
Mosaikmuseum Istanbul
Foto Dick Osseman
Ein fünftes Fragment aus dem arabischen, überwiegend christlichen Text Kitāb al-i‘tibār fī al-malakūt von Djibrīl ibn Nūh al-Anbārī,1 eine Sammlung von ungefähr hundert teleologischen Gottesbeweisen (arguments from design), wahrscheinlich aus dem neunten Jahrhundert. Siehe zu dem Büchlein hier. Daraus finden Sie in diesem Bluch Fragmente zum Rüssel des Elefanten, zur Dummheit von Babys, zum Penis des Mannes und zur menschlichen Stimme—alles Gottesbeweise, versteht sich. Heute kommt der Hirsch an die Reihe.
- „Wie der Hirsch schreit nach frischem Wasser, so schreit meine Seele, Gott, zu dir,“
heißt es in der Lutherbibel, in Psalm 42:1. Warum ist der Hirsch so durstig; warum schreit er? Schreien tut er ehrlich gesagt nicht, und röhren schon gar nicht, denn es ist eine Ricke. Eine bessere Übersetzung des hebräischen תַּעֲרֹג ist: „lechzt“. Die Bibel erklärt den Durst des Tieres nicht. In der Antike kannte man aber den Grund: weil das Tier eine Schlange gegessen hatte!
Im Buch des Djibrīl ibn Nūh wird ein durstiger Hirsch als Gottesbeweis angeführt:
- Es wird gesagt, dass ein Hirsch, wenn er Schlangen frisst, danach sehr durstig wird, aber trotzdem kein Wasser trinkt, aus Angst, dass das Gift in seinen Körper kriechen und es töten würde. Er steht also beim Tümpel, von Durst gequält und laut schreiend, aber ohne zu trinken, bis es weiß, dass das Gift zerstreut ist und das Gegessene verdaut ist; erst dann trinkt er. Betrachte, was in der Natur dieses Tieres angelegt worden ist: wie es einen übermächtigen Durst aushält, aus Angst sich durch Trinken Schaden zuzufügen. Dazu kann sich sogar ein vernunftbegabter Mensch kaum zwingen.1
Der Hirsch ist ein Gottesbeweis, weil er sich in einer Lage, in der Trinken schädlich oder gar tödlich wäre, so gut beherrschen kann. Der Autor ist sich sicher, dass das Tier seine Selbstkontrolle mittels einer natürlichen Veranlagung von einem intelligenten Schöpfer empfangen hat.
Hirsche sind heutzutage als pflanzenfressende Wiederkäuer bekannt, aber in der Antike meinten manche Leute tatsächlich, dass sie gerne Schlangen fressen und diese sogar jagen. So schrieb der Römer Älian (Claudius Aelianus; ± 170–222) auf Griechisch ein ziemlich dickes Tierbuch, in dem er viel Aufmerksamkeit richtet auf Tierfeindschaften und auf unwahrscheinliche Kämpfe zwischen Tierarten, wie sie heutzutage bei Youtube wieder populär sind. Er weiß:
- Ein Hirsch besiegt eine Schlange durch eine außerordentliche Gabe der Natur. Auch die gemeinste Schlange in ihrer Höhle entwischt ihm nicht: Der Hirsch setzt seine Nasenlöcher an den Eingang [der Höhle] der gefährlichen Bestie und bläst darin aus aller Macht, bis er sie mit dem Zauberkraft seines Atems herauszieht; sobald sie ihren Kopf herausstreckt, fängt er an sie zu fressen. Vor allem im Winter machen Hirsche das.
Es ist sogar vorgekommen, dass jemand das Horn eines Hirschs zu Pulver vermahlen und dann ins Feuer geworfen hat und dass der aufsteigende Rauch die Schlangen aus der ganzen Umgebung vertrieben hat; sogar der Geruch ist ihnen unerträglich.2
Das mit dem Winter ist vorstellbar, weil Schlangen dann wegen der Kälte sehr passiv sind oder sogar Winterschlaf halten. Alles andere entspricht nicht dem, was die moderne Biologie zum Hirsch mitzuteilen hat.
