AD):

  • Die Menschen erzählen—und nur Gott weiß, was wahr ist—dass Āmina, die Mutter des Propheten, erzählt hat, während ihrer Schwangerschaft sei [eine Stimme?] zu ihr gekommen, die gesprochen habe: „Du bist schwanger mit dem Herrn dieses Volkes. Wenn er geboren wird, sag dann: ‘Lass den Einzigen ihn behüten vor dem Übel eines jeden Neiders,‘ und nenne ihn Mohammed.“ Als sie schwanger mit ihm gewesen sei, habe sie gesehen, wie ein Licht von ihr ausgegangen sei, in dem sie die Festungen von Busrā in Syrien habe sehen können.1

War es ein Engel, der zu Āmina kam? Wir wissen es nicht. Im Arabischen stehen hier passive Verbalformen: „Es wurde zu ihr gekommen … ihr wurde gesagt.“ Wer oder was das tat, bleibt ungesagt. 
Das Licht, durch das Festungen sichtbar wurden, die sich mehr als tausend Kilometer von Mekka befanden, ist das wundersame, von Ewigkeit an existierende „Licht Mohammeds“ (nūr Muhammad). In Busrā fing das Römerreich an. Die Āmina zugeschriebene Aussage verweist auf die künftige Eroberung dieses Reiches. Die Beschwörungsformel, die sie aussprechen soll, erinnert an die Suren 113 und 114 im Koran. Die beiden Suren (al-mu‘awwidhātān) schützen vor dem Bösen.

Überdies fällt die Übereinstimmung mit der biblischen Verkündigung ins Auge. Im Lukasevangelium bekommt der Vater von Johannes dem Täufer Besuch des Engels Gabriel, der dem Kind eine große Zukunft weissagt und sagt, dass er Johannes heißen solle. Auch die Mutter Jesu bekommt kurz vor ihrer Schwangerschaft Besuch von ihm. Zu ihr sagt der Engel:

  • Sei gegrüßt, Begnadigte! Der Herr [ist] mit dir. […] Fürchte dich nicht, Maria! Denn du hast Gnade bei Gott gefunden. Und siehe, du wirst schwanger werden und einen Sohn gebären, und du sollst ihm seinen Namen Jesus nennen. Dieser wird groß sein und Sohn des Höchsten genannt werden […].2

Die Verkündigungen an Āmina und an Maria haben einiges gemeinsam: 1. Besuch einer Stimme(?), bzw. eines Engels. 2. Verkündigung der Geburt eines großen Mannes. 3. Auftrag zur Namensgebung. 

Kurzum, die arabische Erzählung bedient sich nicht nur des Korans, sondern auch der biblischen oder einer sehr verwandten Erzählung. Sie tut das, weil sie in einer Umgebung entstanden ist, in der der neue Prophet Mohammed sich gegenüber den längst existierenden „Propheten“ der Juden und Christen durchsetzen musste. Sie versucht eine christliche Verkündigung durch eine islamische zu ersetzen.

ANMERKUNGEN
1. Ibn Isḥāq: Das Leben Muhammed’s nach Muhammed Ibn Ishâk bearbeitet von Abd el-Malik Ibn Hischâm, hg. F. Wüstenfeld, Göttingen 1858–60, 102. Übers. G. Rotter: Ibn Isḥāq, Das Leben des Propheten, Kandern 1999, 30. ويزعمون – فيما يتحدث الناس والله أعلم – أن آمنة بنت وهب أم رسول الله ص كانت تحدث أنها أتيت، حين حملت برسول الله ص فقيل لها: أنك قد حملت بسيد هذه الأمة، فإذا وقع إلي الأرض فقولي: أعيذه بالواحد من شر كل حاسد ثم سمّيه محمدًا. ورأت حين حملت به أنه خرج منها نور رأت به قصور بُصْرى من أرض الشأم.
2. Bibel, Lukas 1:26–38.

Diakritische Zeichen: Buṣrā, nūr Muḥammad, al-muʿawwiḏātān

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Mohammed und die Juden

Dieses Thema ist zu groß und zu kompliziert, um es hier umfassend zu behandeln. An dieser Stelle werde ich nur erklären, weshalb es so schwierig ist.

Die drei wichtigsten alten arabischen Quellentexte, in den Juden vorkommen, passen nicht zu einander. Und auch die erhaltenen Fetzen alter Poesie, die fantastischen Erzählungen im Hadith sowie die Behandlung des Themas in späteren Geschichtswerken führen nicht weiter.
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1. Der Koran nennt die Juden bei Namen (yahūd) und erwähnt sie darüber hinaus, zusammen mit den Christen, auch als „die Leute der Schrift,“ (ahl al-kitāb). Die Juden werden bald zu den Gläubigen, bald zu den Ungläubigen gezählt. Ihre Sünden in der Vergangenheit werden mit religiösen Begriffen beschrieben, die zum Großteil mit denen im Neuen Testament parallel laufen: Die Juden haben Propheten getötet und wollten auch Jesus töten; sie haben sich nicht an die Regeln ihrer eigenen Thora gehalten und die Meisten betrachten sich als das auserwählte Volk — zu Unrecht! Viele dieser Sünden haben sie laut Koran übrigens mit den Christen gemeinsam.
In der Entstehungszeit des Korans kam noch der Vorwurf hinzu, dass die Juden die Schrift verfälscht (z. B. in Vers 4:46) und Teile davon den Gläubigen verheimlicht hätten (2:76), während sie andererseits die Echtheit des Korans nicht anerkannten. Ihr Monotheismus ist keineswegs lupenrein: Unter anderen betrachteten sie Esra (‘Uzair) als Sohn Gottes. Den wahren Gläubigen seien sie feindselig gesonnen. Wegen ihrer falschen Einstellung Schrift und Gesetz gegenüber wird Gläubigen geraten, sich mit Juden und Christen nicht anzufreunden (5:51).
Die Einwände gegen die Juden im Koran sind also vorwiegend religiöser Natur. Aber es werden auch Kriegshandlungen genannt, zu denen Juden angestiftet hätten (5:64). Die „Ungläubigen unter den Leuten der Schrift“ waren jedoch selbst untereinander uneins und haben deshalb den Kampf verloren. Gott hat sie aus ihren Festungstürmen heruntergeholt (33:26–27) und die Gläubigen haben ihre Häuser zerstört (59:2).
Was der Koran zu den Juden, bzw. zu den Leuten der Schrift zu sagen hat → Rubin schön zusammengefasst.
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2. Das Dokument von Medina1 (kitāb) war ein Bündnisvertrag zwischen Muhammad und den anderen Emigranten aus Mekka mit den Bewohnern Medinas, den „Helfern“, unter denen auch Juden waren. Einige Zitate aus → Wellhausens Übersetzung (1889):

  • Die Schutzgemeinschaft Gottes ist eine einzige und allgemeine; die Schutzgewähr verpflichtet alle. Die Gläubigen sind sich gegenseitig zu Schutz verpflichtet gegen die Menschen.
  • Die Juden, die uns folgen, bekommen Hilfe und Beistand; es geschieht ihnen kein Unrecht und ihre Feinde werden nicht unterstützt.
  • Die Juden der ‘Auf behalten zwar ihre Religion, bilden aber eine Gemeinde (umma) mit den Gläubigen.
  • Die Juden der Aus, ihre Beisassen und sie selber, haben die gleiche Stellung wie die Genossen dieser Schrift […].

Neben den ‘Auf und den Aus werden weitere Stämme erwähnt, jeder mit seinen eigenen Juden. Es scheint, dass diese in einer untergeordneten Position Teil des jeweiligen Stammes waren. Das Dokument muss sehr alt sein, es enthält etliche unverständliche Wörter und Termini. Wellhausens Übersetzung mag zu wünschen übrig lassen; zu befürchten ist aber, dass die anderen Übersetzungen auch nicht besser sind.
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3. Die Standarderzählung über Mohammeds Abrechnung mit den Juden aus Ibn Ishāqsira in der Bearbeitung von Ibn Hishām kennen Sie wahrscheinlich.2 Sie steht in jedem einführendes Buch zum Islam. Es gibt auch andere sira-Quellen, in denen sie vorkommt. Laut dieser Erzählung suchte Mohammed erst eine Annäherung an die jüdischen Stämmen in Medina, nämlich Quraiza, an-Nadīr und Qainuqā‘. Diese machten aber gemeinsame Sache mit seinen Feinden, verrieten ihn und wurden deshalb bestraft: Grund und Besitz wurden ihnen abgenommen, sie wurden vertrieben, zum Teil sogar ausgerottet, und in Arabien durften nie wieder Juden leben.
Diese Erzählung ist historiographisch jedoch fast nichts wert, denn sie ist vor allen Dingen eine ausführliche Exegese bestimmter Koransuren und will in einigen Punkten Präzedenzfälle für die Rechtsgelehrtheit bieten. Dies hat → Schöller in seinem Exegetisches Denken nachgewiesen. Das Buch erschien bereits 2008, wurde aber kaum wahrgenommen, womöglich weil es die – nicht nur von Muslimen – fast wie ein Dogma behandelte traditionelle Überlieferung widerlegt. Oder man fand es einfach zu schwierig: Das Buch ist nur für klassisch ausgebildete Arabisten genießbar.3
In der ganzen sira ist die Gesinnung oft ausgesprochen judenfeindlich. Merkwürdig ist aber, dass der Erzähler bei den Hinrichtungs- und Ausrottungsszenen manchmal den jüdischen Opfern gegenüber mitleidsvoll ist. Im alten Arabien war man nie so empfindsam bei der Ausrottung von Sippen, aber in diesem Fall durchaus. Warum ist noch unklar.
Die sira enthält auch ein großes Kapitel4 voller „Berichten“ von Streitgesprächen zwischen dem Propheten und einigen seiner Gefährten mit arglistigen jüdischen Rabbinern. Auch diese sind Koranauslegung, und zwar der Sura 2:1–100.
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Die drei in der Standarderzählung erwähnten selbständigen jüdischen Stämme kommen im „Dokument von Medina“ nicht vor; die dort genannten Juden wiederum nicht in der Standarderzählung. Der Koran nennt überhaupt keine Namen und redet weder von einem Bündnis noch von dessen Verletzung.
Wenn die Standarderzählung in der sira überwiegend Koranexegese ist, kann sie schwerlich als historische Quelle verwendet werden. Das »Dokument« wiederum muss von vor dem Bruch zwischen Muslimen und Juden datieren — aber wann ergab sich dieser Bruch? Als Muhammad noch lebte – oder erst hundert Jahre später? In einem gewissen Augenblick fingen die Muslime ja an, sich von den jüdischen Texten zu distanzieren, die sie anfangs schon bei ihrer Koranauslegung und in der sīra verwendet hatten, nämlich die Bibel und die jüdischen Prophetenlegenden. Diese sogenannten isrā’īlīyāt wurden ab dem 8. Jahrhundert von Muslimen immer unakzeptabeler gefunden. Es ist denkbar, dass die älteste Geschichte des Islams bei dieser „Entbibelung“ noch mal überholt worden ist und dass bei dieser Gelegenheit anti-jüdische Gefühle in die Vergangenheit zurückprojiziert wurden. Das macht es noch schwieriger zu erkennen, was zu Mohammeds Zeit wirklich geschah.
Es gab etliche moderne Autoren, die eine zusammenhängende Erzählung nachstreben, indem sie die drei heterogenen Hauptquellen mit einander in Einklang zu bringen versuchten. Meist sind sie von der Standarderzählung ausgegangen – deren fiktiver Charakter mittlerweile nachgewiesen ist – und haben ihre Interpretation der beiden anderen Quellen daran »angepasst«. Solche Harmonisierungsversuche können nicht befriedigen. Es ist ehrlicher zuzugeben, dass wir über die Geschehnisse wenig bis gar nichts wissen. Andere Autoren wissen oder spüren das; unter ihnen gibt es einige, die mit postmoderner Gleichgültigkeit erklären, dass es nicht wichtig ist, was damals wirklich geschah. Ihnen geht es ja um Analyse, Interpretation und Kontextualisierung der Erzählungen.

