Die Ka‘ba zerstört, der Koran verschwunden

Kurz vor dem Jüngsten Tag, also demnächst, werden nach sowohl christlichen wie auch islamischen Überlieferungen furchterregende Geschöpfe erscheinen, die der Menschheit das Leben schier unerträglich machen und Weh über die Erde verbreiten. Bei den Christen ist die Hauptfigur der Antichrist, bei den Muslimen der daǧǧāl, ebenfalls eine Art Antichrist.1 Aber Muslime kennen noch andere Endzeitgestalten: den Qaḥtānī, den Sufyanī und Ḏū as-Suwaiqatain. Überdies brechen zwei gewalttätige Völker los: Gog und Magog (Arabisch: Yāǧūǧ und Māǧūǧ) sowie ein Tier aus der Erde, und es ereignen sich Naturkatastrophen. Nach beiden Religionen wird dieser Schreckensperiode von dem wiederkehrenden, triumphierenden Jesus ein Ende gesetzt, und im Islam dazu noch von dem Mahdi. Es sind alte Prophezeiungen, die in Perioden der Ruhe und Wohlfahrt niemanden interessieren, aber in harten Zeiten immer wieder Menschen beängstigen.

Die wohl am wenigsten bekannte arabische Endzeitgestalt ist Ḏū as-Suwaiqatain, „der Dünnbeinige,“ der die Ka‘ba zerstören wird. Hier folgen zwei Hadithe zum Thema, überliefert von Bukhārī (810–870) bzw. Aḥmad ibn Ḥanbal (780–855):

  • Von ‘Abdallāh ibn ‘Umar: Ich habe den Propheten sagen hören: „Die Ka‘ba wird von Ḏū as-Suwaiqatain aus Äthiopien zerstört, der sie ihres Zierrats (ḥilya)2 beraubt und ihr die Hülle abzieht. Es ist, als ob ich ihn vor mir sehe: ein glatzköpfiges, krummbeiniges Männchen; er schlägt mit seiner Schaufel und seiner Spitzhacke darauf.“3
  • In einem Hadith des Hudaifa ibn al-Yaman heißt es: „Es ist, als ob ich einen Äthiopier vor mir sehe, mit roten Beinen und blauen Augen, mit einer platten Nase und einem dicken Bauch. Er hat seine Füße parallel auf die Ka‘ba gesetzt; er und einige Kumpane von ihm reißen sie Stein nach Stein ab und reichen einander die Steine weiter, die sie letztendlich ins Meer werfen.“4

Ein komischer Mensch ist das: Rote Beine und blaue Augen sind in Äthiopien rar, und dicke Bäuche ebenfalls. Aber „Äthiopisch“ steht im Hadith meist stellvertretend für „christlich“.5 Die Gefahr für die Ka‘ba kommt aus christlicher Ecke. Einer berühmten Erzählung zufolge versuchte Abraha, in vorislamischer Zeit der äthiopische Herrscher des Jemen, mit seinem Kriegselefanten Mekka zu erobern. Das sei durch göttliches Eingreifen misslungen, aber am Ende der Zeiten lasse Gott dann zu, dass Äthiopier das tun, was sie anscheinend schon immer tun wollten: die Ka‘ba abreißen. 

Was ist das mit den Beinen? Ḏū as-Suwaiqatain bedeutet wörtlich „der mit kleinen Unterschenkel/Beinen“. Eine Anzahl Araber, denen ich das Wort vorgelegt habe, deutete es spontan wie ich selbst: „kurze Beinchen“. Der Kommentator an-Nawawī (1234–77) ist aber der Auffassung, dass dünne Beine gemeint sind. Er fügt hinzu: „Von den Schwarzen ist bekannt, dass sie dünne Beine haben.“ Dem kann man beipflichten, insoweit es die Ureinwohner Nordostafrikas betrifft, die tatsächlich oft von schlanker und ranker Gestalt sind. Und die alte arabische Poesie beweist, dass er Recht hat.

Einige Klarheit über diese merkwürdige Gestalt gab mir nämlich die Lektüre von Manfred →Ullmann, Der Neger. Ullmann hat Hunderte alte arabische Verse gesammelt, in denen ein Ding, Tier oder Mensch mit einem Äthiopier oder einem anderem schwarzem Menschen verglichen wird. In etwa zwanzig Gedichtfragmenten wird ein Vogel Strauß mit einem Äthiopier oder einem Inder verglichen (S. 30–44). Die gemeinsame Eigenschaft, auf der das Vergleichen beruht, ist meistens das Schwarz der Haut und der Flügel und Deckfedern, aber es können auch die ranken Beine sein.
Ullmann zitiert S. 30 zum Beispiel ein Fragment des vorislamischen Dichters Ṣalā’a ibn ‘Amr, auch genannt al-Afwah al-Audī (gest. 570?). In seiner Übersetzung lautet es:

  • Ein [Straußenhahn] mit rotgefärbten Beinen […] Er gleicht einem schwarzen Abessinier mit dünnen Schenkeln, dem schwarze, unverständlich plappernde [Kinder] folgen, die Ringe in den Ohren haben.6

Nach der Lektüre dieses Verses wird der Hadith von Hudaifa verständlicher: Der Erzähler wollte wohl einen Äthiopier beschreiben, aber dann kam ihm der aus der Poesie bekannte Vergleich mit dem Strauß in den Sinn, schwarz und mit roten Beinen, der mit ihm durchging: Sowohl Strauße als auch Äthiopier sind ja für ihre dünnen Beine bekannt. Und während der Balz werden die Beine mancher Straußenarten tatsächlich rot! Der „dicke Bauch“ ähnelt natürlich dem dicken, dunklen Straußkörper, der mit seinen dünnen Beinen kontrastiert. Im Hadith wird nicht der Vogel Strauß mit einem Äthiopier verglichen, wie in der Poesie, sondern umgekehrt.

Auch zu seinen blauen Augen gibt es einiges zu sagen. Das hier oben ist einfach eine falsche, oberflächliche Übersetzung von mir, die sicherlich auch viele Kollegen machen würden. Azraq bedeutet heutzutage zwar ‘blau’, aber bei Farben in alten Texten empfiehlt es sich, in Wolfdietrich →Fischers Studie zu den altarabischen Farbbezeichnungen einzutauchen. Ullmann und Fischer haben beide monumentale Beiträge zur Kenntnis des alten Arabisch geleistet, die leider von modernen Arabisten zu wenig konsultiert werden. Zu azraq bietet Fischer nicht weniger als acht Seiten (S. 47–55). Daraus wird bald ersichtlich, dass die Augen des Ka‘ba-Zerstörers ganz und gar nicht blau sind. Im alten Arabisch bedeutete azraq etwas wie „schillernd, glitzernd, changeant“; man denke an die schillernden oder flackernden Augen eines Raubtiers. Und diese furchterregende Augen hat der Erzähler wohl von der anderen Endzeitfigur, dem Antichrist (daǧǧāl) geborgt, der genau solche hat.  

Im ersten zitierten Hadith ist Ḏū as-Suwaiqatain „glatzköpfig, krummbeinig“. Damit weiß ich nicht viel anzufangen. Vielleicht will damit nur gesagt sein, dass er äußerst hässlich ist?

Die Ka‘ba wird also zerstört, aber es kommt noch schlimmer: Auch den Koran wird es in der Endzeit nicht mehr geben, nach einem Hadith, der von ad-Darimi (797–869) überliefert wird:

  • Von Abdallah ibn Mas‘ud: „Rezitiert den Koran oft, bevor er weggenommen wird.“ Es wurde gesagt: „Diese Bücher werden also weggenommen werden! Aber was is mit dem, was in den Herzen der Menschen [auswendig gelernt] ist?“ Er antwortete: „Eines Nachts wird etwas kommen und es wegnehmen und am Morgen werden sie ohne es aufwachen. Sie werden sogar den Satz: ‘Es gibt keinen Gott außer Allah’ vergessen und sie werden anfangen, die Sprüche und Dichtung der Heidenzeit zu rezitieren. Das ist, wenn das Urteil über sie ergeht (Koran 27:82).“7

Warum wurden solche Texte erzählt? Um die Gläubigen erschaudern zu lassen und sie zu ermutigen, auf das Jüngste Gericht vorbereitet zu sein, indem sie ihren Glaube pflegen: zu pilgern und den Koran zu rezitieren so lange es noch geht. Das Urteil steht ja bevor! So man will, kann man auch Trost daraus schöpfen. Wie schlimm die Zeiten auch sein mögen, noch sind die Ka‘ba und den Koran vorhanden.

BIBLIOGRAPHIE
– Wolfdietrich Fischer, Farb- und Formbezeichnungen in der Sprache der altarabischen Dichtung. Untersuchungen zur Wortbedeutung und zur Wortbildung, Wiesbaden 1965.
– Manfred Ullmann, Der Neger in der Bildersprache der arabischen Dichter, Wiesbaden 1998.

