Der Heilige Krieg (Dschihad)

Ein Heiliger Krieg ist ein Krieg, der aus einer Religion, aus einem vermeintlich göttlichen Auftrag heraus oder zur Verteidigung „heiliger“ Gebiete geführt wird.
Heilige Kriege sind in allen drei westlichen Religionen vorgesehen. Die alten Israeliten stürzten sich auf das Bekämpfen konkurrierender Kleinvölker – nach Ansicht einiger Propheten taten sie das noch zu wenig. Im Alten Testament (4. Mose 21:14) wird auf ein Buch von den Kriegen des HERRN hingewiesen, das leider nicht erhalten ist. Jesus ist nicht gekommen, Frieden zu bringen, sondern das Schwert (Matthäus 10:34), und er wird erneut kommen mit eisernem Stabe (Offenbarung 19:15). Seine Anhänger führten mehrere heilige Kriege, u.a. die Kreuzzüge im Nahen Osten (Deus lo vult – „Gott will es!“). Auch Muslime kennen den heiligen Krieg; sie nennen ihn meist Dschihad (djihād). Diesen Ausdruck jedoch habe ich nicht als Titel gewählt, weil 1) das Wort auch noch eine andere Bedeutung hat: „sich anstrengen“ 2) für offensichtlich Heilige Kriege auch das Wort qitāl, „kämpfen“ häufig benutzt wird.

  • djāhada, Infinitiv djihād‚ „sich anstrengen“
  • al-djihād fī sabīl Allāh‚ „sich anstrengen auf dem Weg Gottes, für Gottes Sache“
  • mudjāhid, jemand, der eben dies unternimmt; spez.  „Glaubenskämpfer“.
  • Es gibt einen inneren Dschihad: der Kampf gegen das eigene Ich und die Seele, die zum Bösen neigt; und einen äußeren: das „Sich-Anstrengen für Gottes Sache“. Letzteres muss nicht militärisch sein. Aber im heutigen Sprachgebrauch wird Dschihad selten in Zusammenhang mit der Anstrengung im Rahmen eines Studiums oder etwa der Eröffnung einer Kinderklinik benutzt.

Die ersten arabischen Eroberungen
Die ersten arabischen Eroberungen (632-750) waren sehr militant, aber noch kaum islamisch oder Dschihad, weil sich weder der Islam- noch der Dschihadbegriff bereits herauskristallisiert hatte. Rückwirkend hat man die Eroberungen jedoch durchaus Dschihad genannt.
Texte, heilige oder nicht heilige, geschriebene oder ungeschriebene, spielen bei Kriegsführung immer eine wichtige Rolle. Eine Einzelperson hat vielleicht auch so mal Lust am Kämpfen, aber wenn man Gruppen von Männern über längere Zeit kämpfen lassen will, braucht man Worte: zur Motivierung, zur Rechtfertigung, zur Ermutigung. Die Worte können von Gemeinschaften bzw. Führern bewusst eingesetzt werden. Ohne Zweifel gehörten zu den Antriebsmotoren der arabischen Eroberungen die neue geistliche Bewegung und die darin kursierenden Texte, die auch im Koran ihren Niederschlag gefunden haben; wie genau ist den Geschichtsschreibern nicht klar.