Was in Wirklichkeit geschehen oder vielmehr nicht geschehen ist, ist aber doch von Interesse. Dass zu Muhammads Umgang mit den Juden kein zuverlässige Auskunft existiert, hindert die Menschen nämlich nicht daran, das Thema zu instrumentalisieren. Moderne muslimische Judenhasser berufen sich auf die Standarderzählung, um die Juden noch mal so richtig hassen zu können. Moderne Muslimhasser berufen sich auf dieselbe Erzählung, um Mohammed als mordlustigen, von Hass erfüllten Antisemit zu schildern. Bis vor kurzem waren einige von ihnen vielleicht selbst noch Antisemiten; die islamische Standarderzählung, die sie für sich frisch entdeckt und glatt für wahr gehalten haben, macht es ihnen leichter auf Muslimhass umzusteigen, was einen Tick moderner erscheint. Und das, obwohl kein Mensch herausfinden kann, was damals wirklich geschah. Wenn man wenigstens das eingestehen würde, müsste man gleich viel weniger hassen und schimpfen.

6.9.2013 Auch veröffentlicht in zenith, Nov./Dez. 2013, S. 110–111.

ANMERKUNGEN
1. Auf Deutsch oft „die Gemeindeordnung von Medina“, auf Englisch „the constitution of Medina“ genannt. Ibn Isḥāq, arabische Text, 341–44; Deutsch in Wellhausen, 67–73, online hier; Englisch: Guillaume, 231–33, online hier; Watt 221-225, Lecker@. Humphreys bietet eine wertvolle Einführung zum „Dokument“; mit Bibliographie.
2. Ibn Isḥāq, arabische Text: 545–547, 652–661, 680–697; Deutsch: Rotter 160–162, 176–181, 204–207; Englisch: Guillaume 363–364, 437–445, 458–468 und viele andere Stellen.
3. Aber man könnte doch wenigstens sein „Zusammenfassung und Ergebnis“ zur Kenntnis nehmen, S. 463–468.
4. Ibn Isḥāq: Arabische Text: 361–400; Deutsch: Rotter116–123; Englisch: Guillaume 246–270.

BIBLIOGRAPHIE
– Ibn Isḥāq: Arabische Text: Das Leben Muhammed’s nach Muhammed Ibn Ishâk bearbeitet von Abd el-Malik Ibn Hischâm, Hrsg. F. Wüstenfeld, Göttingen 1858–60, Deutsche Übersetzung: Ibn Isḥāq, Das Leben des Propheten, Übers. Gernot Rotter, Kandern 1999.; Englische Übersetzung: A. Guilaume, The Life of Muhammad, A Translation of Isḥāq’s (sic!) Sīrat Rasūl Allāh, Oxford 1955.
– Moshe Gil, „The Constitution of Medina. A Reconsideration,“ Israel Oriental Studies 4 (1974), 44–65.
– R. Stephen Humphreys, Islamic History. A Framework for InquiryRevised Edition, London/New York 1991. Die S. 92–98 enthalten eine wertvolle Einführung in das „Dokument von Medina,“ mit Bibliographie.
– Michael Lecker, The ‘Constitution of Medina’. Muḥammad’s First Legal Document, Princeton, New Jersey 2004.
– Paul Lawrence Rose, Muhammad, „The Jews and the Constitution of Medina: Retrieving the historical Kernel,“ Der Islam 86 (2011), 1–29.
– Uri Rubin, „Jews and Judaism,“ Encyclopaedia of the Qurʾān. Hrsg. Jane Dammen McAuliffe, Leiden 2001–2006 (iii, 21–34).
– Günter Schaller, Die „Gemeindeordnung von Medina“. Darstellung eines politischen Instruments. Ein Beitrag zur gegenwärtigen Fundamentalismus-Diskussion im Islam, Augsburg, Univ.-Diss. 1983.
– Marco Schöller, Exegetisches Denken und Prophetenbiographie: eine quellenkritische Analyse der Sīra-Überlieferung zu Muḥammads Konflikt mit den Juden, Wiesbaden 2008.
– W. Montgomery Watt, Muhammad at Medina, Oxford 1956, insbes. S. 221-228.
– Julius Wellhausen, „Mohammeds Gemeindeordnung von Medina“ in Skizzen und Vorarbeiten iv, Berlin 1889, 65-83. Online hier verfügbar.

Diakritische Zeichen: Ibn Isḥāq, Ibn Hišām, Quraiẓa, an-Naḍīr, Qainuqāʿ

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Die vermeintliche Krankheit Mohammeds – 1: Epilepsie

Die Gesundheit des Propheten Mohammed muss robust gewesen sein. Er hat ja eine Gemeinde gegründet, eine Botschaft verbreitet, Widerstand ertragen, Kriegszüge geführt, einen Staat eingerichtet und noch einiges mehr. Ein krankhafter Mann bringt das nicht fertig. Keiner der zahlreichen alten arabischen Quellentexten zu Mohammed teilt etwas mit über eine ernsthafte Krankheit des Propheten, oder über seinen Gesundheitszustand überhaupt — mit Ausnahme der Erzählungen zu seinem Sterbebett.1 Sterblich war er allemal.

In Europa dagegen „wusste“ man immer, dass der Prophet sein ganzes Leben lang schwer und chronisch krank war. Dem Kirchenvater Theophanes Confessor (Konstantinopel 760–Samothrake 818) zufolge litt er nämlich an Epilepsie, und diese Mär wurde in Europa in der lateinischen Übersetzung von Anastasius Bibliothecarius (± 810–878) jahrhundertelang verbreitet: ein ruhmloses Kapitel in den Beziehungen zwischen Europa und dem Nahen Osten. Im 18., vor allem im 19. Jahrhundert wurden immer mehr alte arabische Texte in Europa bekannt. Es standen Orientalisten auf, die sie fleißig studierten und einsahen, dass das mit der Epilepsie nicht stimmen konnte, oder gar nicht mehr daran dachten. Aloys Sprenger, ein Orientalist, der auch Medizin studiert hatte, meinte 1861 noch, dass Mohammed zwar nicht an Epilepsie, sondern an Hysterie gelitten habe, eine typische Krankheit seines eigenen Jahrhunderts. Danach hörte man kaum noch von einer Krankheit, aber neuerdings kommt der Gedanke, dass Mohammed krank war, wieder auf. Diesmal nicht in kirchlichen oder orientalistischen Kreisen, sondern bei Islamhassern, die eine Auswahl an Koranversen und übersetzten Quellentexte verwenden—ohne allerdings in der Lage oder bereit zu sein, diese zu verstehen. Allerdings scheint der Glaube an Mohammeds Epilepsie endgültig aus der Mode geraten zu sein: ein Verfasser hält es vielmehr für bewiesen, dass er an Akromegalie litt und ein anderer diagnostiziert Schizophrenie. Welche Krankheit dem Propheten auch immer angedichtet wird, sie soll immer auch seine vermeintliche Geistesgestörtheit und Sexbesessenheit erklären, denn darauf möchten die europäischen Islamhasser ungerne verzichten.
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Fangen wir an bei Theophanes. Dieser kannte offensichtlich eine Fassung der Erzählung über das erste Offenbarungserlebnis auf dem Berg Hirā, in der der Prophet nach dem ersten Schrecken Schutz und Trost suchte bei seiner Frau Khadīdja.2 Er schreibt:

  • Weil er arm und verwaist war, gefiel es dem besagten Mouamed, als Angestellter in den Dienst einer reichen Frau zu treten, die Chadiga hieß und eine Verwandte von ihm war, um mit Kamelkarawanen in Ägypten und Palästina Handel zu treiben. Nach und nach erdreistete er sich, sich an die Frau heranzumachen, die Witwe war; er nahm sie als Gattin und erwarb ihre Kamele und das Vermögen. Wann immer er nach Palästina kam, verkehrte er mit Juden und Christen und verfolgte bei ihnen bestimmte Sachen, die Schriften betreffend. Er litt an Epilepsie. Als seine Frau davon erfuhr, war sie sehr traurig, da sie als Frau von vornehmer Herkunft einen Mann wie ihn geheiratet hatte, der nicht nur arm, sondern auch Epileptiker war. Er versuchte sie trügerisch zu beschwichtigen, indem er sagte: „Ich sehe die Erscheinung eines Engels namens Gabriel, und da ich seinen Anblick nicht aushalten kann, werde ich ohnmächtig (?) und falle hin.“3

So war der Prophet Theophanes zufolge nicht nur krank, sondern auch ein Betrüger: die ganze Offenbarung war somit Betrug. Aber passt es nicht hervorragend in Erzählungen zu einem Berufungs- oder Offenbarungserlebnis, dass ein Prophet sich vor Schrecken und Ehrfurcht zu Boden wirft? Im Alten Testament passiert das, wenn ein Prophet mit dem Göttlichen konfrontiert wird, z.B. Hesekiel 1:28, 3:23. Der hebräische Ausdruck ist wa-eppol al panay, ואפל על פני , von Luther wörtlich übersetzt mit: „ich fiel (nieder) auf mein Angesicht.“ Man sollte dabei wohl eher an ein aktives „sich Niederwerfen“ denken. Theophanes, der die Bibel auf Griechisch las, muss dieses biblische πίπτω ἐπὶ πρόσωπόν μου gelesen haben, ohne es jedoch in Verbindung zu bringen mit dem Mohammed angedichteten „Fallen“, das in der von ihm gehörten Erzählungen bestimmt genau so gemeint ist. Sonst hätte er sich mal fragen sollen, ob der biblische Prophet Hesekiel etwa auch Epileptiker gewesen war. Aber nein, das konnte zu seiner Zeit natürlich noch bei keinem Christ aufkommen: Die biblischen Erzählungen sind ja hundertprozentig wahr und berichten von wirklichen Ereignissen, während sie nichts gemeinsam haben mit ähnlichen Erzählungen über Mohammed, die völlig gelogen sind. 

Das ganze Mittelalter hindurch und noch später hörte man immer wieder von Epilepsie. Über die zerrüttete Beziehung zwischen dem westlichen Christentum und der Welt des Islams kann man bei Daniel lesen, für die spätere Zeit auch bei →Tolan. Ich zitiere als Beispiel nur noch Luther, der die Schrift Confutatio Alcorani seu legis Saracenorum von Ricoldo da Monte di Croce O.P. (gest. 1320) übersetzte:

[…] Da brach herfur Mahmet ein Araber / der nu reich worden war / durch eine Widwen / die er gefreiet hatte / Darnach ward er ein Heubtman unter den strassen reubern und kam in solche hoffart / das er König in Arabien zu werden gedacht. Aber weil er eins geringen herkomens und ansehens war / namen sie jn nicht an. Da gab er sich fur einen Propheten aus / Und nach dem er das Falubel / oder die fallende seuche hatte / und stets darnider fiel / auff das niemand gleubete / das er solche Plage hatte / sprach er / Ein Engel hette mit jm geredt. Und sagt darnach etliche Sprüche / welche er hette gehort (wie er sagt) wie eine Glocke / die umb seine ohren geklungen hette.4

Hier klingt nicht nur ein Echo der Erzählung zum ersten Offenbarungserlebnis, sondern auch das eines Hadiths:

Al-Hārith ibn Hishām fragte den Propheten: „Wie kommt die Offenbarung zu Dir?“ Er antwortete: „Manchmal kommt sie zu mir wie das Läuten einer Glocke; das ist das Härteste für mich, und wenn es abklingt, behalte ich sie. Und manchmal kommt ein Engel in Gestalt eines Mannes zu mir und ich behalte das, was er sagt.“5

Es gibt tatsächlich mehrere Hadithe, in denen ein Offenbarungserlebnis des Propheten beschrieben wird. Vielleicht glauben Muslime, dass diese einen wirklichen Tatbestand wiedergeben, aber Nichtmuslime müssen das keineswegs. Ich halte sie für fromme Dichtung.
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Wie die Krankheit Mohammeds sich in der Neuzeit entwickelte, folgt im 2. Teil.

ANMERKUNGEN
1. Den ältesten Quellen zufolge (z.B. Ibn Isḥāq, Sīra 999–1011) fing sein Sterbebett mit heftigen Kopfschmerzen an. Hatte er eine Hirnblutung, einen Hirntumor, eine Hirnhautentzündung oder waren die Kopfschmerzen sekundär, verursacht durch eine andere Grunderkrankung? Wir wissen es nicht und spekulieren ist völlig sinnlos: Die Quellen reden nur von Kopfschmerzen. Ein Text sagt aus, dass der Prophet sich weigerte, ein (Zauber?)-Medikament aus Äthiopien einzunehmen. An anderer Stelle erfahren wir, dass der Prophet einen Verband um den Kopf trug und zu schwach geworden war, das Gebet zu leiten. Bei jemandem, der dem Tod nahe ist, ist das nicht verwunderlich. Zum Tod des Propheten siehe hier.
2. Ibn Isḥāq, Sīra 151–4.
3. Theophanes, Chronographia i, 333-4: ἀπόρου δὲ καὶ ὀρφανοῦ ὄντος τοῦ προειρημένου Μουάμεδ, ἐδοξεν αὐτῷ εἰσιέναι πρός τινα γυναῖκα πλουσίαν, συγγενῆ αὐτοῦ οὖσαν, ὀνόματι Χαδίγαν, μίσθιον ἐπὶ τῷ καμηλεύειν καὶ πραγματεύεσθαι ἐν Αἰγύπτῳ καὶ Παλαιστίνη. κατ’ ὀλιγον δὲ παρρησιασάμενος ὑπεισῆλθε τῇ γυναικὶ χήρα οὖσῃ, καὶ ἔλαβεν αὐτὴν γυναῖκα καὶ ἔσχε τὰς καμήλους αὐτῆς καὶ τὴν ὓπαρξιν. ἐρχόμενος δὲ ἐν Παλαιστίνῃ συνανεστρέφετο Ἰουδαίοις τε καὶ Χριστιανοῖς. ἐθηρᾶτο δὲ παρ’ αὐτῶν τινὰ γραφικά, καὶ ἔσχε τὸ πάθος τῆς ἐπιληψίας. καὶ νοήσασαι ἡ τούτου γυνὴ σφόδρα ἐλυπεῖτο, ὡς εὐγενὴς οὖσα καὶ τῷ τοιούτῳ συναφθεῖσα οὐ μόνον ἀπόρῳ ὄντι, ἀλλὰ καὶ ἐπιληπτικῷ. τροποῦται δὲ αὐτὸς θεραπεῦσαι αὐτὴν οὓτω λέγων, ὃτι ὀπτασίαν τινὰ αγγέλου λεγομένου Γαβριὴλ θεωρῶ, καὶ μὴ ὑποφέρων τὴν τούτου θέαν ὀλιγωρῶ καὶ πίπτω. (@Was ὀλιγωρῶ hier bedeutet, ist mir nicht klar; ich muss es in der UB in einem Spezialwörterbuch nachschlagen.)
4. Luther, Verlegung, Kap. 13.
5. Muslim, Sahīh, Fadā’il 87: أن الحارث بن هشام سأل النبي ص: كيف يأتيك الوحي؟ فقال: أحيانًا يأتيني في مثل صلصلة الجرس وهو أشدُّه عليه ثم يفصِم عنّي وقد وعيته، وأحيانًا ملَك في مثل صورة الرجل فأعي ما يقول.
Auch Hesekiel (1:28) will laute Klänge gehört haben: „Und wenn [die Engel] gingen, hörte ich ihre Flügel rauschen wie große Wasser, wie die Stimme des Allmächtigen, ein Getöse wie in einem Heerlager.“

BIBLIOGRAPHIE
– Norman Daniel, Islam and the West, Oxford 1960, 1993.
– Ibn Isḥāq, Sīra: Das Leben Muhammed’s nach Muhammed Ibn Ishâk bearbeitet von Abd el-Malik Ibn Hischâm, ed. F. Wüstenfeld, Göttingen, 2 Tle., 1858–60.
– Martin Luther: Verlegung | des Alcoran | Bruder Richardi | Pre-|diger Ordens | An-|no. 1300 | Verdeudscht durch | D. Mar. Lu., Wittemberg 1542, Kap. 13. Die Abhandlung ist mehrfach online vorhanden; einfach googeln.
– Theophanes: Theophanis Chronographia, Hrsg. Carl de Boor. 1. Textum Graecum continens, Leipzig 1883, Nachdruck Hildesheim 1980.
– Theophanes: The chronicle of Theophanes Confessor. Byzantine and Near Eastern history A.D. 284–813, transl. with introd. and commt. by Cyril Mango and Roger Scott, with the assistance of Geoffrey Greatrex, Oxford 1997, Reprint 2006.
– John V. Tolan, Faces of Muhammad. Western Perceptions of the Prophet of Islam from the Middle Ages to Today, Princeton & Oxford 2019.

Diakritische Zeichen: Ḥirāʾ, Ḫadīǧa, Ṣaḥīḥ, Faḍā’il, Al-Ḥārit ibn Hišām

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Die ältesten Quellen zur Mohammedbiografie (sira)

Es ist wenig sinnvoll immer nur die berühmte Mohammedbiografie von Ibn Isḥāq (gest. 767) in der Rezension des Ibn Hišām (gest. ± 828) zu lesen. Die Schriften des ‘Urwa ibn az-Zubair zum Beispiel sind erheblich älter und mindestens so wichtig. Hier folgt ein Überblick der frühesten Quellen, von denen immer mehr in Übersetzungen gelesen werden können. Meiner Meinung nach sind die späteren sira-Bücher weniger interessant, obwohl man immer wieder darauf hinweist, dass späte Werke frühe Texte enthalten können. Mag sein; es gibt aber erst noch sehr viel zu lesen, das nachgewiesen alt ist.