ANMERKUNGEN
1. Er stammt aus der Bibel, Matthäus 24:24. In der syrischen Übersetzung: mesīḥē daggālē, „falsche Messiasse“. Auch im Arabischen kommt die Wortkombination al-masīḥ ad-daǧǧāl häufig vor. Zu unterscheiden sind: der „normale“ daǧǧāl, der auf einer Insel im Westen festgebundene daǧǧāl, und Ibn Ṣayyād. Zum Letzteren s. Wim Raven, „Ibn Ṣayyād as an Islamic ‘Antichrist’. A reappraisal of the texts,“ in Wolfram Brandes und Felicitas Schmieder (hrsg.), Endzeiten. Eschatologie in den monotheistischen Weltreligionen, Berlin 2008, S. 261–291; hier herunterzuladen. Zu anderen daǧǧāl-Varianten s. David Cook, Studies in Muslim Apocalyptic, Princeton (NJ) 2002.
2. Textvariante: „ihrem Schatz (kanz)“. Was hierunter zu verstehen ist, ist fraglich. In unserer Zeit ist die Ka‘ba leer.
3. Aḥmad ibn Ḥanbal, Musnad ii, 220:

حدثنا عبد الله حدثني أبي ثنا أحمد بن عبد الملك وهو الحراني ثنا محمد بن سلمة عم محمد بن إسحق عن ابن أبي نجيح عن مجاهد عن عبد الله بن عمر، وقال سمعت رسول الله ص يقول: يخرب الكعبة ذو السويقتين من الحبشة ويسلبها حليتها، ويجرّدها من كسوتها، ولكأني أنظر إليه أصيلع أفيدع يضرب عليها بمسحاته ومعوله.

4. Al-Qasṭallānī, Irshād al-Sarī fī Sharḥ al-Bukhārī, dl. iii, Bulaaq 1304, p. 161::

كما ورد في حديث حذيفة مرفوعًا، كأني أنظر الى حبشي أحمر الساقين أزرق العينين أفطس الأنف كبير البطن وقد صف قدميه على الكعبة هو وأصحاب له ينقضونه حجرًا حجرًا يتداولونها حتى يطرحرها في البحر.

5. Wim Raven, „Some early Islamic texts on the negus of Abyssinia,“ JSS 33 (1988), 197–218, insbes. S. 216–18; hier herunterzuladen.

6. خَاضِبٌ … كَالأسْوَدِ الحَبَشِيِّ الحَمْشِ يَتْبَعَهُ سُودٌ طَمَاطِمُ فِي آذَانِهَا

7. Al-Dārimī, Sunan, Faḍā’il al-Qur‘ān 4:

عَبْدِ اللَّهِ بن مسعود قَالَ : ” أَكْثِرُوا تِلاوَةَ الْقُرْآنِ قَبْلَ أَنْ يُرْفَعَ ” قَالُوا : هَذِهِ الْمَصَاحِفُ تُرْفَعُ ! فَكَيْفَ بِمَا فِي صُدُورِ الرِّجَالِ ؟ قَالَ : ” يُسْرَى عَلَيْهِ لَيْلا فَيُصْبِحُونَ مِنْهُ فُقَرَاءَ ، وَيَنْسَوْنَ قَوْلَ لا إِلَهَ إِلا اللَّهُ“، وَيَقَعُونَ فِي قَوْلِ الْجَاهِلِيَّةِ وَأَشْعَارِهِمْ ، وَذَلِكَ حِينَ يَقَعُ عَلَيْهِمْ الْقَوْلُ

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Ahad, ein noch unbekannter Gott

🇳🇱 Der Gott des Korans heißt Allāh, das weiß jeder. Viele wissen auch, dass das ursprünglich kein Eigenname war, sondern ein Substantiv mit Artikel: „der Gott“. Aber aufgrund seines göttlichen Wesens, seines Handelns und seiner Eigenschaften ist es vollkommen richtig, das Wort Allāh als Eigenname aufzufassen.
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Dieser Gott wird im Koran oft al-raḥmān genannt. Das bedeutet „barmherzig“ und hat den Status eines Adjektivs—anderen zufolge den eines Substantivs—bekommen. An vielen Stellen im Koran tritt das Wort aber als Eigenname auf, wenn es auch auf denselben Gott Bezug nimmt wie das Wort Allāh. Innerhalb des Korans gibt es Hinweise, dass ein al-Raḥman früher als separater Gott aufgefasst wurde, z.B. Koran 17: 110 قل دعوا الله أو دعوا الرحمن  „betet zu Allāh oder betet zu al-Raḥmān“. Außerhalb des Korans ist es noch deutlicher. Bereits hundert Jahre vor Mohammed wurde im Jemen auf einer Inschrift der Gott Raḥmānān erwähnt, mit der sabäischen Endung -ān, die den Artikel darstellt. Er war der mittel- und südarabische high god des Himmels und der Sterne. Er ist aufgegangen in „dem Gott“, der im Islam der Einzige geworden ist.
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In den letzten Jahren wurden in Arabien Tausende Felsinschriften aus vorislamischer Zeit gefunden
. Eine davon lautet, in der Übersetzung von Ahmad al-Jallad, wie folgt:1 