Der Heilige Krieg im Koran
Wer recherchieren möchte, was der Koran über das Thema zu sagen hat, findet mehr als hundert Verse, hauptsächlich mit djihād und qitāl und verwandten Wörtern. Aber eine einheitliche Auffassung des Koran über den Krieg gibt es nicht: „The qur’ānic rulings and attitudes regarding warfare are often ambiguous and contradictory so that there is no one coherent doctrine of warfare in the Qur’ān, especially when the text is read without reference to its exegetical tradition“ (Landau­-Tasseron, S. 38b; meine Hervorhebung). Weil es über das Thema so viele unterschiedliche Verse gibt, macht es keinen Sinn, wie es oft getan wird, einen oder zwei herauszuholen und diese dann als „die koranische Auffassung“ anzubieten. Ob man im Koran einen dringenden Ansporn zum Kriegführen oder vielmehr zu Friedfertigkeit liest, hängt stark von der Wahl der Verse und deren Auslegung ab.
Eine traditionelle (sowohl islamische als auch orientalistische) Weise die Texte zum Dschihad im Koran anzugehen, berücksichtigt die chronologische Abfolge der Koranoffenbarungen. Frühe Koranverse können durch spätere „abrogiert“ werden (nasḫ).
Dann sagt man z.B.: „In der frühen Periode, als der Prophet noch in Mekka war, waren die Texte defensiv; als er in Medina einen eigen Staat gegründet hatte, der sich zum Teil durch Raubzügen ernährte, wurden die Texte angriffslustiger.“ Sura 9, die letzte des Korans, abrogiert laut diesem Denkmodell also die früheren. Diese Sura ist aggressiv; thematisiert aber zur gleichen Zeit das Problem der Kriegsdienstverweigerung. Offensichtlich wollten nicht alle so gerne kämpfen.

Wer nicht so viel vom chronologischen Modell hält, begnügt sich am besten mit den thematischen Auflistungen bei →Landau­-Tasseron und →Crone. Themen:
­– Die Gegner: die Ungläubigen
­– Sich verteidigen bei Angriff
­– Selbst angreifen
­– Ansporn zur Teilnahme
­– Belohnung für den Einsatz: Beute in dieser Welt; das Paradies im späteren Leben.
­– Bestrafung für Feigheit und Dienstverweigerung, vor allem für die Heuchler (munāfiqūn), die sagen, sie seien dabei, aber sich nicht vom Fleck rühren wollen. Sie kommen in die tiefste Hölle.
­– Neben persönlicher Teilnahme ist auch materielle Unterstützung der Kriegsführung möglich. Man konnte ein Reittier oder eine Rüstung schenken usw.
.
Hier einige Korantexte aus vielen (übers. R. Paret):

  • Sura 22:39–40: Denjenigen, die bekämpft werden (oder: kämpfen), ist die Erlaubnis (zum Kämpfen) erteilt worden, weil ihnen Unrecht geschehen ist.
  • Sura 2:190–93: Und kämpft um Gottes willen gegen diejenigen, die gegen euch kämpfen! Aber begeht keine Übertretung! Gott liebt die nicht, die Übertretungen begehen. Und tötet sie, wo immer ihr sie zu fassen bekommt, und vertreibt sie, von wo sie euch vertrieben haben! … usw.
  • Sura 2: 216: Euch ist vorgeschrieben zu kämpfen, obwohl es euch zuwider ist….
  • Sura 9:5: Und wenn nun die heiligen Monate abgelaufen sind, dann tötet die Heiden wo immer ihr sie findet, greift sie, umzingelt sie und lauert ihnen überall auf! Wenn sie sich aber bekehren, das Gebet verrichten und die Almosensteuer geben, dann lasst sie ihres Weges ziehen! …
  • Sura 9:39: Wenn ihr nicht ausrückt, lässt er euch eine schmerzhafte Strafe zukommen und andere Leute eure Stelle einnehmen …

.
Ribāt: die Praxis
Ribāt ist ein lästiger Begriff (Chabbi, Ribāt, insbes. S. 493–4). Manchmal erscheint er nahezu synonym zu djihād, dann wieder versteht man darunter eine Festung, dann wieder eine Gruppe religiös inspirierter Kämpfer.
Als nach 750 die große Eroberungswelle zum Stillstand gekommen war, wurde der Dschihad „ritualisiert“. An der Schmerzgrenze zwischen dem Römerreich und dem Islamischen Reich, die ungefähr der heutigen Grenze zwischen Syrien und der Türkei entspricht, sammelten sich Gruppen oft inbrünstig religiös inspirierter Kämpfer, die sich einmal im Jahr eine Schlacht gaben. Mal wurde eine Festung oder ein Städtchen erobert; mal wurde es wieder verloren. Die Grenze blieb durch die Jahrhunderte ziemlich stabil. Während sich in Medina oder Kufa die Gelehrten über die Theorie des Dschihad beugten, gab es hier die Praxis.
Bekannt ist die Hadith-Sammlung des ‘Abdallāh b. Mubārak aus dieser Atmosphäre, Kitāb al­-djihād, die heutzutage unter den Militanten wieder populär ist. Ibn Mubārak (gest. 797) stammte aus Zentralasien und war extra für den Dschihad angereist. Er war ein Krieger­-Asketiker – er hat auch ein Kitāb al­-Zuhd, „Buch der Weltentsagung“ geschrieben. Das Kitab al-djihād dokumentiert die geistliche Dimension des Kriegführens in diesen Gruppen, die hier viel detaillierter dargelegt wird als im Koran. Es sind 262 Hadithe; davon hier einer:

    • […] dass er vom ‘Utba ibn ‘Abd as-Sulami, einem Gefährten des Propheten, gehört habe, dass der Prophet gesagt habe:
      Die im Dschihad Getöteten sind drei Typen Männer:
      Ein Gläubiger, der mit seinem Leib und seinem Hab und Gut derart für die Sache Gottes kämpft, dass er, wenn er den Feind trifft, weiter kämpft, bis er getötet wird. Ein solcher Märtyrer (shahīd, Pl. shuhadā’) wird auf die Probe gestellt, [und ist] bei Gott unter dessen Thron; die Propheten haben nicht mehr Verdienst als sie, außer, dass sie die Ebene des Prophetentums besitzen.
      [Zweitens] ein Gläubiger, der Verbrechen und Sünden begeht, der mit seinem Leib und seinem Hab und Gut derart für die Sache Gottes kämpft, dass er, wenn er den Feind trifft, weiter kämpft, bis er getötet wird. Diese Reinigung wischt seine Vergehen und Sünden weg—ja, das Schwert wischt Sünden weg!—und er wird ins Paradies eingelassen; durch welches Tor er auch immer wünscht. …
      [Drittens] ein Heuchler, der mit seinem Leib und seinem Hab und Gut derart für die Sache Gottes kämpft, dass er, wenn er den Feind trifft, weiter kämpft, bis er getötet wird. Dieser ist in der Hölle, weil das Schwert die Heuchelei nicht wegwischt.

Hier wird der Dschihad als geistliche Kriegsführung dargestellt, im selben Geist wie im Koran, wo Kampfeinsatz mit dem Paradies belohnt wird:

    • Gott hat den Gläubigen ihre Person und ihr Vermögen dafür abgekauft, dass sie das Paradies haben sollen. Nun müssen sie um Gottes willen kämpfen und dabei töten oder (selber) den Tod erleiden […] Freut euch über euren Handel, den ihr mit ihm abgeschlossen habt! Das ist dann das große Glück. (Koran 9:111)