– Die Erzähler, Qiṣṣa: hier kurz behandelt. Wichtig ist Wahb ibn Munabbih.


Sīra-Sammlungen

Diese Werke sind in Übersetzungen vorhanden:

‘Urwa ibn az-Zubair (gest. 711). Sehr alte Berichte über den Propheten: A. Görke en G. Schoeler, Die ältesten Berichte über das Leben Muḥammads. Das Korpus ‘Urwa ibn az-Zubair, Princeton 2008. 

Ibn Isḥāq (gest. 767), englische Übersetzung: Alfred Guillaume, The Life of Muhammad. A translation of Ibn Ishāq’s Sīrat Rasūl Allāh, Oxford 1955, Nachdruck Karachi 1978; deutsche Übersetzung einer Auswahl aus den Texten: Ibn Isḥāq, Das Leben des Propheten, übers. Gernot Rotter, Kandern 1999.   

– Ma‘mar ibn Rāshid (gest. 770). So alt wie Ibn Ishāq, aber mal eine andere Auswahl. Englische Übersetzung: Sean W. Anthony, The Expeditions. An Early Biography of Muhammad, New York University Press 2015.

– Al-Wāqidī (gest. 822), Übers. Rizwi Faizer en Abdulkader Tayob, The Life of Muhammad, al-Wāqidī’s Kitāb al-Maghāzī, New York 2011. Übers. Julius Wellhausen, Muhammed in Medina. Das ist Vakidi’s Kitab alMaghazi in verkürzter deutscher Wiedergabe, Berlin 1882 (Es existieren Nachdrucke).

– Ibn Sa‘d (gest. 845), Kitāb al-Tabaqāt al-Kabīr Band 1 und 2, Übers. S. Moinul Haq, Pakistan Historical Society 1967 en 1972 (Es existieren Nachdrucke).

Für die späteren sīra-Werke →Kister, Sīrah, 366–7 und →Schöller, Exegetisches Denken, 64–70.

Wer es wirklich nicht lassen kann, kann den bei Salafisten beliebten Ibn Kathīr (± 1300–1373) in englischer Übersetzung lesen: The Life of the Prophet Muhammad, 4 vols., trans. Trevor Le Gassick, Reading 1998–2000.


– Hadithsammlungen
Verschiedene Hadithsammlungen haben eine maġāzī-Abteilung, d.h. ein Kapitel über die Kriegszüge des Propheten, aber auch über die Biografie generell. So z.B. die Sammlungen von →Ibn Abī Shaiba (Muṣannaf, xiv, 283-601) und →al-Bukhārī (Ṣaḥīḥ, Maghāzī). Der oben erwähnte Ma‘mar ibn Rāshid bietet auch Hadithe, aber seine Sammlung bildet ein separates Textblock mit Ansätze zu einer Komposition, was in den sonstigen Hadithsammlungen nicht der Fall ist; deshalb habe ich ihn unter den sīra-Werken aufgenommen. Auch sonst kommen sīra-Fragmente überall zerstreut in den Sammlungen vor. Viele Erzählungen, die in den frühesten Quellen keine oder nur eine mangelhafte Überliefererkette (isnad) hatten, wurden salonfähig gemacht, indem man sie mit einer Kette versah und in die sog. „kanonischen“ Hadithsammlungen hinüberrettete. Hadith will aber nicht immer gerne erzählen, sondern konzentriert sich vor allem auf das, was erlaubt, unerlaubt oder ethisch empfehlenswert ist. Sira-Elemente können im Hadith deshalb de- oder rekontextualisiert werden. Es ist zum Beispiel interessant zu sehen, wie die Benutzung eines Zahnholzes durch den Propheten auf seinem Todesbett (→Ibn Isḥāq, 1011) sich im Hadith von einem kleinen Erzählelement in ein Beispiel für das Alltagsleben verwandelte (→Bukhārī, Ṣaḥīḥ, Maghāzī 83 und Djum‘a 9, und →Raven, Chew stick). Es gibt aber auch Hadithe, die aussehen, als enthielten sie Biographisches, aber die in Wirklichkeit von Anfang an als Grundlage einer Rechtsregel gemeint waren. Ich rechne dazu z. B. das Material zu Māriya, einer koptischen Sklavin, die dem Propheten von einem christlichen Herrscher, dem  Muqauqis von Alexandrien, geschenkt sein soll und laut Überlieferung Ibrāhīm, das jung verstorbene Söhnchen des Propheten, gebar. Zu Ibrāhīm steht mein Artikel hier, über Māriya hier.

BIBLIOGRAFIE
Die Quellentexte auf Arabisch
– Ibn Isḥāq: Das Leben Muhammed’s nach Muhammed Ibn Ishâk bearbeitet von Abd al-Malik Ibn Hischâm, Hrsg. F. Wüstenfeldt. 2 Bde., Göttingen 1858-60.
– Ibn Sa‘d (gest. 845), Kitāb al-Tabaqāt al-Kabīr, Hrsg. E. Sachau e.a., Leiden 1904–1921. Die Biografie steht in Bd. 1 und 2.
– Ibn abī Shaiba, Musannaf, 15 Bde., Haydarābād 1966 ff.
– Ma‘mar ibn Rāshid: in ‘Abd al-Razzāq al-San‘ānī, Muṣannaf, 11 Bde. + Indexband, Beirut 1973. Ma‘mars Maghāzī stehen in Bd. 5; pdf hier.
– Al-Wāqidī, The Kitāb al-Maghāzī, Hrsg. Marsden Jones, 3 vols. London 1966.

Sekundär
– M. J. Kister, ‘The sīrah literature,’ in: A.F.L. Beeston (Hrsg.), The Cambridge History of Arabic Literature. Arabic literature to the end of the Umayyad period, Cambridge 1983, 352–67. Auch online.
– Wim Raven, ‘The Chewstick of the Prophet in Sīra and ḥadīth,’ in: Islamic Thought in the Middle Ages. Studies in Text, Transmission and Translation, in Honour of Hans Daiber, Edited by Anna Akasoy and Wim Raven, Leiden/Boston 2008, 593–611. Hier online.
– M. Schöller, Exegetisches Denken und Prophetenbiographie. Eine quellenkritische Analyse der Sīra-Überlieferung zu Muḥammads Konflikt mit den Juden, Wiesbaden 1998.

Diakritische Zeichen: Ibn Isḥāq, qiṣṣa, al-Ṣanʿānī, Šaiba, Muṣannaf, Buḫārī, Ṣaḥīḥ, Maġāzī, Ǧumʿa, Ḥaydarābād

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Rassismus im frühesten Islam? Der Fall Bilal

🇳🇱 Wenn es unter den alten Arabern und/oder den ersten Muslimen Rassismus gab, hat sich das vielleicht bemerkbar gemacht in den Texten über Bilāl ibn Rabāḥ al-Ḥabashī, den ersten muslimischen Muezzin, der eine schwarze Mutter hatte. Es bleibt allerdings fraglich, ob man über ihn und seine Zeit etwas erfahren kann, denn viele Texte über ihn wurden erst ein Jahrhundert nach ihm oder später verfasst und enthalten daher keine Informationen über möglichen Rassismus im frühesten Islam. Trotzdem möchte ich hier einige Texte über ihn anschauen.
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Bilāl wurde in Mekka als Sklave eines Mannes aus dem Stamm Djumaḥ geboren. Seine Mutter Ḥamāma war eine äthiopische Sklavin. Er wird also ein dunkle Haut und vielleicht krauses Haar gehabt haben.
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Der Wikipedia zufolge wurde er am 5. März 581 geboren und starb am 2. März 640; nun, wer es glaubt wird selig. Normalerweise weiß die Wiki viel weniger als es zu wissen gibt, aber manchmal auch mehr.
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Es wird erzählt, dass er ein Sklave von Umayya ibn Khalaf al-Djumaḥī war, einem Mitglied der vorislamischen Elite von Mekka, oder von jemand anderem aus demselben Stamm. Sobald der Name Umayya fällt, muss der Historiker besonders vorsichtig sein. Dieser Umayya ist der Vorfahr der Umayyaden-Dynastie (661–750) und die hatte eine schlechte Presse bei den späteren islamischen Historikern, so dass die Texte über sie stark manipuliert wurden.
Bilāl soll ein guter Sklave gewesen sein, weil uns mitgeteilt wird, dass er mit der Verwaltung der Schlüssel zu den Götzen betraut wurde
.1 Was genau das bedeutet, ist nicht klar, aber es klingt nach einer verantwortungsvollen und ehrenvollen Aufgabe. Also hier keine Spur von Rassismus: Ein schwarzer Sklave war offenbar in der Lage, diese wichtige Funktion zu übernehmen. Nach islamischen Regeln kann ein Sklave keine religiöse Funktion ausüben. Dieser Text will vielleicht an erster Stelle betonen, dass es in der vorislamischen Barbarei anders war.
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Aus heidnischer Sicht liefen die Dinge jedoch schief, weil Bilāl sich Mohammeds Bewegung anschloss. Traditionell ausgedrückt: Er wurde Muslim, einer der ersten. Der Islam wird oft als attraktiv für sozial Schwache und damit auch für Sklaven dargestellt. Als Umayya von seinem Übergang erfuhr, war er wütend und ließ ihn foltern:

  • Bilāl war als Sklave geboren worden und gehörte jemandem von der Sippe Djumaḥ. Sein Vater hieß Rabāḥ, seine Mutter Ḥamāma. Er war aufrichtig imn Glauben un drein im Herzen. Umayya, einer der führenden Männer der Djumaḥ, brachte Bilāl oft in der größten Mittagshitze hinaus in das breite Tal von Mekka, warf ihn auf den Rücken, ließ ihm einen mächtigen Stein auf die Brust legen und sprach:
    „Du bleibst so liegen bis du stirbst, wenn du nicht Mohammed abschwörst und nicht zu den Göttinnen Lāt und ‘Uzzā betet.”
    „Einer! Einer!“ rief Bilāl und bekannte sich trotz seiner Bedrängnis zum einzigen Gott.
    Von seinem Vater erzählte mir Hishām ibn ‘Urwa folgendes: Als Bilāl so gequält wurde und „Einer! Einer!“ rief, kam einmal Waraqa ibn Naufal vorüber, bestärkte Bilāl in seinem Glauben und trat dann auf Umayya und die anderen vom Stamme Djumaḥ zu, die sich an der Folterung Bilāls beteiligten.
    „Ich schwöre bei Gott,“ sprach er zu ihnen, „wenn ih ihn auf diese Weise umbringt, werde ich sein Grab zu einer Wallfahrtsstätte machen.“
    Auch Abū Bakr kam eines Tages dazu, als die Djumaḥ, in deren Viertel sein Haus stand, Bilāl peinigten. Er fragte Umayya:
    „Fürchtest du nicht Gott, dass er dich bestrafen wird für das, was du mit diesem Armen tust? Wie lange soll das noch gehen?“
    „Du warst es doch, der ihn verdorben hat,“ erwiderte Umayya, „nun befreie du ihn auch aus der Lage, in der du ihn jetzt siehst!“
    „Ja, ich werde es tun,“ entgegnete Abū Bakr, „ich habe einen schwarzen Sklaven, der kräftiger und stärker ist als er und deinem Glauben angehört. Den gebe ich dor für Bilāl.“
    Umayya war damit einverstanden. Abū Bakr aber nahm Bilāl und entließ ihn aus dem Sklavenstand.2

Eine vollständig islamisierte Märtyrergeschichte also. Aber wurde Bilāl gefoltert, weil er schwarz war? Keine Spur davon in der Überlieferung: Der einzige Grund war, dass er sich Mohammed angeschlossen hatte. Diesem Text zufolge wurde jedoch ein schwarzer Sklave gegen einen anderen schwarzen Sklaven ausgetauscht; für diesen Autor war es in der Tat eine separate Kategorie. Nach einer anderen Version wurde Bilāl gegen einen nicht näher bezeichneten Sklaven ausgetauscht, oder gegen eine Sklavenfamilie von drei Personen.
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Von nun an keine Sklavenarbeit mehr für Bilāl, aber was sollte er jetzt tun? Er hatte keinen Stamm, auf den er zurückgreifen konnte. Für eine Weile arbeitete er als Hirte für seinen Wohltäter Abū Bakr. Aber er hatte eine schöne, kraftvolle Stimme, und Mohammed ernannte ihn kurz nach der Hijra zu seinem Muezzin, dem Ausrufer der täglichen Gebete. Ein Hadith über Letzteres lautet wie folgt:

  • …von ‘Abdallāh ibn ‘Umar: Als die Muslime nach Medina kamen, kamen sie immer zusammen, um die Gebetszeiten zu bestimmen; zu dieser Zeit gab es noch keinen Aufruf. Eines Tages, als sie darüber sprachen, sagten einige: „Lasst uns Klapper benutzen, wie die Christen.“ Andere sagten: „Nein, ein Horn, genau wie die Juden.“ ‘Umar sagte:“ Warum schicken wir nicht einen Mann um zum Gebet auf zu rufen? „Dann sagte der Prophet: „Bilal, steh auf und rufe zum Gebet!“3

Bilal

Bilals Aufruf zum Gebet auf der Ka‘ba

Bei dieser Ernennung wurden keine rassistischen Kommentare gehört—wenigstens sind sie nicht überliefert worden. Es heißt jedoch, dass der Prophet bei der Eroberung von Mekka Bilāl anwies, vom Dach der Ka‘ba aus zum Gebet aufzurufen, und bei dieser Gelegenheit gab es durchaus rassistische Gehässigkeiten:

  • [Koranvers 49:13] wurde über Bilāl, den Muezzin—aber es wird auch gesagt: über Salmān de Pers—und über vier Quraischitische Männer offenbart, nämlich ‚Attāb ibn Asīd ibn abī al-‚Īṣ, al-Ḥārith ibn Hishām, Suhail ibn ‚Amr und Abū Sufyān ibn Ḥarb, alle aus der Quraisch. Nach der Eroberung von Mekka befahl der Prophet Bilāl, auf die Ka’ba zu steigen und dort zum Gebet aufzurufen. So wollte er die Heiden demütigen. Als Bilāl darauf geklettert war und den Anruf getätigt hatte, sagte ‘Attāb: „Lob sei Gott, dass er [meinen Vater] Asīd vor diesem Tag zu sich genommen hat.“ Und Ḥārith sagte: „Ich bin verwundert über diesen äthiopischen Sklaven. Konnte der Prophet nichts anderes als diesen schwarzen Raben[, diesen Unglücksvogel] finden?“ Suhail sagte: „Wenn Gott etwas hasst, ändert er es.“ Und Abū Sufyān sagte: „Ich werde gar nichts sagen, denn wenn ich etwas sage, wird der Himmel gegen mich aussagen und die Erde wird über mich berichten.“
    Dann stieg Gabriel zum Propheten hinab und erzählte ihm, was sie gesagt hatten. Der Prophet schickte nach ihnen und sagte: „Was hast du gesagt, ‘Attab? Du hast recht. Und du, Ḥārith? Du hast recht. Und du, Suhail? Du hast recht. Und du, Abū Sufyān? Du hast recht.“
    Darauf offenbarte Gott: „Ihr Menschen! Wir haben euch …“ usw., über Bilāl und diese vier Männer […]4

In Varianten dieser Geschichte tauchen auch folgende Ausdrücke auf: „Schau mal, diesen Äthiopier!“, „Dieser Schwarze“, „Dieser Sklave“ und „Der Sohn einer schwarzen Frau“. Hier ist Rassismus zu erkennen, wenn auch nur bei einigen Einwohnern des noch heidnischen Mekkas, die das neue Zeitalter noch nicht verstanden hatten. Dieser Vorfall soll der Anlass für die Offenbarung von Koran 49:13 gewesen sein—obwohl auch andere „Anlässe“ für diesen Vers gegeben werden:

  • „Ihr Menschen! Wir haben euch aus Mann und Frau erschaffen und euch zu Völkern und Stämmen gemacht, damit ihr euch kennenlernt. Der Angesehenste von euch bei Gott ist der Gottesfürchtigste.“5

Es ist gut möglich, dass die Geschichte über Bilāl auf der Ka’ba aufgrund dieses Korantexts erfunden wurde. In dem Fall ist sie wertlos für die Geschichtsschreibung, aber sie zeigt, dass die späteren Autoren sich rassistische Gedanken gut vorstellen konnten. Auf muslimischer Seite war jedoch kein Rassismus im Zusammenhang mit Bilāl zu erkennen. Wie könnte es auch? Der Mann genoss hohes Ansehen: Er war nicht nur Muezzin, sondern auch Adjudant und Schatzmeister des Propheten und nahm an allen seinen Feldzügen teil, und später in Syrien am Dschihad. Vielmehr war er der Anlass für die frühen Muslime, jeglichen Rassismus oder Stammes-Chauvinismus mittels der Kupplung mit einem Koranvers zu bekämpfen. Das war durchaus praktisch, weil es viele Schwarze und Ausländer gab, die, sobald sie Muslime geworden waren, Anspruch auf Gleichbehandlung hatten.
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In einer Version der Abschiedsrede des Propheten bei seiner letzten Pilgerreise wird es noch deutlicher zum Ausdruck gebracht:

  • „Menschen! Euer Herr ist ein Einziger und euer Vater ist ein Einziger. Ein Araber ist nicht besser als ein Nicht-Araber und ein Nicht-Araber ist nicht besser als  ein Araber. Ein Roter (aḥmar) steht nicht über einem Schwarzen, und ein Schwarzer steht nicht über einem Roten, es sei denn, in Gottesfurcht.“6

 
Nächste Themen:
Rassismus in der Antike
Der schwarze Dichter ‘Anṭara
Rassismus in der alten arabischen Poesie?
Rassismus in der späteren Poesie
Rassistische Theorien, u.a. von al-Djāḥiẓ

BIBLIOGRAFIE
– Ibn Isḥāq: Das Leben Muhammed’s nach Muhammed Ibn Ishâk bearbeitet von Abd el-Malik Ibn Hischâm, Hrsg. F. Wüstenfeld, Göttingen, 2 Bde., 1858–60 [editio princeps des arabischen Texts].
– Ibn Sa‘d, aṭ-Ṭabaqāt al-kubrā, Hrsg. Iḥsān ‘Abbās, 9 Bde., Beirut (Dār Ṣādir), o.J., vor allem iii 232–239.
– Muqātil ibn Sulaymān, Tafsīr, Hrsg. ‘Abdallāh Maḥmūd Shiḥāta, 5 Bde., Kairo 1979-89.
– Muslim ibn Ḥadjdjādj, Ṣaḥīḥ, Hrsg. Fu’ād ‘Abd al-Bāqī, 5 dln., Kairo 1955. Auch online.