  • He kept watch for his family while camping near water so O Aḥad and Allāt, may he who reads (this) have security and spoil.2

Hier werden also Schutz und Hilfe zweier Götter angerufen. Allāt ist eine Göttin, die auch aus dem Koran bekannt ist—wo sie natürlich als Göttin ausgedient hat. Aḥad war noch unbekannt. Aḥad ist ein gängiges arabisches Wort, das „einer“ oder „jemand“ bedeutet. Aber offensichtlich war es auch der Name eines Gottes. Wenn man so will, kann man ihn auch in der Bibel entdecken: שְׁמַע יִשְׂרָאֵל יְהוָה אֱלֹהֵינוּ יְהוָה אֶחָֽד „Höre Israël, der HERR ist unser Gott, der HERR ist Æḥad“ (5. Mose 6:4).
Für Muslime gilt aḥad als einer der „herrlichen Namen“ Gottes. Er kommt auch im Koran vor, in Sure 112: قل هو الله أحد „Sag: Er ist Allāh, ein Einziger,“ oder wenn wir das huwa weglassen (siehe dazu hier): „Allāh ist ein Einziger“. Ich kann mir die Frage nicht verkneifen: Haben wir es auch hier mit einer Gottheit zu tun, die mit „dem Gott“ gleichgesetzt wird: „Allāh ist Aḥad“? So wie er mit al-Raḥmān identisch ist, ist er so auch identisch mit Aḥad? Ein Koranvers und eine ziemlich alte Inschrift reichen nicht für eine Schlussfolgerung, aber ich behalte den Gedanken im Kopf. Sollte es so sein, so enthielte der letzte Vers der Sure ein Wortspiel: ولم يكن له كفوا أحد : „und nicht einer (aḥad) ist ihm ebenbürtig.“
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Der Eigenname ‘Abd al-Aḥad, „Knecht des Einen,“ ist islamisch. Muslime verwenden oft einen der „herrlichen Namen“ Gottes in dieser Manier. Kam er auch schon in vorislamischer Zeit vor? Nach einigem Blättern in Namenlisten scheint mir das nicht der Fall zu sein, aber auch dies sollte als Möglichkeit offen gelassen werden.

ANMERKUNG
1. Al-Jallad hat hierzu interessante Tweets. Die Sache ist offensichtlich noch nicht reif für einen wissenschaftlichen Artikel. OCIANA, auf das er hinweist, ist das Online Corpus of the Inscriptions of Ancient North Arabia. Siehe dort auch unter Safaitic.
2. Safaitische Inschrift Nr. KRS 1131: kharaṣa ahl-oh ḥāṣ́era fa-hā-aḥad wal-lāt salām le-dhī da’aya. Safaitisch war ein Alfabet; man hat Tausende in dieser Schrift verfasste Inschriften gefunden, zwischen Südsyrien und dem Norden Saudi-Arabiens. Man kann sie zwischen dem 1. Jahrhundert v. Chr. und dem 4. n.Chr. datieren.

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Ta’abbata Sharran, Räuber und Poet dazu

Ta’abbata Sharran war ein arabischer Dichter, der ca. 550, also lange vor der Enstehung des Islams, gelebt haben soll. Er gehörte zum Stamm Fahm, aber offensichtlich hielt er es im Stammesverband nicht aus. Es gab solche Menschen, die entweder selbst ihren Stamm verließen oder vergrault wurden und dann allein weiterlebten. Manchmal fanden sie bei Geistesverwandten Anschluss und bildeten eine kleine Bande von Räubern (su‘lūk, sa‘ālīk), die von der Jagd und von Überfällen und Raubzügen lebten. Helden und Kraftmenschen waren sie auch, denn ohne Stammesverband in einem wüsten Land zu überleben fordert Mut und Kraft. Anders als unsere modernen Räuber waren sie oft gute Dichter. Das war auch Ta’abbata Sharran .1
Sein Name bedeutet: „Er hat etwas Böses unter dem Arm getragen“ und ist also kein Name, sondern ein Beiname. In der „bürgerlichen“ Stammesgesellschaft hieß er Thābit ibn Djābir al-Fahmī. Es gibt mindestens drei Anekdoten, die erzählen, wie er zu seinem Beinamen gekommen ist:

  • 1. Die Poesieüberlieferer erzählen, dass er eines Tages in der Wüste einen Widder sah. Er hob ihn auf und trug ihn unter seinem Arm, aber das Tier pinkelte ihn den ganzen Weg an. Als er nahe an [das Lager] seines Stammes gekommen war, wurde es ihm zu schwer.2 Er konnte es nicht länger tragen und warf es von sich, und siehe da, es war ein Wüstendämon (ġūl, ghoul). Seine Leute fragten ihn:
    „Was hast du unter deinem Arm getragen?“
    „Einen Wüstendämon,“ antwortete er.
    „Dann hast du schon etwas Böses unter dem Arm getragen!“
    Und danach wurde er benannt.3

Eine andere, ziemlich gekünstelte Anekdote, zeigt den Mutter-Sohn-Konflikt des unerträglichen Rauhbauzes.