Überdies sühnt der Kriegseinsatz die begangenen Sünden (außer Heuchelei, in Übereinstimmung mit Koran 63:3; 4:145).
Kämpfern wurde empfohlen weiße Kleider zu tragen, so dass das Blut ihres Opfers deutlich sichtbar sei.
.
Märtyrer
In den Kreisen der ribāt-Kämpfer, aber auch später immer mal wieder, auch wenn es gar keinen Krieg gab, wurde die Idee des Märtyrertums kultiviert. Auch in unserer Zeit hört man wieder darüber.
Die Märtyrer sind nicht tot, sondern nahe bei Gott (Koran 3:169–70). Ob sie sich dort an 72 Jungfrauen ergötzen, sei dahin gestellt; siehe den separaten Beitrag zum Thema Märtyrer.
.
Dschihad im Hadith
Das Buch von ‘Abdallāh ibn al­-Mubārak besteht aus Hadithen; wenige hiervon jedoch gehören zu jenen, die ungefähr ein halbes Jahrhundert später in die „kanonischen“ Sammlungen aufgenommen worden sind. In solchen Sammlungen sind, abgesehen vom generellen Lob des Dschihad, auch das Kleingedruckte und Juristische zu finden: Wie steht es um die Beuteverteilung, wie mit den Einzelheiten der Kriegsführung, den Kriegsgefangenen usw.. Auch Ethik: keine Frauen und Kinder töten, keine Bäume umhauen (pace Koran 59:5) u.ä..
Bequem zugänglich sind die betreffenden Kap. aus Mālik ibn Anas (gest. 797), Muwatta’ und Muslim (gest. 875), Sahīh. Weil gerade kein Krieg ist, haben die Texte momentan wenig praktische Relevanz. Muslim hat mehr Text; Mālik ist besser ins Englische übersetzt worden.
.
Die Kreuzzüge und die Reaktionen darauf
1096 rief Papst Urban II. die europäischen Christen zu einem Kreuzzug auf: Palästina, ihr Heiliges Land, sollte zurückerobert werden. Ein heiliger Krieg: deus lo vult!, „Gott will es“. 1099 wurde dann nach einem großen Blutbad Jerusalem erobert; es entstanden einige christliche Fürstentümer, die es zum Teil bis zu 200 Jahre aushielten.
Die islamische Welt schien erst gelähmt. Hier wäre doch Dschihad nötig gewesen! Aber z. B. ein Prediger namens as-Sulamī, der in einer Damaszener Moschee in diesem Sinne predigte, bekam kaum Zuspruch (Hillenbrand, Crusades 105–8). In dem nächsten halben Jahrhundert sah man die Kriegsherren (Atabeks) der Seldschuken sich zwar mit dem Titel mudjāhid, „Glaubenskämpfer,“ schmücken, aber das war nur so dahin gesagt. Sie kämpften gerne, sie hätten es auch ohne Glauben getan. Der Kreuzfahrer Roger von Antiochien wurde 1119 getötet von Ilghāzī, der seinen Sieg mit einer Sauforgie feierte, die eine Woche andauerte. Als Dschihad konnte das schwerlich durchgehen.
Aber seitdem wurde der Kampf gegen die Kreuzfahrer doch zunehmend als Dschihad bezeichnet. Und als Saladin (Salāh ad-Dīn al-Ayyūbī) 1187 Jerusalem zurückeroberte, war das sicher ein Ergebnis von Dschihad.
.
Ibn Taimīya
Dieser merkwürdige Sturkopf ist über Muḥammad ibn ‘Abd al-Wahhāb, Rashīd Ridā und Saiyid Qutb wieder ganz ins Rampenlicht geholt und zum Ziehvater des militanten Islams gemacht worden.
Ibn Taimīya (1263-1328) stammte aus einem syrischen Geschlecht ḥanbalitischer Rechtsgelehrter und wurde selbst auch einer. Er war ein Universalgelehrter und ein selbstsicherer Mensch, der sagte, was er meinte – weshalb er öfters ins Gefängnis kam. Schiiten, Sufis und Theologen (mutakallimūn) verabscheute er.
Ibn Taimīya ist durch seine energischen Aufforderungen zum Dschihad bekannt geworden—auch wenn der Herrscher diesen nicht so richtig führen wollte. Das kann man auf Grund seines Lebenslaufs schon verstehen. Als fünfjähriges Kind hatte er mit seiner Familie vor den Mongolen aus Harrān in Nord-Syrien (Carrhæ; heute in der Provinz Şanlıurfa, TR) nach Damaskus fliehen müssen. Zu seiner Zeit besetzten die Mongolen also den Irak und Nordsyrien; sie fielen aber auch wiederholt über Mittel-­ und Südsyrien her. Der Mamlukensultan, der im fernen Kairo residierte, hatte nicht immer Lust militärisch gegen sie anzutreten; Ibn Taimīya bestand aber lautstark darauf.
Eine Komplikation war, dass die Mongolen, die sich überall der Kultur der Eroberten anpassten, zum Islam konvertiert waren, aber zur gleichen Zeit noch etliche mongolische Gewohnheiten und sogar mongolische Gesetze beibehielten. In einer fatwā erklärte Ibn Taimīya deshalb, dass die Mongolen keine Muslime seien und deshalb bekämpft werden müssten. „Jede Gruppe Muslime, die das islamische Gesetz übertritt …, muss bekämpft werden, auch wenn sie weiterhin das Glaubensbekenntnis ausspricht.“ Diese Auffassung wurde im 20. Jh. von Saiyid Qutb übernommen und hat moderne Dschihadisten stark inspiriert.

