Mohammeds Katze Made in China?

Bekannt ist eine obskure, sehr späte aber rührende Geschichte, die gerne erzählt wird um Mohammeds Liebe für seine Katze Mu‘izza und für Katzen im Allgemeinen zu illustrieren.:

  • Eines Tages wollte der Prophet aufstehen zum Gebet, aber die Katze lag schlafend auf dem Ärmel seines Gewandes. Um das Tier nicht zu wecken schnitt er den Ärmel ab und erschien mit beschädigtem Gewand beim Gebet. Als er zurückkam aus der Moschee dankte Mu‘izza ihm, indem sie sich verneigte.

Für diese Anekdote fand ich nur zwei Quellen, die beide keine sind: Wikipedia und ein Buch der Katzenliebenden Orientalistin Annemarie Schimmel.1 Obwohl sie eine Gelehrte war, gibt sie auch keine wirkliche Quelle. Kurz gesagt, es ist unbekannt, woher die Geschichte stammt.

Die Erzahlung gibt es aber auch in ganz anderer Besetzung. Nach dem chinesischen Historiker Bān Gù (32–92) versuchte der Han-Kaiser Āi dì (reg. 7–1 v.Chr.) einmal aufzustehen, als sein Geliebter auf dem Ärmel seines Gewandes eingeschlafen war. Um ihn nicht zu wecken schnitt er seinen Ärmel ab und erschien mit beschädigtem Gewand in der Öffentlichkeit. Seine Hofdiener übernahmen darauf diese Tracht um die Liebesbeziehung zu feiern.

Patrick Huang in London hat mir den chinesischen Originaltext geschickt. Ich kann ihn selbst nicht lesen, aber ich drucke ihn hier ab für diejenigen, die es können.2 Huang merkt an, dass das Hàn Shū 漢書, die Schrift des Bān Gù 班固, in dem die Geschichte vorkommt, ein großes historisches Werk mit offiziellem Status ist, das sich ausschließlich mit China befasst. Obwohl es auch in Korea, Japan und Vietnam gelesen wurde, hatte es dem „Westen“ nichts zu bieten und wird wohl nicht in die islamische Welt gebracht worden sein. Die Geschichte dieser homosexuellen Liebe und des Ärmels ist Huang zufolge in der chinesischen Überlieferung mehrmals überliefert und sogar sprichwörtlich geworden.

Von der Flöte oder dem Rad kann man sich vorstellen, dass sie mehrmals an verschiedenen Orten in der Welt erfunden wurden. Auch gibt es Motive in der Mythologie und in Volksmärchen, die universell erscheinen. Aber eine solch spezifische Erzählung wird nur einmal erfunden und macht danach eine Reise durch die Kulturen. Die chinesische Erzählung ist mindestens acht Jahrhunderte älter als die islamische; wahrscheinlich noch viel mehr. Wie aus dem Kaiser ein Prophet und aus seinem Freund eine Katze wurde, bleibt unklar.

Noch komplizierter wird es durch den Hinweis von Patrick Huang auf ein undatierbares japanisches(!) Bild, das eine Frau zeigt, die die Kante ihres Kimonos abschneidet, um eine schlafende Katze nicht zu wecken.3 Das Bild erwähnt ein Gedicht von Ki no Tsurayuki 紀 貫 之, einem Japanischen Dichter des 9. Jahrhunderts, in dessen Werk das Motiv jedoch nicht vorkommt. Der Verweis scheint apokryphisch und das Bild frühneuzeitlich zu sein.

Wie das Motiv durch die Welt gereist ist bleibt schleierhaft.