  • 2. Es wird auch erzählt: Nein, seine Mutter sagte zu ihm: „Alle deine Brüder bringen mir abends etwas mit, aber du nicht!“ Darauf sagte er: „Heute Abend werde ich dir etwas mitbringen.“ Er ging weg und fing eine große Anzahl Nattern, die größten, die er erwischen konnte. Als er am Abend nach Hause ging, tat er diese in einen Sack, den er unter seinem Arm trug. Den warf er vor seine Mutter hin. Sie öffnete ihn und siehe da, da schossen die Nattern los in ihrem Zelt. Sie sprang auf und rannte nach draußen.
    „Was hat Thābit dir mitgebracht?“ fragten die Frauen des Stammes.
    „Nattern in einem Sack!“
    „Aber wie hat er den denn getragen?“
    „Unter seinem Arm.“
    „Dann hat er schon etwas Böses unter seinem Arm getragen!“
    So blieb der Name Ta’abbata Sharran an ihm hängen.4

Von einer dritten Anekdote zitiere ich nur den in diesem Zusammenhang relevanten Teil:

  • 3. […] und er wurde Ta’abbata Sharran genannt, weil er, wie man erzählt, in einer dunklen Nacht, an einer Stelle namens Rahā Bitān, im Stammesgebiet der Hudhail, einer ghūl begegnete. Sie versperrte ihm den Weg, aber er bekämpfte sie so lange, bis er sie getötet hatte. Die ganze Nacht blieb er auf ihr liegen und am nächsten Morgen trug er sie unter seinem Arm zu seinen Gefährten. Diese sagten zu ihm: „Du hast schon etwas Böses unter dem Arm getragen!“5

Ein oder eine ghūl ist ein Dämon, der sich in der Wüste aufhält und einsame Reisende belästigt. Eine seiner Eigenschaften ist, dass er seine Form ändern kann. Oft nimmt er die Gestalt eines weiblichen Wesens an.6
Ta’abbata Sharran hat Verse über eine Begegnung mit einem Wüstendämon gedichtet. 

  • 4. Da leistete mir die ghūl nachbarliche Gesellschaft.
    Oh Nachbarin, wie unheimlich bist du doch!
    Ich forderte sie zum Koitus auf, aber sie machte mir Schwierigkeiten,
    und ich versuchte es (nur) zu tun.
    Wenn mich jemand nach meiner Nachbarin fragt,
    so hat sie ihre (letzte) Wohnung an der Krümmung des Sandhügels.7

„Nachbarin“ war eine Benennung, die Beduinen auf ihre Ehefrauen anwendeten. Der Dichter ist von dem gefährlichen Wesen überhaupt nicht beeindruckt. Im Gegenteil: Er verspottet den ängstlichen Glauben des braven Stammesvolks. Für ihn selbst existieren gar keine Wüstendämonen; fuck the ghoul! Und sollte jemand anders das auch tun wollen, sie wohnt um die Ecke beim Sandhügel, ihr wisst schon. Die Adresse ist im sandigen Arabien eindeutig.

Der Wüstendämon kommt in noch in weiteren Verszeilen vor, von denen ich hier einige zitiere:

  • 5. Auf, wer berichtet den Recken des Stammes Fahm,
    was mir bei Rahā Bitān begegnete?
    Ich traf die ghūl, als sie durch eine Wüste,
    so eben wie eine Seite (zum Beschreiben), hastete.
    Ich sprach zu ihr: Wir sind beide vor Müdigkeit erschöpft.
    (Du bist mein) Reisegenosse. Drum lass mir meinen (Ruhe)platz!
    Aber sie griff mich an. Da streckte meine Hand
    ihr ein gutgefegtes jemenitisches (Schwert) entgegen.
    Ich schlug sie ….; sie fiel auf ihre Vorderpfoten und ihren Hals
    […]
    und ich ließ nicht von ihr ab, mich auf sie lehnend,
    um am nächsten Morgen zu sehen, was zu mir gekommen war.

Auch hier brüstet sich die Dichterpersona, wie sie die ghoul bezwungen hat; auch hier liegt er, der Dichter, auf ihr, wenn auch von Sex keine Rede ist.