ANMERKUNGEN
1. Eine vage Geschichte; muss noch eine solide Quelle finden.@
2. Ibn Isḥāq, 205: وكان بلال، مولى أبي بكر ر لبعض بني جمح، مولَّدا من مولديهم، وهو بلال بن رباح وكان اسم أمه حمامة وكان صادق الاسلام طاهر القلب. وكان أمية بن خلف بن وهب بن حذافة بن جمح يخرجه إذا حميت الظَهيرة فيطرحه على ظهره في بطحاء مكة، ثم يأمر بالصخرة عظيمة فتتوضع على ظهره ثم يقول: لا والله لا تزال هكذا حتى تموت، أو تكفر بمحمد وتعبد اللات والعزى، فيقول في ذلك البلاء: أَحَد أحد. قال ابن إسحاق: وحدثني هشام بن عروة عن أبيه، قال: كان ورقة بن نوفل يمر به وهو يعذَّب بذلك وهو يقول: أَحَد أحد. فيقول٬ أحد أحد والله يا بلال. ثم يقبل على أمية بن خلف ومن يصنع ذلك به من بني جمح فيقول: أحلف بالله لئن قتلتموه على هذا لأتخذنّه حنانا، حتى مر به أبو بكر الصديق ر يوما وهم يصنعون ذلك به، وكانت دار أبي بكر في بني جمح، فقال لأميّة بن خلف: ألا تتقى الله في هذا المسكين؟ حتى متى؟ قال: أنت الذي أفسدته فأنقِذْه مما ترى. فقال أبو بكر: أفعلُ، عندي غلام أسود أجلد منه وأقوى، على دينك، أُعطيكه به. قال: قد قبلت فقال: هو لك. فأعطاه أبو بكر الصديق ر غلامه ذلك وأخذه فأعتقه. Übersetzung Gernot Rotter, Ibn Isḥāq, das Leben des Propheten, Kandern, 4. Aufl. 2008, 64-5.
3. Muslim, Ṣaḥīḥ, Ṣalāt 1: حَدَّثَنَا إِسْحَاقُ بْنُ إِبْرَاهِيمَ الْحَنْظَلِيُّ، حَدَّثَنَا مُحَمَّدُ بْنُ بَكْرٍ، ح وَحَدَّثَنَا مُحَمَّدُ بْنُ رَافِعٍ، حَدَّثَنَا عَبْدُ الرَّزَّاقِ، قَالاَ أَخْبَرَنَا ابْنُ جُرَيْجٍ، ح وَحَدَّثَنِي هَارُونُ بْنُ عَبْدِ اللَّهِ، – وَاللَّفْظُ لَهُ – قَالَ حَدَّثَنَا حَجَّاجُ بْنُ مُحَمَّدٍ، قَالَ قَالَ ابْنُ جُرَيْجٍ أَخْبَرَنِي نَافِعٌ، مَوْلَى ابْنِ عُمَرَ عَنْ عَبْدِ اللَّهِ بْنِ عُمَرَ، أَنَّهُ قَالَ كَانَ الْمُسْلِمُونَ حِينَ قَدِمُوا الْمَدِينَةَ يَجْتَمِعُونَ فَيَتَحَيَّنُونَ الصَّلَوَاتِ وَلَيْسَ يُنَادِي بِهَا أَحَدٌ فَتَكَلَّمُوا يَوْمًا فِي ذَلِكَ فَقَالَ بَعْضُهُمُ اتَّخِذُوا نَاقُوسًا مِثْلَ نَاقُوسِ النَّصَارَى وَقَالَ بَعْضُهُمْ قَرْنًا مِثْلَ قَرْنِ الْيَهُودِ فَقَالَ عُمَرُ أَوَلاَ تَبْعَثُونَ رَجُلاً يُنَادِي بِالصَّلاَةِ قَالَ رَسُولُ اللَّهِ ص يَا بِلاَلُ قُمْ فَنَادِ بِالصَّلاَةِ ‏
4. Muqātil ibn Sulaymān, Tafsīr iv, 96–7: نزلت في بلال المؤذن وقالوا في سلمان الفارسي وفي أربعة نفر من قريش، في عتاب بن أسيد بن أبي العيص، والحارث بن هشام، وسهيل بن عمرو، وأبي سفيان بن حرب، كلهم من قريش. وذلك أن النبي ص لما فتح مكة أمر بلالا فصعد ظهر الكعبة وأذّن، وأراد أن يذل المشركين بذلك. فلما صعد بلال وأذّن قال عتاب بن أسيد: الحمد لله الذي قبض أسيد قبل هذا اليوم. وقال الحارث بن هشام: عجبت لهذا العبد الحبشي أما وجد رسول الله ص الا هذا الغراب الأسود؟ وقال سهيل بن عمرو: إن يكرهْ الله شيئا يغيّره، وقال أبو سفيان: أما أنا فلا أقول، فإني لو قلت شيئا لتشهدنّ عليّ السماء وتخبر عني الأرض. فنرل جبريل على النبي ص فأحبره بقولهم فدعاهم النبي ص فقال: كيف قلت يا عتاب؟ قال قلت: الحمد لله الذي قبض أسيد قبل هذا اليوم. قال: صدقت. ثم قال للحارث بن هشام: كيف قلت؟ قال قلت: عجبت لهذا العبد الحبشي أما وجد رسول الله ص الا هذا الغراب الأسود؟ قال: صدقت. ثم قال لسهيل بن عمرو: كيف قلت؟ قال قلت: إن يكرهْ الله شيئا يغيّره. قال: صدقت. ثم قال لأبي سفيان: كيف قلت؟ قال قلت: أما أنا فلا أقول، فإني لو قلت شيئا لتشهدنّ عليّ السماء وتخبر عني الأرض. قال: صدقت. فأنرل الله ت فيهم {يا أيها الناس} يعني بلالا وهؤلاء الأربعة … الخ Ähnliche Texte in Ibn Sa‘d, Ṭabaqāt iii, 234-5:  أن رسول الله ص أمر بلالًا أن يؤذّن يوم الفتح على ظهر الكعبة، فأذّن على ظهرها والحارث بن هشام وصفوان بن أميّة قاعدان فقال أحدهما للآخر: أنظر الى هذا الحبشي، فقال الآخر: إنْ يكرهه الله يغيّره ; ‘Abd al-Razzāq al-Ṣan‘ānī, Muṣannaf 19464; Ibn abī Shayba, Muṣannaf xiv:487 (nicht gesehen); al-Ya‘qūbī, Historiae ii, 62.
5. Koran 49:13. In der heutigen arabischen Welt grassiert der Rassismus. Man hat den Koranvers offensichtlich vergessen.
6. Aḥmad ibn Ḥanbal, Musnad v, 411; nr. 22391 حدثنا إسماعيل، حدثنا سعيد الجريري، عن أبي نضرة، حدثني من، سمع خطبة، رسول الله ص في وسط أيام التشريق فقال يا أيها الناس ألا إن ربكم واحد وإن أباكم واحد ألا لا فضل لعربي على أعجمي ولا لعجمي على عربي ولا لأحمر على أسود ولا أسود على أحمر إلا بالتقوى. Die „Schwarzen“ in diesem Text sind die Araber, die „Roten“ die Perser, die eine etwas hellere Haut hatten.

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Unfähige Propheten

Einer Erzählung zufolge, die Mohammeds erstes Offenbarungserlebnis  schildert, hatte der Prophet sich auf den Berg Hirā’ zurückgezogen, als der Engel Gibrīl (Gabriel) zu ihm kam:

  • Der Prophet selbst erzählte dazu: Während ich schlief, kam Gibrīl zu mir mit einer Brokatdecke, auf der Schriftzeichen standen. Er sagte: „Lies!“ Ich sagte: „Ich kann nicht lesen (mā aqra’u).“ Darauf drückte er mit der Decke meinen Hals so kräftig zu, dass ich dachte, es wäre der Tod. Dann ließ er mich los [und sagte: „Lies!“ Ich antwortete: „Ich kann nicht lesen.“ Darauf drückte er abermals so kräftig, dass ich dachte, es wäre der Tod. Dann ließ er mich los] und sagte wieder: „Lies!“ Ich sagte: „Was soll ich lesen? (mā dhā aqra’u)“ und das sagte ich nur um ihn los zu werden, aus Angst, dass er es noch mal tun würde. Da sagte er: Im Namen Gottes, des Gnädigen, des Barmherzigen. Lies im Namen deines Herrn, der erschuf,—erschuf den Menschen aus einem Klumpen Blut. Lies! denn dein Herr ist der Allgütige, der (den Menschen) lehrte durch die Feder, den Menschen lehrte, was er nicht wusste. [Koran 96:1–5] Dies rezitierte ich; dann ließ er mich los und ging weg. Als ich aufwachte war es, als wäre es in mein Herz geschrieben.
    Nun gab es kein Geschöpf, das mir verhasster war als Dichter und Besessene; ich konnte sie einfach nicht riechen. Und ich dachte: „O wehe, dieser Nichtswürdige“—er meinte sich selbst—„ist ein Dichter oder Besessener. Aber das werden die Quraisch nie von mir sagen! Ich werde hoch auf den Berg steigen und mich herunterstürzen und töten, dann habe ich Ruhe.“ In der Absicht machte ich mich also auf den Weg, aber als ich mitten auf dem Berg war, hörte ich eine Stimme vom Himmel: „Mohammed! Du bist der Gesandte Gottes, und ich bin Gibrīl.“ Ich schaute hoch zum Himmel und siehe da, es war Gibrīl in der Gestalt eines Mannes, der mit seinen Füßen neben einander am Horizont stand. Wieder sagte er: „Mohammed! Du bist der Gesandte Gottes, und ich bin Gibrīl.“ Ich sah ihn weiter an und das brachte mich von meinem Vorhaben ab; ich ging weder vorwärts noch rückwärts. Da wollte ich meinen Blick von ihm abwenden, aber in welche Richtung ich auch schaute, überall sah ich ihn wieder so stehen. Dort blieb ich so lange, ohne einen Schritt vorwärts oder Rückwärts zu tun, dass Khadīdja schon ihre Boten sandte um nach mir zu suchen; sie kamen bis oberhalb von Mekka, während ich noch am selben Ort stand. Dann verließ er mich.1

Diese Erzählung beschreibt das, was christliche Theologen eine Berufungsvision nennen. Von verschiedenen Propheten wird im Alten Testament erzählt, wie sie anfangs meinen der Aufgabe, die Gott ihnen auferlegen will, nicht gewachsen zu sein.
Moses wird beauftragt sein Volk aus Ägypten ins Land Kanaan zu führen. Er hat einige Ausreden und bringt zum Schluss vor: „Ach Herr! Ich bin kein redegewandter Mann […] denn unbeholfen ist mein Mund und unbeholfen meine Zunge.“ (2. Mose 4:10).