Etwas älter ist der griechische Physiologus, aus dem zweiten Jahrhundert: ein christliches Tierbuch, das der vornehme Heide Älian als minderwertig betrachtet haben dürfte—wenn er es überhaupt kannte. Aber offensichtlich waren Texte über Tiere, gerne auch über kämpfende Tiere, zu der Zeit überall gängig. Hier das Fragment zum Hirsch:
- David sagt: „Wie der Hirsch nach dem Wasserquell verlangt, so verlangt meine Seele nach dir, o Gott.“ Der Physiologus sagte vom Hirsch, er sei der Todfeind der Schlange. Wenn die Schlange vor dem Hirsch in die Erdspalten flieht, geht der Hirsch hin und füllt seinen Bauch mit Quellwasser und speit es in die Erdspalten; so schwemmt er die Schlange herauf und zertritt und tötet sie.
So hat auch unser Herr die große Schlange, den Teufel, mit himmlischen Wassern getötet, die er als göttliches Wort voll trefflicher Weisheit in sich trug; die Schlange nämlich kann Wasser nicht ertragen, ebenso wenig wie der Teufel göttliche Worte. [… folgt noch mehr Erbauliches und dann:]
Wenn man nämlich Haare vom Hirsch im Haus hat oder jemand einen Knochen von ihm verbrennt, wirst du niemals die Witterung oder Spur einer Schlange merken. Denn wenn sich die Furcht Christi in deinem Herzen findet, wird niemals ein schlimmes Gift zu deinem Herzen aufsteigen. (Übers. Schönberger)3
Wie immer gibt der Physiologus seinen Tiergeschichten eine fromme Wendung. Allgemeinbildung oder interessante Fakten interessieren ihn erst, wenn er sie christlich deuten kann.
Das Wasser ist also jetzt da, aber die Verbindung zwischen Schlangenfressen und Durst noch nicht. Die finden wir in der syrischen4 Fassung des Physiologus, die die Araber eher zur Hand gehabt haben dürften als die griechische oder lateinische. Diese Fassung hat in großen Zügen denselben Text wie die weiter oben, einschließlich der Schlangen verscheuchenden Wirkung von verbranntem Hirschhorn, hat aber noch eine Ergänzung, die den Durst des Tiers erklärt:
- Wenn ein Hirsch eine Schlange frisst, so fängt er bei dem Schwanze an, sie zu fressen, und nimmt sie ganz in seinen Schlund, ihren Kopf aber legt er in seinem Munde zurecht, und so zerbeißt und verschlingt er sie; weil aber der Kopf der Schlange in seinem Gaumen steckt, so speit sie viel Galle aus in seinen Mund, und so, aus diesem Grunde, wird er durstig und schreit nach dem Wasserteiche. (Übers. Ahrens)5
Auch bei dem berühmten Prosaisten und Tiergeschichtenschreiber al-Djāhiz (ca. 776–869), der Muslim war, gibt es einen deutlichen Zusammenhang mit dem Psalmvers. Er zitiert ihn sogar, wenn auch in einer sehr korrupten Fassung:
- Der Prophet David sagt in den Psalmen: „Meine Sehnsucht nach dem Messias ist wie die eines Hirschs, wenn er Schlangen frisst.“ [Wenn er das tut,] wird er nämlich durch einen großen Durst überwältigt. Man sieht ihn um das Wasser herumgehen, aber vom Trinken wird er abgehalten durch sein Wissen, dass das sein Untergang sein würde. Denn das Gift würde in das Wasser strömen und in Körperöffnungen geraten, die nicht für die Nahrungsaufnahme bestimmt sind. Der Hirsch weiß das nicht aus früherer Erfahrung; nein, [die Kenntnis] existiert schon, wenn er zum ersten Mal Schlangen frisst.6
Hier ist der Ablauf ein etwas anderer, aber es ist offensichtlich, dass Djibrīls Gottesbeweis aus einer langen literarischen Tradition schöpfen konnte.