Der Versuch ein Gespräch anzuknüpfen erinnert an das „Gespräch mit dem Wolf,“ ein Motiv aus der etwas späteren Poesie. Wenn ein einsamer Reisender in der Wüste einem ebenfalls einsamen Wolf begegnet, haben die beiden viel gemeinsam: ihren Hunger, ihre Einsamkeit, ihre heikle Lage. Aber solche Begegnungen sind auch sehr gefährlich; deshalb sprechen die Dichter dem Wolf oft beschwörend zu.9 Das geschieht hier auch, aber naturgemäß geht die ghoul nicht darauf ein.

Anekdote Nr. 3. will den merkwürdigen Beinamen des Dichters erklären, wie die anderen auch. Aber sie ist von dem Gedichtfragment Nr. 5 inspiriert und will dazu ein wenig „Geschichtsschreibung“ bieten. Die Erzählung verhält sich zum Gedicht wie eine sabab an-nuzūl-Geschichte zu einem Koranvers. 

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ANMERKUNNGEN
1. Albert Arazi, „Ta’abbaṭa Sharran“ in EI2. Ewald Wagner, Kap. „Räuberdichtung“ in seinem Grundzüge der klassischen arabischen Dichtung, Band 1. Die altarabische Dichtung, Darmstadt 1987, 135–44.
2. Wie viele Meter können Sie zurücklegen mit einem Widder unter dem Arm?
3. Abū al-Faraǧ al-Iṣfahānī, Kitāb al-Aġānī, hrsg. Kairo 1927, xxi, 127.

ذكر الروة أنّه كان رأى كبشًا في الصحراء فاحتمله تحت إبطه فجعل يبول عليه طول طريقه. فلما قرب من الحيّ ثقل عليه الكبش فلم يُقِلّه فرمى به فإذا هو الغول. فقال له قومه: ما تأبّطَّ يا ثابت؟ قال: الغول. قالوا: لقد تأبّطَّ شرا! فسُمّي بذلك.

4. Aġānī xxi,127:

وقيل بل قالت أمّه له كل إحوتك يأتيني بشيء إذا راح غيرَك. فقال لها: سآتيك الليلة بشيء. ومضى فصاد أفاعيَ كثيرة من أكبر ما قدر عليه. فلمّا راح أتى يهنّ في جِراب متأبّطًا به فألقاهه بين يديها ففتحته فتساعين في بيتها. فوثب وخرجت. فقال لها نساء الحيّ: ما ذا أتاك به ثابت؟ فقالت: أتاني بإفاعٍ في جراب. وقلن: وكيف حملها؟ قالت: تأبّها. قلن: تأبّط شرّاً، فلزمه تأبّطا شرّاً.

5. Aġānī xxi,128–29:

[…] وإنّما سمّي تأبّط شرّاً لأنهه فيما حُكي لنا٬ لقي الغول في ليلة ظلماء في موضع رَحَى بِطَانٍ في بلاد هذيل فأخذت عليه الطريقَ فلم يزل بها حتى قتلها وبات عليها فلمّا أصبح حملها تحت إبطه وجاء بها الى أصحابه فقالوا له: لقد تأبّطّ شرّاً.

6. Ghouls gibt es noch immer; vgl. was hier gesagt wird zu Soraya Qadir, alias Dust.
7. Aġānī xxi, 128, Übersetzung von Ewald Wagner, o.c., i, 140

فَأَصْبَحَتِ‎ الغُولُ‏ لِي‏ جَارَةً  *  فَيَا جَارَتَا لَكِ‎ مَا أَهْوَلاَ
فَطَالَبْتُهَا بُضْعَهَا فَالْتَوَتْ  *  عَلََيَّ‏ وَحَاوَلْتُ‏ أَنْ‏ أَفْعَلاَ
فَمَنْ‎ كَانَ‎ يَسْأَلُ‏ عَنْ‏ جَارَتِي  *  فَإنَّ‏ لَهَا باللِّوَى مَنْزِلاَ

8. Aġānī xxi, 129, Übersetzung zum Großteil von Ewald Wagner, o.c., i, 140–1.

أَلاَ‎ مَنْ‏ مُبْلِغٌ‏ فِتْيَانَ‏ فَهْمٍ  *  بِمَا لَقِيتُ‏ عِنْدَ‏ رَحَى بِطَانِ
وَأَنِّي‏ قَدْ‎ لَقِيتُ‏ الغُولَ‏ تَهْوَى  *  بِسَهْبٍ‏ كَالصَّحِيفَةِ‏ صَحْصَحَانِ
فَقُلْتُ‏ لَهَا‏: كِلاَنَا نِضْوَأَيْنِ  *  أَخُو سَفَرٍ‏ فَخَلِّي‏ لِي‏ مَكَانِي
فَشَدَّتْ‏ شَدَّةً‏ نَحْوِي‏ فَأَهْوَى  *  لَهَا كَفِّي‏ بِمَصْقُولٍ‏ يَمَانِي
فَأَضْرِبُهَا بِلاَ‎ دَهَشٍ‏ فَخَرَّتْ  *  صَرِيعًا لِلْيَدَيْنِ‏ وَلِلْجِرَانِ
[‏…]
فَلَمْ‏ أَنْفَكَّ‏ مُتَّكِئًا عَلَيْهَا  *  لأَنْظُرَ‏ مُصْبِحًا مَاذَا أَتَانِي