      • Tickte Ibn Taimīya eigentlich richtig? Der Reisende Ibn Battūta, der um 1300 Damaskus besuchte aber Ibn Taymīya nicht persönlich traf, behauptete, „Ibn Taimīya habe einen Vogel“ (shay’ fī ‘aqlihi; →Little, Screw loose). Allzu geistesgestört kann er aber nicht gewesen sein. Immerhin hat er ein imposantes Werk hinterlassen, Gefängnisse überlebt und erfolgreich öffentliche Ämter wahrgenommen. Monoman war er schon, und tatsächlich, Gefängnisaufenthalte machen einen Menschen auch nicht geistig gesunder. Ibn Battūtas Aussage drückt vielleicht aus, wie sehr Ibn Taimīya damals als Außenseiter und Exzentriker wahrgenommen wurde. Nach seinem Tod hatte er im Mamlukenreich ein bescheidenes aber stetiges Publikum.

.
Dschihad später
Um 1500 eroberte das türkische Osmanenreich die arabische Welt; Teile Südosteuropas waren schon zuvor erobert worden. Nach Jahrhunderten der Ruhe fanden jetzt wieder mal „islamische” Eroberungen statt. Diejenigen in der arabischen Welt können die Osmanen nicht als Dschihad verkauft haben; das betraf ja Mitmuslime. Jene in Europa liefen nur zum Teil unter dem Titel Dschihad. Das wichtigere Wort bei den Türken war gaza, arabisch ghazwa, „Kriegszug, raid, excursion into foreign territory“, vgl. gazi, „Kämpfer”. Die Kriegszüge bildeten eine Fortsetzung der Aktivitäten, die seit Jahrhunderten an der syrisch-römischen Grenze stattgefunden hatten (Kafadar 79–80). Dschihad wurde zu der Zeit vielmehr als Verteidigungskrieg aufgefasst. Ab 1700 wurde das Osmanenreich allmählich schwächer und bildete keine Bedrohung mehr für Mittel- und Westeuropa.
Im 19. Jahrhundert wurden die Widerstandskämpfe gegen die Kolonialmächte deutlich als Dschihad geführt (Westsumatra 1821–37, Java 1825–30, Algerien 1839–47, Indien 1857, Sudan 1884, Aceh 1873-1903 u.a.)
Laut alliierter Propaganda habe Deutschland 1914 seine türkischen Verbündeten dazu angespornt den Ersten Weltkrieg zum Dschihad zu erklären, damit die türkischen Soldaten besser kämpfen („Holy War Made in Germany“). Dies wurde von deutscher Seite empört geleugnet. Wie es wirklich war, ist, glaube ich, immer noch nicht ganz geklärt. Jedenfalls war der Erste Weltkrieg der letzte Dschihad. Danach hat es kein sunnitisches islamisches Staatsoberhaupt mehr gegeben, das einen hätte ausrufen können.
Generell kann man sagen, dass der Dschihad jahrhundertelang in der islamischen Welt kaum ein Thema war. Er erstand im 19. Jahrhundert auf und geriet auch in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Mode, allerdings hauptsachlich als Gesprächsthema. Nur terroristische Gruppierungen nennen ihre Angriffe Dschihad; allerdings mit zweifelhafter Legitimität, denn Dschihad setzt die Existenz eines islamischen Staats und eines Kalifen voraus. Die Schiiten in Iran haben den Dschihad erst kurz vor der islamischen Revolution für möglich erklärt; Khomeini hat ihn im 1. Golfkrieg auch ausgeführt.
.
Ist der Islam kriegerisch?
Die Frage ist hirnrissig, denn „den“ Islam gibt es nicht, und Abstrakta führen keine Kriege. Aber weil sie in den heutigen Debatten oft in dieser Form gestellt wird, hier mal ein kurzer Überblick der vom arabischen bzw. islamischen Gebiet ausgegangenen Aggression, sei es Dschihad oder nicht. Innerislamische Kriege und Konflikte werden hier nicht aufgezählt.