Wie landeten die Schlangen überhaupt auf dem Menü der Hirsche, schon im 2. Jahrhundert? Liegt ein korrupt überlieferter oder falsch verstandener Text aus der Antike zu Grunde? Oder eine eigenartige Bibelexegese? Nein; die hätte der Heide Älian nicht gekannt. Hat jemand vielleicht den Hirsch mit einer anderen Tierart verwechselt? Oder ist einfach die Fantasie mit jemandem durchgegangen, wie beim Basilisk und beim Einhorn?
Es gibt bestimmt noch andere Texte aus der späten Antike und aus frühislamischer Zeit, die nach schlangenfressenden Hirschen durchsucht werden könnten, aber für einen ersten Eindruck reicht es erst mal. Das Interessante an solchen Texten ist, dass sie zeigen, was die Menschen durch die Jahrhunderte einander weisgemacht haben, wie ihr Gedankengut durch die Kulturen reiste und manchmal tausend Jahre überlebte. Von Babylonien und dem alten Persien nach Athen und Rom, über die syrische Sprache und Pahlavi ins Arabische und Neupersische des Nahen Ostens; von dort später oft nach Europa. Noch Hildegard von Bingen meinte, dass mit Weihrauch verbranntes Hirschhornpulver die Luftgeister und die „bösen Würmer“ vertreibe. Es ist eine Zivilisation; werden wir sie die westliche Zivilisation nennen?
Auch veröffentlich in zenith, 04/2015.
NACHSCHRIFT: Eine Spezialistin für antike und arabische Tiere weist mich auf Aristoteles, Historia animalium viii (ix) 611b20 hin: Wenn ein Hirsch von einer giftigen Spinne (φαλάγγιον) gebissen wird, geht er Krabben fangen und frisst die als Gegengift.
ANMERKUNGEN:
1. Auch als Dalāʾil al-iʿtibār bekannt. Das Büchlein wird oft al-Djāḥiẓ (ca. 776–869) zugeschrieben. Die erste (unkritische) Ausgabe erschien 1928 in Aleppo.
فقد يقال انّ الأيّل يأكل الحيّات، فيعطش عطشًا شديدًا ويمتنع من شرب الماء خوفًا من أن يدبّ السم في جسمه فيقتله. وانه ليقف على الغدير وهو مجهود عطشًا فيعجّ عجيجًا عاليًا ولا يشرب منه حتّى يعلم أنّ السمّ قد تفرق وانّ الذي أكل قد انهضم وحينئذ يشرب. فانظر الى ما جُعل في طباع هذه البهيمة من الصبر على الظمأ الغالب خوفًا من المضرّة في الشرب. وذلك ما لا يكاد الانسان العاقل أن يضبطه من نفسه.
2. Aelianus, Nat. anim. ii, 9: Ἒλαφος ὂφιν νικᾷ, κατά τινα φύσεως δωρεὰν θαυμαστήν· καὶ οὐκ αὐτὸν διαλάθοι ἐν τῷ φωλεῷ ὤν ὁ ἔχθιστος, αλλὰ προσερείσας τῇ καταδρομῇ τοῦ δακετοῦ τοὺς ἑαυτοῦ μυκτῆρας βιαιότατα ἐσπνεῖ, καὶ ἓλκει ὡς ἴυγγι τῷ πνεύματι, καὶ ἂκοντα προάγει, καὶ προκύπτοντα ἀυτὸν ἐσθίειν ἂρχεται· καὶ μάλιστά γε διὰ χειμῶνος δρᾷ τοῦτο. ἢδη μέντοι τις καὶ κέρας ἐλάφου ξέσας, εἶτα το ξέσμα ἐς πῦρ ἐνέβαλε, καὶ ὁ καπνὸς ἀνιὼν διώκει τοὺς ὂφεις πανταχόθεν, μηδὲ τὴν ὀσμὴν ὑπομένοντας.