9. Manfred Ullman, Das Gespräch mit dem Wolf, München 1981.

Diakritische Zeichen: Taʾabbaṭa Šarran, ṣuʿlūk, ṣaʿālīk, Ṯābit ibn Ǧābir al-Fahmī, ġūl, Raḥā Biṭān, Huḏail

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Dschahiliyya, Gahiliya, Jahiliya

Wie war das Leben in Arabien vor der Ankunft des Islam? Viel zu lange haben Wissenschaftler diese Frage vernachlässigt, auch weil sich arabische Regierungen nicht dafür interessierten, aber in letzter Zeit nimmt das Wissen rasant zu. Bevor ich dazu etwas schreibe, möchte ich kurz darauf eingehen, was Muslime traditionell dazu zu sagen hatten. Eines der Sachen, die der modernen Forschung im Wege standen, war ihre traditionelle Auffassung von der Antike.

Dschahiliyya (djāhilīya) ist eine religiös gefärbte, islamische Bezeichnung der vorislamischen Zeit.
Zu Grunde liegt das arabische Verb djahila, yadjhalu, djahl, „nicht wissen“. Djāhilīya heißt also „Zustand der Unwissenheit; Periode der Unwissenheit“.
Die islamische Perspektive kann man so zusammenfassen: Vor dem Islam herrschten Götzendienst, Barbarei und Dunkelheit; mit der Offenbarung des Korans und dem Auftritt des Propheten erschienen Licht und Wissen. Anschaulich formuliert wird dieses Bild in der Ansprache des Dja‘far ibn abī Tālib – ein Bruder ‘Alīs – vor dem Negus, dem christlichen Herrscher von Äthiopien. Mehr als ein Jahrhundert nach dato wird er von dem Prophetenbiograph Ibn Ishāq mit diesen Worten zitiert:

  • König, wir waren ein Volk der Unwissenheit, beteten Götzen an, aßen unreines Fleisch, betrieben Hurerei, brachen die Blutsbände, missachteten die Gastfreundschaft, und die Starken unter uns beuteten die Schwachen aus.

Djāhiliyya als Zeitangabe ist auch im Koran bereits vorhanden. (Paret übersetzt das Wort mit „Heidentum“.)

  • K. 3:154 … indem sie über Gott entgegen der Wahrheit Mutmaßungen anstellten, wie man das im Heidentum zu tun pflegte …
    K. 5:50 Wünschen sie sich (etwa) die Entscheidungsweise des Heidentums?
    K. 33:33 (gesagt zu den Frauen des Propheten) … putzt euch nicht heraus, wie man das früher im Heidentum zu tun pflegte …
    K. 48:26 (Damals) als die Ungläubigen das Ungestüm (? al-hamīya), dasjenige des Heidentums, in ihrem Herzen Platz greifen ließen ….

Religion versus moderne Geschichtsschreibung
Moderne Historiker können mit dem Begriff djāhilīya nichts anfangen. Sie haben keine religiöse Sicht auf die Vergangenheit, sondern sprechen neutral vom „vorislamischen Arabien“. Dabei ist ein Problem, wann die vorislamische Periode genau endet. Die Frage werde ich im Artikel *Islam erörtern.

