Mohammeds Selbstmordvorhaben

In at-Tabarīs großem Geschichtswerk steht auch Ibn Ishāqs Erzählung über Mohammeds erstes Offenbarungserlebnis auf dem Berg Hirā’. Sie ist dem Propheten selbst in den Mund gelegt; wer sonst wäre als Quelle plausibel? Die ganze Erzählung wird in diesem Lesewerk auch mal abgedruckt werden; für den Augenblick beschränke ich mich auf den Selbstmordgedanken des Propheten. Er hat gerade erzählt, wie ihm Djibrīl (Gabriel) im Traum die ersten Koranverse übermittelt habe; dann fährt er fort:

  • … Dies rezitierte ich; dann ließ er mich los und ging weg, und als ich aufwachte war es, als wäre es in mein Herz geschrieben.
    Nun gab es kein Geschöpf, das mir verhasster war als Dichter und Besessene; ich konnte sie einfach nicht riechen. Und ich dachte: „O wehe, dieser Nichtswürdige“—er meinte sich selbst—„ist ein Dichter oder Besessener. Aber das werden die Quraisch nie von mir sagen! Ich werde hoch auf den Berg steigen und mich herunterstürzen und töten; dann habe ich Ruhe.“ In der Absicht machte ich mich also auf den Weg, aber als ich mitten auf dem Berg war, hörte ich eine Stimme vom Himmel: „Mohammed! Du bist der Gesandte Gottes, und ich bin Djibrīl.“ …1

Diese Fassung der Erzählung ist wenig bekannt; meistens liest man Ibn Ishāqs Erzählung in der Rezension des Ibn Hishām, die für viele „die“ Biografie des Propheten ist:

  • … Dies rezitierte ich; dann ließ er mich los und ging weg, und als ich aufwachte war es, als wäre es in mein Herz  geschrieben. Ich machte mich also auf den Weg, und als ich mitten auf dem Berg war, hörte ich eine Stimme vom Himmel: „Mohammed! Du bist der Gesandte Gottes, und ich bin  Djibrīl.“ …1

Ibn Hishām hat das mit dem Selbstmordgedanken herausgeschnitten und die beiden verbleibenden Texthälften etwas krude wieder zusammengenäht. Die Naht ist deutlich erkennbar. Warum hat er das getan? Er wollte offensichtlich keinen Text herausgeben, in dem etwas Negatives über Mohammed vorkommt. Aber darin zeigte er wenig Gespür für Erzählen und für islamische Theologie. Denn ist es nicht plausibel, dass Mohammed, der dem Koran zufolge ein normaler Mensch war, in dem Augenblick äußerst bedrückt gewesen sei? Nicht nur Propheten wissen, dass einer mystischen Erfahrung oft depressive Gefühle folgen. Überdies wirkt so in der Erzählung die Aufhebung aus dem Tief umso schöner. Gott greift sofort ein: So bald Mohammed den Berg hochsteigt, bekommt er abermals eine mystische Vision und es erscheint ihm der Engel über die ganze Breite des Himmels.2 Wenn das keine erbauliche Geschichte ist! Eigentlich ist sie erst schlüssig durch den Selbstmordgedanken. Gott bietet Perspektive bei Trübsinn, Gott schützt seinen Propheten vor dem Bösen, genau wie hier. Aber nein, der brave Ibn Hishām verstand so etwas nicht, und wohl mit dadurch ist sein Buch ein Bestseller geworden.

Die Möglichkeit den Propheten überhaupt an Selbstmord denken lassen zu können wird durch Koran 18:6 dargereicht: فلعلك بـٰخع نفسك على أثـٰرهم إن لم يؤمنوا بهذا الحديث أسفا . „Vielleicht willst du, wenn sie an diese Verkündigung nicht glauben, dich selber umbringen […],“ und durch K. 26:3:  لعلك بـٰخع نفسك ألاّ يكونوا مؤمنين . „Vielleicht willst du dich selber umbringen, weil sie nicht gläubig sind.“ Zwar hat Ullmann3 nachgewiesen, dass das dort verwendete Wort bākhi‘ nicht „umbringen“ bedeutet, aber viele Koranausleger haben es doch so aufgefasst, und der Erzähler des obigen Textes könnte das ebenfalls getan haben..

ANMERKUNGEN
1. At-Tabarī, [Ta’rīkh al-rusul wal-mulūkAnnales, hrsg. M.J. de Goeje et al., 14 Bde., Leiden 1879–1901, i, 1150.

قال: فقرأتها ثم انتهى فانصرف عني وهببت من نومي ، فكأنما كتبت في قلبي كتابا. (قال: ولم يكن من خلق الله أحد أبغض إلي من شاعر أو مجنون، كنت لا أطيق أن أنظر إليهما، قال: قلت إن الأبعد – يعني نفسه – لشاعر أو مجنون، لا تحدث بها عني قريش أبدا! لأعمدن إلى حالق من الجبل فلأطرحن نفسي منه فلأقتلنها فلأستريحن.) قال: فخرجت (أريد ذلك) حتى إذا كنت في وسط من الجبل سمعت صوتا من السماء يقول : يا محمد، أنت رسول الله وأنا جبريل.

Ibn Hishām hat denselben Text, aber er hat die eingeklammerten Teile gestrichen: Das Leben Muhammed’s nach Muhammed Ibn Ishâk bearbeitet von Abd el-Malik Ibn Hischâm, ed. F. Wüstenfeld, Göttingen, 2 Tle., 1858–60, i, 153.
2. Oder ist es Gott selbst? Vgl. Koran 53:8–10: . ثم دنا فتدلّى فكان قاب قوسين أو أدنى فأوحى إلى عبده ما أوحى  „Hierauf näherte er sich und kam (immer weiter) nach unten und war (schließlich nur noch) zwei Bogenlängen entfernt oder noch näher; darauf offenbarte er seinem Knecht das, was er offenbarte.“ Wenn das Subjekt Gabriel ist, ist „sein Knecht“ merkwürdig. Mohammed ist Gottes, nicht Gabriels Knecht.
3. Manfred Ullmann, „Wollte Mohammed Selbstmord begehen? Die Bedeutung des arabischen Verbums baha‘a,“ in Die Welt des Orients 34 (2004), 64–71.

Diakritische Zeichen: aṭ-Ṭabarī, Ibn Ishāq, Ḥirāʾ, Ǧibrīl, Ibn Hišām, Taʾrīḫ, bāḫiʿ, baḫaʿa

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