3. Physiologus, S. 48, Nr. 30: Ὁ μὲν Δαυὶδ λέγει· «ὃν τρόπον ἐπιποθεῖ ἡ ἒλαφος ἐπὶ τὰς πηγὰς τῶν ὑδάτων, οὓτως ἐπιποθεῖ ἡ ψυχή μου πρὸς σέ, ὁ Θεός». ὁ Φυσιολόγος ἒλεξε περὶ τῆς ἐλάφου ὃτι ἐχθρὰ τοῦ δράκοντός ἐστι πάνυ. ἐὰν φύγῃ ὁ δράκων ἀπὸ τῆς ἐλάφου εἰς τὰς ῥαγάδας τῆς γῆς, πορεύεται ἡ ἒλαφος καὶ ἐμπιπλᾷ τὰ ἀγγεῖα αὑτῆς πηγαίου ὓδατος καὶ ἐξεμεῖ ἐπὶ τὰς ῥαγάδας τῆς γῆς, καὶ ἀναφέρει τὸν δράκοντα καὶ κατακόπτει αὐτὀν καὶ ἀποκτείνει.
4. Bei syrisch denke man nicht an das moderne Syrien, wo Arabisch gesprochen wird. Syrisch ist eine aramäische, also semitische Sprache, die heute nur noch wenige Sprecher hat, aber in den ersten Jahrhunderten n. Chr. im Nahen Osten weit verbreitet war. Unzählige meist christliche Schriften in Syrisch sammeln in Bibliotheken Staub an, obwohl man sie für eine verantwortungsvolle Geschichtsschreibung eigentlich ständig lesen sollte.
5. Physiologus Syrus, Nr. 17. Syrisch kann ich nicht tippen; der eine Leser, der das Original sehen will, möge sich zur UB begeben oder den Text aus dem Internet herunterladen. Die arabische Fassung des Physiologus (Hrsg. Wentker) enthält dieses Detail nicht.
6. Al-Ǧāḥiẓ, Ḥayawān vii, 29–30:
ومن هذا الباب الذي ذكرنا فيه صِدق إحسان الحيوان ثم اللاتي يضاف منها الى المُوق وينسب الى الغثارة. قال داود النبي عليه السلام في الزبور: شوقي إلى المسيح مثل الأيل إذا أكل الحيات. [والأيل إذا أكل الحيات] فاعتراه العطش الشديد تراه كيف يدور حول الماء ويحجزه من الشرب [منه] علمه بأن ذلك عطبه، لأن السموم حينئذ تجري مع [هذا] الماء، وتدخل مداخل لم يكن ليبلغها الطعام بنفسه. وليس علم الأيل بهذا كان عن تجرية متقدمة، بل هذا يوجد في أول مل يأكل الحيات وفي آخره.
Auch in Ḥayawān iv, 166 nennt al-Ǧāḥiẓ den Hirsch unter den schlangenfressenden Arten: وتأكل الحياتَ العقبان والأيائل والأراويّ والأوعال والسنانير والشاهمرك والقنفذ. „Adler, Hirsche, Bergziegen und -böcke, Katzen, der Stelzenläufer (? shāhmurk) und der Igel.“
BIBLIOGRAFIE:
– Claudius Aelianus, Περὶ ζῴων ἰδιότητος – De natura animalium: On animals, 3 dln., Übers. A.F. Scholfield, Harvard 1958–9 (Loeb Classical Library 446, 448, 449).
– Physiologus, Griechisch/Deutsch, Hrsg. u. Übers. Otto Schönberger, Reclam Buch 18124, 2018.
– Physiologus syrus: Ketobó dakjonojotó. Das ‘Buch der Naturgegenstände,’ Hrsg. u. Übers. K. Ahrens, Kiel 1892.
– Al-Ǧāḥiẓ, Kitāb al-Ḥayawān, Hrsg u. Kommt. ʿAbd al-Salām Muḥammad Hārūn, 7 Bde., Kairo 1938–47.
Diakritische Zeichen: Ǧibrīl ibn Nūḥ, al-Ǧāḥiẓ, šāhmurk
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