Das islamische Gedankenschema hat ein Schwarzmalen der Vergangenheit gefördert; das vorislamische Arabien bekommt einfach keine Chance. Im 8. Jahrhundert, in der Abbasidenzeit, bastelten islamische Historiker sich eine djāhilīya zusammen, die möglichst heidnisch und rückständig aussehen sollte (→Ibn Ishāq, Ibn al-Kalbī). Die so kreierte „Vergangenheit“ stimmt aber nicht überein mit dem, was moderne Historiker und Archäologen entdecken.
Die arabische Halbinsel war gar nicht so isoliert, sondern in die Hochkulturen der Zeit integriert. Ausgrabungen künden davon: Viel Griechisch-Römisches und christliches wurde gefunden.
Manche Forscher, etwa →Hawting, glauben dass der Götzendienst eigentlich schon seit dem 5. Jh. ausgestorben sei; der Islam habe sein Entstehen hauptsächlich den Meinungsverschiedenheiten unter Monotheisten zu verdanken. Im Koran ist zwar oft von mushrikūn („Heiden, Polytheisten“) die Rede, aber das liege eher daran, dass die einander bekämpfenden Gruppen der Monotheisten einander gerne mit diesem Ausdruck beschimpften.
Auch →Crone interpretiert die relevanten Koranverse so, dass die angeblichen Heiden bereits an Allah („der Gott“) glaubten, nur eben noch an anderen Wesen neben ihm — mal Götter, mal Engel genannt. Diese beteten sie jedoch nicht an, sondern erhofften von ihnen Fürsprache bei Allah. Richtige Götzen, Bilder usw. kommen laut Crone nur in den koranischen Prophetengeschichten vor; also in der erzählten Vergangenheit, nicht zur Zeit des Propheten Mohammad.
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Djāhilīya heute
Einige strenge Muslime haben den Begriff djāhilīya auf ihre eigene Zeit angewandt. Außenseiter wie Ibn Taimīya [gest. 1328] und Ibn ‘Abd al­-Wahhāb [1703–1792] behaupteten, ihre Umgebung sei in Wirklichkeit nicht islamisch, sondern ungläubig und vorislamisch, djāhilī.
In unserer Zeit ist dies auch der Standpunkt militanter, dschihadistischer Muslime. Ihr Hauptideologe →Sayyid Qutb (1906–1966) ging darin sehr weit: Jede Gesellschaft, die nicht Gott dient und sich nicht seiner Führung und Herrschaft unterordnet, ist in einem Zustand der djāhilīya. Das gilt also für nahezu alle islamischen Länder. Die Konsequenz: Gegen die Regierungen vieler Staaten ist Dschihad angesagt.

ANMERKUNG:
1. Ibn Ishāq, Sīra, 219: أيها الملك، كنّا قومًا أهل جاهلية، نعبد الأصنام، ونأكل الميتة، ونأتي الفواحش، ونقطع الأرحام، ونسيء الجوار، ويأكل القوي منه الضعيف.

BIBLIOGRAPHIE
– Ibn Isḥāq, Sīra: The Life of Muhammad. A Translation of Isḥāq’s [sic!] Sīrat Rasūl Allāh, with introd. and notes by A. Guillaume, Oxford 1955, S. 3–70.
– Hišām ibn Muḥammad al-Kalbī, Kitāb al-aṣnām, hg. Aḥmad Zakī, Kairo 1912, 19242; Übers., Einl. und Kommt. Rosa Klinke-Rosenberger, Das Götzenbuch. Kitâb al-aṣnâm des Ibn al-Kalbî, Leipzig/Zürich(?) 1941. [Das Kitāb al-aṣnām ist in englischer Übersetzung auch im Internet vorhanden; die Qualität ist mir unbekannt.]
– M. M. Bravmann, The Spiritual Background of Early Islam. Studies in Ancient Arab Concepts, Leiden 1972.
– Patricia Crone, „The Religion of the Qur’ānic Pagans: God and the lesser Deities,“ in Arabica 57 (2010), 151–200.
– Toufic Fahd, La divination arabe. Études religieuses, sociologiques et folkloriques sur le milieu natif de l’Islam, Leiden 1966.
– Toufic Fahd, „Siḥr,“ in EI2.
– Gerald R. Hawting, The Idea of Idolatry and the Emergence of Islam. From Polemic to History, Cambridge 1999.
– Robert G. Hoyland, Arabia and the Arabs from the Bronze Age to the Coming of Islam, London 2001.
– M. J. Kister, „Al-taḥannuth. An inquiry into the meaning of a term,“ in: BSOAS, 23 (1970), 223–236 (Nachdruck in: M. J. Kister, Studies in Jāhiliyya and Early Islam, London 1980, nr. v) und online: http://www.kister.huji.ac.il/sites/default/files/Tahannuth.pdf. [Fallstudie]
– W. E. Shepard, „Ignorance,“ und  „Age of Ignorance“ in EQ.
– Julius Wellhausen, Reste arabischen Heidentums, Berlin 18972, 19613 [Ist schon sehr alt. Wer Französisch liest, ist mit Toufic Fahd besser beraten].
– Sayyid Quṭb (1906-1966), Maʿālim fī a-ṭarīq, Beirut 1964(?), viele Ausgaben, viele Übersetzungen. Die relevanten Texte zum ǧāhilīya werden in einer wichtigen Studie über ihn zitiert:
– Sabine Damir-Geilsdorf, Herrschaft und Gesellschaft. Der islamistische Wegbereiter Saiyyd Quṭb und seine Rezeption, Würzburg 2003.

Diakritische Zeichen: ǧāhilīya, ǧahila, yaǧhalu, ǧahl, Ǧaʿfar ibn abī Ṭālib, ʿAlī, Ibn Isḥāq, al-ḥamīya, mušrikūn, Sayyid Quṭb

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