Jesaja sieht eine Ehrfurcht gebietende Vision des Herrn, umgeben von zwei Seraphim. Er ruft aus: „Wehe mir, ich bin verloren! Denn ein Mann mit unreinen Lippen bin ich …“ (Jesaja 6:5).
Jeremia sagt bei seiner Berufung: „Ach Herr, Herr, ich verstehe nicht zu reden; denn ich bin zu jung“ (Jeremia 1:6).
Hesechiel erschrickt gewaltig und fällt beim Anblick einer überwältigenden Vision auf sein Angesicht (Hesechiel 1–3).

Die Propheten haben Recht. Natürlich sind sie nicht im Stande ihre Aufgabe ohne Weiteres zu erfüllen. Aber Gott macht sie bereit und stärkt sie dazu, gibt ihnen seine Worte ein, worauf es dann gelingt. Jesajas unreine Lippen werden mit einer glühenden Kohle vom Altar gereinigt; dann ist er bereit zu prophezeihen. Hesechiel wird von Gott „emporgehoben“; er hat schon eine Schriftrolle zu essen bekommen, „süß wie Honig,“ und ihm wird die nötige Härte verliehen; Mohammed bekommt die Schrift buchstäblich fast in seinen Hals gepresst. Sowohl Hesechiel (Hes. 3:14–15) als auch Mohammed sind nach der Berufungsvision schwer angeschlagen.
Nur der biblische Prophet Jona sagt nicht, dass er kein Prophet sein kann; er weigert sich einfach. Sein Auftrag ist es in die große Stadt Ninive im Irak zu gehen, aber er nimmt ein Schiff in eine andere Richtung—das ist ein anderer Fall. Mohammed passt in die Reihe der anderen Propheten, die sich zunächst unfähig fühlen.

Ich musste etwas nachdenken über die Wörter mā aqra’u in der Erzählung über Mohammeds Berufung, oben übersetzt als: „Ich kann nicht lesen“— wobei wohlgemerkt in der alten Zeit lesen immer bedeutete: laut lesen, rezitieren.
mā aqra’u word manchmal aufgefasst als: „Was werde/soll ich lesen?“, aber naheliegender wäre in dem Fall mā dhā aqra’u, was etwas später kommt. Der Kontrast zwischen zweimal mā aqra’u und einmal mā dhā aqra’u ist beabsichtigt.
mā aqra’u ist in allerlei Varianten des modernen(!) gesprochenen Arabisch ein neutrales: „Ich lese nicht/werde nicht lesen“. In der Schriftsprache war und ist das aber lā aqra’u.
+ Imperfekt. Nach W. Fischer, Grammatik des klassischen Arabisch, Wiesbaden 21987, § 321 „bestreitet mit Impf. den Vorgang oder dessen Möglichkeit: [… ] mā yarāka, ‘er sieht dich gar nicht, kann dich nicht sehen’.“ Die anderen Grammatiken des klassischen Arabisch haben zu diesem Punkt nichts mitzuteilen.

Auf Grund dieses Paragraphen bei Fischer und der obigen biblischen Vorbilder habe ich in der Erzählung über das erste Offenbarungserlebnis die Übersetzung: „Ich kann nicht lesen“ gewählt.

ANMERKUNGEN

1. At-Tabarī, [Ta’rīkh al-rusul wal-mulūk] Annales, hrsg. M.J. de Goeje et al., 14 Bde., Leiden 1879–1901, i, 1150:

قال رسول الله ص: فجاءني [جبريل] وأنا نائم بنمط من ديباج فيه كتاب ، فقال: اقرأ، فقلت: ما أقرأ. فغتني حتى ظننت أنه الموت، ثم أرسلني فقال: اقرأ، فقلت: [ما أقرأ ؟ قال : فغتني به حتى ظننت أنه الموت، ثم أرسلني، فقال: اقرأ، قلت:] ماذا أقرأ؟ ما أقول ذلك إلا افتداء منه أن يعود إلي بمثل ما صنع بي، قال:(اقرأ باسم ربك الذي خلق) ألى قوله (علم الإنسان ما لم يعلم.) قال: فقرأته. قال: ثم انتهى ثم انصرف عني وهببت من نومي ، وكأنما كتبت في قلبي كتابا. قال: ولم يكن من خلق الله أحد أبغض إلي من شاعر أو مجنون، كنت لا أطيق أن أنظر إليهما، قال: قلت إن الأبعد – يعني نفسه – لشاعر أو مجنون، لا تحدث بها عني قريش أبدًا. لأعمدنّ إلى حالق من الجبل فلأطرحنّ نفسي منه فلأقتلنّها فلأستريحنّ.) قال: فخرجت أريد ذلك حتى إذا كنت في وسط من الجبل سمعت صوتا من السماء يقول : يا محمد، أنت رسول الله وأنا جبرئيل. قال: فرفعت رأسي إلى السماء ، فإذا جبريل في صورة رجل صاف قدميه في أفق السماء يقول: يا محمد، أنت رسول الله وأنا جبرئيل. قال: فوقفت أنظر إليهِ فما أتقدم وما أتأخر، وجعلت أصرف وجهي عنه في آفاق السماء فلا أنظر في ناحية منها إلا رأيته كذلك ، فما زلت واقفا ما أتقدم أمامي ولا أرجع ورائي حتى بعثت خديجة رسلها في طلبي ، ختى بلغوا أعلى مكة ورجعوا إليها وأنا واقف في مكاني؛ ثم انصرف عني.

Der häufiger gelesene Ibn Hishām hat die Teile zum Selbstmordvorhaben aus der Vorlage von Ibn Ishāq gestrichen; deshalb zitiere ich hier die Fassung von at-Tabarī, die den ursprünglichen Wortlaut erhalten hat. Dafür hat Ibn Hishām dreimal den Auftrag: „Lies!“ Das zweite Mal habe ich hier zwischen Klammern hinzugefügt. Dreimal ein Auftrag und zweimal eine Weigerung ist klassisch; das gibt es z.B. auch in der Erzählung von der Berufung des Mönchs Cædmon bei Beda Venerabilis.

Diakritische Zeichen: Ḥirāʾ, Ǧibrīl, Quraiš, aṭṬabarī, taʾrīḫ, Hišām, Isḥāq

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Gott erpressen

In einer Erzählung der Prophetenbiografie versucht Mohammed Gott zu erpressen. In der Schlacht bei Badr sieht es eine Weile für Mohammed und seine Kämpfer ganz schlecht aus. Gott hatte Hilfe versprochen, aber diese lässt auf sich warten und der Feind droht die Schlacht für sich zu entscheiden. Darauf betet der Prophet zu Gott und sagte unter anderem: „O Gott, wenn dieser Trupp heute verloren geht, wirst du nicht mehr angebetet!“ Sein Gefährte Abū Bakr findet, dass das zu weit geht und sagt: „Prophet, belästige deinen Herrn nicht ständig mit deinem Gebet! Gott wird bestimmt schon erfüllen, was er versprochen hat.“ Und so geschieht es auch, denn „darauf schlief der Prophet kurz ein und als er aufwachte, sagte er: ,Sei frohen Mutes, Abū Bakr, denn Gottes Hilfe ist gekommen! Hier ist Gabriel und er führt ein Pferd am Zügel mit, das Staub auf seinen Vorderzähnen hat.”’ 1
Hat Gott sich von seinem Gesandten erpressen lassen oder war die Hilfe ohnehin schon unterwegs? Wir wissen es nicht.

Im Dies iræ, einer mittelalterlichen Hymne über das Jüngste Gericht, die noch bis 1971 fester Bestandteil der katholischen Requiem-Messe war, wird Jesus unter Druck gesetzt: Recordare Iesu pie quod sum causa tuæ viæ, ne me perdas illa die …: „Denke daran, lieber Jesus, dass ich der Grund Deines Lebens bin; richte mich an dem Tag nicht zu Grunde!“ Mit anderen Worten: vergib mir meine Sünden und schick mich nicht in die Hölle, denn ohne arme Sünder wie mich hätte es Dich nicht einmal gegeben! Und lass die Mühe Deines Kreuzestodes nicht umsonst gewesen sein: tantus labor non sit cassus.

Ich gehe davon aus, dass diese Art von Erpressung in allen drei westlichen Religionen vorkommt. Bestimmt ist Gott auch in den Diskussionsrunden der Talmudrabbiner gehörig herangenommen worden. Ich werde nicht extra suchen, denn dann findet man nichts, aber ich lasse diesen Beitrag offen für Beispiele, auf die ich irgendwann stoße. Wenn Sie, lieber Leser, eines zur Hand haben oder finden, melden Sie sich bitte.

ANMERKUNG
1. Ibn Ishāq: Das Leben Muhammed’s nach Muhammed Ibn Ishâk bearbeitet von Abd el-Malik Ibn Hischâm, Hrsg. F. Wüstenfeld, Göttingen 1858–60, 444; Übersetzung A. Guillaume, The Life of Muhammad, Oxford 1955, 300.

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Aischa: ein Fall von Akkommodation

Es kam eine Frage: „Was sagt der Koran zu Aischa?“1 Meine Antwort lautet: „Nichts, verehrter Leser, gar nichts.“ Sehr vieles, was zur islamischen Religion gehört, steht nun einmal nicht im Koran.