Offensiv:
– Arabische Eroberungen, ± 632 – 750.
– Türkische Eroberungen in Klein-Asien, 1068 – 1453.
– Türkische Eroberungen in Europa, ± 1385 – 1700.
– Korsaren. Höhepunkt 17. Jh.: Nordafrikanische Piraten plünderten oder erpressten europäische Handelsschiffe im Auftrag ihrer Regierungen.
– Der 1. Weltkrieg, ein erklärter Dschihad. Das Osmanische Reich kämpfte an deutsch-österreichischer Seite.
– Islamistischer Terrorismus, ± 1990 — .

Defensiv:
– Widerstand gegen die Kreuzfahrer, ± 1140–1300.
– Widerstand gegen koloniale Eroberer, ± 1830–1962.
– Widerstand gegen die UdSSR in Afghanistan, ± 1979–1992.
– Widerstand der Palästinenser gegen Israel, intifāda, ± 1970— .

Von Indien und Pakistan weiß ich zu wenig. Bemerkenswert ist, dass der Islam im großen Indonesien von Händlern, nicht von Soldaten verbreitet worden ist.
Bestimmt habe ich noch etwas vergessen, aber offensichtlich war die Kriegslüsternheit in den islamischen Teilen der Welt nicht größer als anderswo. Auch unter einander haben Muslime sich genau so bekämpft wie andere Menschen. Kein Wunder auch; es sind ja Menschen! Behauptungen, „der“ Islam sei besonders kriegslüstern, oder im Gegenteil der Inbegriff der Friedfertigkeit, sind unsinnige Propagandasprüche, die keine Debatte wert sind.

.

Saiyid Qutb
Saiyid Qutb (1906–1966) war der Star des ägyptischen Salafismus und das große Vorbild für viele militante Muslime unserer Zeit. Er studierte am Dār al-‘ulūm, der pädagogischen Hochschule in Kairo, an der Volksschullehrer ausgebildet wurden. Er wurde Beamter im Erziehungsministerium, war literarisch aktiv als Kritiker, aber schrieb auch den (sehr verklemmten) Liebesroman Ashwāk. Anfangs war er keineswegs anti-westlich, sondern versuchte Elemente aus Christentum und Marxismus mit dem Islam zu versöhnen. Ein ihm aufgezwungener Amerika-Aufenthalt ängstigte ihn sehr und bewirkte bei ihm den Durchbruch „antiwestlicher“ Gefühle. Er wurde Muslimbruder und befürwortete einen islamischen Staat, in dem die Scharia das einzige Recht sein sollte und die Souveränität nicht etwa bei dem Volk, sondern bei Gott liegen sollte. Wer dessen Vertreter auf Erden sein würde, bleibt unklar. Mit Ibn Taimīya hatte Qutb gemeinsam, dass auch er im Gefängnis einen 30-bändigen Korankommentar schrieb (Fī zilāl al-qur’ān; Im Schatten des Korans); mit Hasan al­-Bannā, dem Gründer der Muslim Brüder, dass er als Grundschullehrer ausgebildet war und, dank der ägyptischen Geheimpolizei, als Märtyrer starb. Er übernahm Ibn Taimīyas Auffassung vom Dschihad.

BIBLIOGRAPHIE

Generell
– Albrecht Noth, Heiliger Krieg und Heiliger Kampf in Islam und Christentum, Bonn (Röhrscheid), 1966.
– Émile Tyan, ‘Djihād,’ in EI2.
– [mehrere Autoren], ‘Ḥarb,’ in EI2.
– Ruven Firestone, Jihād. The Origin of Holy War in Islam, New York 1999.
– David Cook, Understanding Jihad, Berkeley/Los Angeles/London 2005.

