Der bekannte niederländische Orientalist Christiaan Snouck Hurgronje (1857-1936) verbrachte über ein Jahr in Mekka (1884-85). Daraus entstand unter anderem sein wertvolles, mit Fotos illustriertes Buch Mekka.1 Über sein Leben in der heiligen Stadt kann man ein Kapitel in der auf Niederländisch verfassten Biografie von Wim van den Doel lesen,2 und ausführlicher in der Einleitung zur niederländischen Übersetzung von Mekka von Jan Just Witkam.3 Selbstverständlich lesen Sie Snoucks Buch, wenn überhaupt, im deutschen Original, aber sollten Sie Niederländisch können, ist Witkams 175-seitige Einleitung sehr zu empfehlen. Darin hat er Tagebucheinträge und Briefe, die Snouck in Mekka geschrieben hat, veröffentlicht und anschließend mit Erläuterungen und Kommentaren versehen. Deshalb bietet diese Einführung viel biographisches Material, das bei Van den Doel nicht zu finden ist.
Ein ergreifendes Thema darin ist die Episode mit Snoucks Sklavin.
Als 27-jähriger reiste Snouck am 6. August 1884 nach Arabien mit der Absicht, seine Kenntnisse über den Islam zu vertiefen und den Einfluss des mekkanischen Islams auf die muslimischen Untertanen in Niederländisch-Indien zu studieren oder, wenn man so will, als Spion. Zunächst hielt er sich in der Hafenstadt Dschedda auf, doch bald wollte er nach Mekka, das Zentrum der islamischen Gelehrsamkeit, wo seine Forschungen viel leichter zu verwirklichen wären. Das war schwierig, denn Nicht-Muslimen war der Zutritt zu dieser Stadt verwehrt. Er gab sich daher als Muslim aus und ließ sich beschneiden. Er hatte vor, mehrere Jahre in Mekka zu bleiben; deshalb mietete er dort ein Haus und kaufte für 150 Maria-Theresia-Thaler eine äthiopische Sklavin, „die glücklicherweise keine der unangenehmen Eigenheiten aufweist, die man ihrer Rasse nachsagt“.
Vielleicht trug sie ihren Teil zum Haushalt bei, aber das wurde im Prinzip von männlichem Personal geführt. Die junge Frau, deren Name nicht bekannt ist, war vor allem für Sex und Häuslichkeit da. Snouck hatte wohl keine Lust, monatelang oder gar jahrelang ohne Sex zu leben. Aber die Sklavin war auch Teil seiner Verkleidung. Schließlich wäre es in den Augen der Mekkaner sehr seltsam gewesen, wenn ein so junger Muslim wie er überhaupt keinen Sexualpartner gehabt hätte. Im Islam galt und gilt ein Leben ohne Sex als unerwünscht. Die Ehe war eine religiöse Pflicht; wer (noch) nicht richtig verheiratet war, konnte sich leicht eine Partnerin oder Sklavin auf Zeit besorgen. Überdies konnte Snouck durch diese Frau auch Informationen über das Leben der Frauen in Mekka erhalten, was für seine Forschung von Vorteil war.
In Mekka war Snouck bald gut integriert: Er traf dort unzählige Gelehrte und sammelte fleißig Wissen und Informationen. Am 19. September 1885 musste er jedoch aufgrund einer gegen ihn geschmiedeten Intrige Mekka und sogar ganz Arabien Hals über Kopf verlassen und nach Europa zurückkehren. Das war ein schwerer Schlag für ihn, aber mehr noch für die Sklavin, die inzwischen schwanger geworden war. Es gelang ihr jedoch, sich von „einer zu schweren Last“ zu befreien, d.h. sie ließ das Kind abtreiben, was Snouck erleichtert haben muss. Aber was sollte aus ihr werden? Vorerst konnte sie bei Freunden von Snouck unterkommen. Sie selbst möchte am liebsten zu ihrem Besitzer nachgeschickt werden, aber eine schwarze Sklavin in Leiden war völlig undenkbar. Dann wollte sie auf jeden Fall verkauft, nicht freigelassen oder verheiratet werden. Sie wollte Sklavin bleiben, und als „Nachsendung“ nicht in Frage kam, drohte sie damit, sich selbst auf dem Markt zu verkaufen – was natürlich gar nicht möglich war. Snouck wollte auch nicht, dass sie verkauft würde, denn dann bestünde die Gefahr, dass seine Feinde sie kaufen und über alle möglichen intimen Details ausfragen würden, die ihm und den niederländischen Interessen schaden könnten. „Ich werde also an Dja‘far schreiben, dass in diesem Fall die Freilassung das einzige verbleibende Mittel ist und dass sie unter Zwang erfolgen muss.”
Eine Sklavin, die nicht frei sein wollte? In unserer Zeit meint man oft, dass Sklaverei der erbärmlichste Zustand ist, den man sich vorstellen kann, aus dem man unbedingt befreit werden möchte, aber das war hier nicht der Fall. Die Sklaverei bot ein gewisses Maß an sozialer Sicherheit. Was könnte dagegen aus diesem ausländischen Mädchen ohne Verwandtschaft werden, wenn es freigelassen würde? Sollte sie auf dem Markt betteln gehen? Sie würde in kürzester Zeit missbraucht, geraubt oder noch Schlimmeres werden. Für sie war die Freilassung ein Sturz ins Elend. Doch genau das passierte: Sie wurde als freie Frau auf die Straße gesetzt. Wie es mit ihr weiterging, ist nicht bekannt.
Snouck ließ sich schon noch ihre Kleider aus seinem Haus in Mekka nachsenden. Diese waren fortan Teil seiner ethnologischen Sammlung in Leiden.
FUSSNOTEN
1 Christiaan Snouck Hurgronje, Mekka. Aus dem heutigen Leben, Den Haag, Nijhoff, 1889.
2 Wim van den Doel, Snouck. Het volkomen geleerdenleven van Christiaan Snouck Hurgronje, Amsterdam, Prometheus, 2021.
3 Christiaan Snouck Hurgronje, Mekka in de tweede helft van de negentiende eeuw. Schetsen uit het dagelijks leven. Vertaald en ingeleid door Jan Just Witkam, Amsterdam/Antwerpen, Atlas, 2007.