Aischa soll die Lieblingsfrau des Propheten Mohammed gewesen sein. Und so überrascht es nicht, dass Muslime seit Jahrhunderten dennoch immer wieder gemeint haben, etwas über sie in der heiligen Schrift lesen zu können. Koran 24:11 zum Beispiel soll sogar in Bezug auf sie offenbart worden sein:

Diejenigen, welche die große Lüge vorbrachten, sind eine Gruppe unter euch. Glaubt nicht, es sei ein Übel für euch; im Gegenteil, es ist euch zum Guten. Jedem von ihnen soll die Sünde, die er begangen hat[, vergolten werden]; und der unter ihnen, der den Hauptanteil daran hatte, soll eine schwere Strafe erleiden.

Eigentlich gehören auch die nächsten Verse noch dazu:

Warum dachten die gläubigen Männer und Frauen, als ihr es hörtet, nicht Gutes von ihren eigenen Leuten und sprachen: „Das ist eine offenkundige Lüge“?
Warum brachten sie nicht vier Zeugen dafür? Da sie keine Zeugen gebracht haben, sind sie es also, die vor Allah die Lügner sind.
Wäre nicht Allahs Huld und Seine Barmherzigkeit über euch, hienieden und im Jenseits, eine schwere Strafe hätte euch getroffen für das, worin ihr euch einließet.
Als ihr es übernahmt mit euren Zungen und ihr mit eurem Munde das aussprachet, wovon ihr keine Kenntnis hattet, da hieltet ihr es für eine geringe Sache, indes es vor Allah eine große war. [Koran 24:12–15]

Lesen Sie hier etwas zu Aischa? Das gelingt nur, wenn Sie bereit sind eine ganze Erzählung im Kauf zu nehmen, nämlich die Erzählung der „Lüge“ (al-ifk). Diese entstand Jahrzehnte nach dem Koran und geht nicht auf den Propheten zurück, wie man das bei Hadithen gerne hat, sondern auf unterschiedliche Überlieferer. Die Erzählung2 geht so: Während einer Reise bleibt Aischa kurz zurück. Die Karawane zieht weiter ohne zu bemerken, dass sie fehlt. Sie wird von einem Mann zurückgebracht und sofort verbreitet sich das Gerücht, dass dieser die Situation missbraucht habe. Eine Hetzkampagne kommt in Gang, die sogar den Propheten nicht unberührt lässt: Eine Zeitlang ignoriert er Aischa. Letztendlich wird alles gut, weil Gott selbst eingreift und die obigen Koranverse offenbart, in denen Aischa von jeder Schuld freigesprochen wird und den Verleumdern Strafe angedroht wird.
Dies alles „wissen“ wir also aus einer Erzählung, die nicht aus dem Koran, sondern aus der Prophetenbiografie stammt. Sie wird seit Jahrhunderten in Korankommentaren und Prophetenbiografien wiederholt, aber weil deren Verfasser normal sterbliche Menschen waren — Heilige oder Kirchenväter gibt es im Islam nicht — ist niemand daran gebunden.

Wenn eine Erzählung viel Korantext enthält, gibt es grob gesagt zwei Möglichkeiten:

    • 1. Der Korantext steht im Mittelpunkt und die Erzählung dient zur Erklärung des Korantexts. Das heißt Koranexegese (tafsīr).
    • 2. Es gab erst eine Erzählung. Um diese überzeugender oder erbaulicher zu gestalten werden darin Koranverse eingeflochten: Verse, die vielleicht ursprünglich von etwas ganz anderes handelten. Das heißt koranisieren.

Auf jeden Fall wird der Korantext zumindest einige Jahrzehnte älter sein als die Erzählung.

Die Erzählung von Aischas Unschuld diente dazu, der Hetzkampagne wegen ihrer angeblichen Unkeuschheit entgegenzutreten. Aber hat wirklich jemand die blutjunge Frau des Propheten ein oder zwei Jahre nach ihrer Hochzeit mit Schlamm bewerfen wollen? Das muss erst viel später geschehen sein, rückwirkend, als der Prophet längst gestorben war und Aischa politisch aktiv war und sich im Konflikt mit Kalif ‘Alī (reg. 656–661) befand. Die Verfasser bemühen sich sehr, Aischas Unschuld zu beweisen und ziehen dabei alle Register, auch koranische. Einen ursprünglichen Bezug zwischen der Erzählung und den Koranversen sehe ich nicht. Der Koran ist sekundär herangezogen, oder anders gesagt: die Erzählung wurde koranisiert.

Aischa ist längst nicht das einzige Thema, über das Muslime gerne etwas im Koran lesen wüden—und das letztendlich auch tun.

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Mulier amicta sole

Mulier amicta sole

Ich war neugierig, ob auch Christen solche Fälle kennen.  Und in der Tat, bei Maria, der Mutter Jesu, der first lady der Christen, wurde ich gleich fündig. Sie kommt zwar in der Bibel vor: Es gibt die wohlbekannte Weihnachtsgeschichte und noch einige Splitter, aber für die Millionen Marienverehrer war das offensichtlich nicht genug. Deshalb haben sie eine Anzahl Bibelverse neu interpretiert, um ihre Sehnsucht zu erfüllen. In Offenbarung 12:1 erscheint beispielsweise „eine Frau, mit der Sonne bekleidet, und der Mond unter ihren Füßen und auf ihrem Haupt eine Krone von zwölf Sternen.“ 3 Sie ist hochschwanger und ein Drache mit sieben Häuptern liegt schon auf der Lauer um ihr Kind zu verschlingen, aber das wird gerettet und zu Gott entrückt. Man könnte hier tatsächlich an die Mutter Gottes denken, denn das Kind ist ein „Knabe, der alle Völker weiden sollte mit eisernem Stabe,“ und der eiserne Hirtenstab ist Vers 19:15 zufolge auch das Attribut Christi. Dann hätte der Autor der Offenbarung aber eine ganz andere Auffassung von Jesu und seiner Mutter gehabt als die Evangelisten. Vielleicht hatte er Eva oder die Frau im Allgemeinen im Kopf. Bereits 1. Mose 3:15 sagt ja den Kampf zwischen der Schlange und der Frau vorher.4

Turris davidica

Turris davidica

Noch merkwürdiger ist es, Maria in Hohelied (4:4) entdecken zu wollen, wo „Salomo“ seine Geliebte besingt: „Dein Hals ist wie der Turm Davids (turris davidica), mit Brustwehr gebaut, an der tausend Schilde hangen, lauter Schilde der Starken.“ 5 Auch dieser Vers wird in der katholischen Kirche auf Maria bezogen. Der Bezug zu der erst Jahrhunderte später lebenden Mutter Gottes ist sehr weit hergeholt. Der Vergleichspunkt ist hier wohl die Stärke eines Turms und der Schutz, den er bietet.

Der Bedarf an Mariaversen in der Bibel war offensichtlich so enorm, dass auch dieser Vers zum Zweck der Verehrung herangezogen wurde. Einer Wikipedia-Seite entnehme ich den technischen Terminus, den ich sonst nirgendwo finde: Akkommodation, eine dogmatisch korrekte und liturgisch verwertbare Anwendung eines Schriftwortes auf eine heilige Person oder Sache, die aber im Text selbst keine Stütze findet.

Ein Fall der Akkommodation, den sich auch die Protestanten zu eigen gemacht haben, ist die Entdeckung des Heiligen Geistes, des dritten Glieds der Heiligen Dreifaltigkeit, in den Worten der Schöpfungsgeschichte: „… und Gottes Geist/Wind (Hebr.: ruach) schwebte auf dem Wasser“ (1. Mose 1: 2).6

Ohne Zweifel gibt es noch viele andere Bibelverse, in denen man ganz andere Themen behandelt gesehen hat ohne sich auf den Text stützen zu können.

Muslime und Christen haben andere Herangehensweisen, aber alle bedienen sie sich freimütig in ihrer jeweiligen Heiligen Schrift, wenn sie darin etwas lesen möchten, das diese gar nicht enthält. Zu den Eigenschaften heiliger Schriften gehört offensichtlich, dass sie fast unendlich dehnbar sind, bis weit außerhalb der Grenzen ihres Textes.

 

ANMERKUNGEN
1. Aischa soll die Lieblingsfrau des Propheten Mohammed gewesen sein. Siehe zu ihr hier.
2. Ibn Ishāq: Das Leben Muhammed’s nach Muhammed Ibn Ishâk bearbeitet von Abd el-Malik Ibn Hischâm, Hrsg. F. Wüstenfeld, Göttingen 1858–60, 731–739; Übersetzung A. Guillaume, The Life of Muhammad, Oxford 1955, 493–499.
3. Mulier amicta sole et luna sub pedibus eius et in capite eius corona stellarum duodecim. Hier auch das ursprüngliche Griechisch: γυνὴ περιβεβλημένη τὸν ἥλιον, καὶ ἡ σελήνη ὑποκάτω τῶν ποδῶν αὐτῆς, καὶ ἐπὶ τῆς κεφαλῆς αὐτῆς στέφανος ἀστέρων δώδεκα, aber solche Sachen hören sich oft auf Latein viel besser an.
4. Die Wörter „deinem Nachkommen“ (τοῦ σπέρματος ἀυτῆς, de semine eius) werden in Offenbarung 12:17 wieder aufgegriffen „von ihrem Geschlecht“, aber sind lost in translation.
5. Sicut turris David collum tuum, quae aedificata est cum propugnaculis: mille clipei pendent ex ea, omnis armatura fortium. כְּמִגְדַּל דָּוִיד צַוָּארֵךְ, בָּנוּי לְתַלְפִּיּוֹת; אֶלֶף הַמָּגֵן תָּלוּי עָלָיו, כֹּל שִׁלְטֵי הַגִּבֹּרִים.
6. Et spiritus Dei ferebatur super aquas. וְרוּחַ אֱלֹהִים, מְרַחֶפֶת עַל-פְּנֵי הַמָּיִם,

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