Kampf und Krieg im Koran
– Patricia Crone, „War,“ in EQ.
– Ella Landau­-Tasseron, „Jihad,“ in EQ.
– Chase F. Robinson, „Conquest,“ in EQ.
– Rizwi Faizer, „Expeditions and battles,“ in EQ.

Ribāṭ­-Kämpfer und Märtyrer
– ʿAbdallāh ibn al­-Mubārak, Kitāb al­-ǧihād, Tunis 1972 u.a. [nicht übersetzt. Arabisch auch im Internet zu finden.]
– J. Chabbi, „Ribāṭ,“ in EI2.
– E. Kohlberg, „Shahīd,“ in EI2.
– W. Raven, „Martyrs,“ in EQ.
– M. Jarrar, „The martyrdom of passionate lovers. Holy war as a sacred wedding,“ in A. Neuwirth et al. (hrsg.), Myths, historical archetypes and symbolic figures in Arabic literature. Towards a new hermeneutic approach, Beirut 1999, S. 87–107.
– D. Talmon-Heller, „Muslim martyrdom and quest for martyrdom in the crusading period,“ in Al-Masaq. Islam and the Medieval Mediterranean, 14 (2002), S. 131–139.

Kreuzzüge
– Peter Thorau, Die Kreuzzüge, München 20042.
– Nikolas Jaspert, Die Kreuzzüge, Darmstadt 20042.
– Caroline Hillenbrand, The Crusades. Islamic Perspectives, Edinburgh 1999. [Das beste Buch zu den Kreuzzügen aus islamischer Sicht.]
– [Usāma ibn Munqiḏ, Kitāb al­-iʿtibār:] Die Erlebnisse des syrischen Ritters Usāma ibn Munqiḏ. Unterhaltsames und Belehrendes aus der Zeit der Kreuzzüge, übers. Holger Preißler, Leipzig/Weimar 1981, oder Usâma ibn Munqidh, Ein Leben im Kampf gegen Kreuzritterheere, übers. G. Rotter, Tübingen/Basel 1978 [Ich weiß nicht, welche Übersetzung besser ist.] .

Ibn Taymīya
– H. Laoust, „Ibn Taymīya,“ in EI2.
– D. P. Little, „Did Ibn Taimyya have a screw loose?“ Studia Islamica 41 (1975), S. 93-111.

Anfang Neuzeit
– Cemal Kafadar, Between two worlds. The construction of the Ottoman State, Berkeley/Los Angeles 1996.
– R. Peters, Islam and Colonialism. The doctrine of Jihad in Modern History, Amsterdam 1979.

1. Weltkrieg
– Stefan Buchen, Kaiser Wilhelms heiliger Krieg. Deutsche erfanden den weltweiten Jihad. TV Sendung 12.Mai 2005.
– Peter Heine, „C. Snouck Hurgronje versus C. H. Becker. Ein Beitrag zur Geschichte der angewandten Orientalistik,“ Die Welt des Islams 23 (1984), S. 378–387.
– Wolfgang Schwanitz, „Djihad ‘Made in Germany“: Der Streit um den Heiligen Krieg 1914–1915,“ in Sozial. Geschichte. Zeitschrift für historische Analyse des 20. und 21. Jahrhunderts , 18 (2003), S. 7–34. [Der Autor scheint etwas einseitig.]
– Wolfgang Schwanitz, Die Berliner Djihadisierung des Islam. Wie Max von Oppenheim die islamische Revolution schürte, KAS Auslandinformationen 10/2004.
– C. Snouck Hurgronje, The Holy War, Made in Germany, London/New York 1915.

Sayyid Quṭb und später
– J. J. G. Jansen, „Sayyid Ḳuṭb,“ in EI2.
– Sabine Damir-Geilsdorf, Herrschaft und Gesellschaft. Der islamistische Wegbereiter Saiyyd Quṭb und seine Rezeption, Würzburg 2003.
– Gilles Kepel, Der Prophet und der Pharao, München 1995.
– Gilles Kepel, Das Schwarzbuch des Dschihad. Aufstieg und Niedergang des Islamismus, München 2002.

Diakritische Zeichen: ǧihād, ǧāhada, muǧāhid, ribāṭ, šahīd, šuhadāʾ, Muwaṭṭaʾ, Ṣaḥīḥ, Īlġāzī, Ṣalāḥ ad-Dīn al-Ayyūbī, Rašīd Riḍā, Quṭb, Ḥarrān, Ibn Baṭṭūṭa, šay’ fī ‘aqlihi, ġazwa, Ašwāk, Fī ẓilāl al-qurʾān, Ḥasan al­-Bannā, intifāḍa.

Zurück zum Inhalt

Moderne Kreuzfahrer

Manche Muslime leiden rückwirkend unter den Traumata und Nachwirkungen der Kreuzzüge, seit diese ab 1865 im Osmanischen Reich durch französische und türkische Geschichtsbücher wieder bekannt wurden.1 Vor allem der Besuch des deutschen Kaisers in Palästina (1898) hat zu ihrer Bekanntheit beigetragen. Ab den Zwanzigern haben die Muslimbrüder die Kreuzzüge bewusst in ihrer antikolonialen Propaganda eingesetzt. Die Gründung des Staates Israel war ein gefundenes Fressen und verstärkte das Motiv noch mal: abermals wurde Palästina von Europäern besetzt! „Zionisten und Kreuzfahrer“ werden heutzutage in islamistischer Propaganda oft in einem Atemzug erwähnt. Die historischen Kreuzzüge waren jedoch stark antisemitisch inspiriert und kosteten vielen Juden das Leben.

Der erste Kreuzfahrer der Neuzeit war in der Tat nicht George W. Bush, sondern der deutsche Kaiser Wilhelm II. Am 31. Oktober (Reformationstag!) 1898 ritt der Kaiser in einem selbst erfundenen Tropenanzug2 in die Heilige Stadt hinein, u.a. um dort die von ihm finanzierte Erlöserkirche einzuweihen. Ein fotogener Einzug mit erhobenen Fahnen war möglich geworden, indem man an einer Stelle die Stadtmauer niedergerissen hatte. Die Presse, nicht zuletzt durch die offizielle Propaganda und die Wandmalereien3 in der Kirche inspiriert, nannte den Kaiser einen „neuen Kreuzfahrer“. Der Dichter Wedekind spottete:

  • Mit Stolz erfüllst du Millionen Christen;
    Wie wird von nun an Golgatha sich brüsten,
    Das einst vernahm das letzte Wort vom Kreuz
    Und heute nun das erste deinerseits.4

In Damaskus besuchte Wilhelm das Grab Saladins, des islamischen Kriegshelden aus der Zeit der wirklichen Kreuzzüge. Diesen „Ritter ohne Furcht und Tadel“ hob er in den Himmel in einer berühmt gewordenen Ansprache, in der er dem osmanischen Sultan und den damals 300 Millionen Muslimen seine bleibende Hilfe versprach. Es war vor allem diese Publizität, die Saladin und durch ihn die Kreuzzüge in das arabische „Gedächtnis“ zurückbrachte. Ein protestantischer Kreuzfahrer lobte also den früheren islamischen Feind und versprach Muslimen gegen ihre christlichen Widersacher beizustehen. Noch Fragen?

ANMERKUNGEN
1. Carole Hillenbrand, The Crusades: Islamic Perspectives, Edinburgh 2006 (2. Aufl.), 592
2. Tropenkostüme waren ein typisches Outfit der Kolonialherrscher. Ende Oktober ist es in Jerusalem ungefähr so warm wie in Berlin im Sommer. Spezielle Bekleidung erübrigt sich.
3. Diese sind 1970–71 bei einer Restaurierung vernichtet worden. Aus Scham? Ich habe keine Fotos finden können.
4. Simplizissimus, Palästina Sondernummer 1898. Vollständiger Text des Gedichts hier. Der Dichter musste schnell in die Schweiz ausweichen und landete nach Rückkehr doch noch in einem deutschen Gefängnis.

Zurück zum Inhalt