ANMERKUNGEN
1. Wikipedia und Annemarie Schimmel, Die orientalische Katze. Geschichten, Gedichte, Sprüche, Lieder und Weisheiten, München [1989], S. 11. Weder die Wikipedia noch Frau Schimmel bietet einen brauchbaren Quellennachweis.
2. 賢傳漏在殿下,為人美麗自喜,哀帝望見,說其儀貌,識而問之,曰:「是舍人董賢邪?」因引上與語,拜為黃門郎,繇是始幸。問及其父為雲中侯,即日徵為霸陵令,遷光祿大夫。賢寵愛日甚,為駙馬都尉侍中,出則參乘,入御左右,旬月間賞賜絫鉅萬,貴震朝廷。常與上臥起。##嘗晝寢,偏藉上袖,上欲起,賢未覺,不欲動賢,乃斷袖而起##。其恩愛至此。Es ist der biografische Teil zu Dong Xian 董賢, der Freund des Kaisers Āi dì 哀帝. Der Satz ab ## handelt vom Abschneiden des Ärmels.
3. https://twitter.com/aymro/status/989647167844335618?lang=en

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Die Franzosen und die Pest in Ägypten (1798)

1798 besetzten die Franzosen Ägypten, wo sie drei Jahre lang blieben. Ein lokaler Historiker, ‘Abd al-Raḥmān al-Djabartī (1753-1825), führte während der ersten Monate der Besatzung ein Tagebuch. Darin ist unter anderem über die Pest zu lesen. Die Franzosen hatten eine panische Angst vor der Pest, die sich ihrer Meinung nach durch Miasmen ausbreitete: verfaulte, feuchte Luft und die Ausdünstungen von Kranken und Leichen. Sie ergriffen drastische Maßnahmen, von denen eine die Quarantäne war. Die verfaulte Luft versuchten sie durch das Verbrennen von Kräutern und Weihrauch zu verbessern. Pestärzte trugen eine lange spitze Nase, an deren Ende Duftstoffe angebracht waren und liefen manchmal mit einer Art Räuchergefäß herum.
Die Mitteilung von Al-Djabartī darüber, wie die Franzosen mit ihren Toten umgingen, ist fake news. Die Franzosen waren Besatzer und wurden von den Ägyptern gehasst.
Drei nicht zusammenhängende Fragmente aus dem Tagebuch:

„Später wurde klar, dass dieser Bishli mehr als vierzig Tage zuvor mit der Korrespondenz des Wesirs an ‘Ali Bey […] angekommen war, aber die Franzosen hatten ihn mit den Passagieren auf dem Schiff in Alexandria isoliert, aus Angst, die Pest hätte sie infiziert. Nach vierzig Tagen ließen sie sie von Bord gehen und gaben ihnen die Erlaubnis zu reisen, nachdem sie stark unter der Haft und der Enge gelitten hatten, wie auch unter dem Rauch, mit denen sie im Laderaum, d.h. in dem Bauch des Schiffes, desinfiziert wurden. Dazu kamen noch die Verteuerung und so weiter.“
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„An diesem Tag sagten sie den Menschen, dass sie ihre Toten nicht mehr auf Friedhöfen in der Nähe von Wohnhäusern begraben sollten, wie zum Beispiel auf den Friedhöfen von al-Azbakīya und al-Ruway’ī, sondern nur auf weit entfernten Friedhöfen. Diejenigen, die kein Grab auf dem Friedhof hatten, sollten ihre Toten in den Gräbern der Mamluken bestatten. Und wenn sie jemanden beerdigten, sollten sie die Tiefe der Gräber vergrößern. Außerdem befahlen sie den Menschen, ihre Kleidung, Möbel und Bettwäsche mehrere Tage auf den Dächern aufzuhängen und ihre Häuser auszuräuchern, um den Fäulnisgeruch zu beseitigen. All dies, wie sie behaupteten, aus Angst vor dem Geruch und der Ansteckung durch die Pest. [Die Franzosen] glauben, die Fäulnis sei in den Tiefen der Erde gefangen.. Wenn der Winter einsetzt und die Tiefen der Erde durch die Nilflut, den Regen und die Feuchtigkeit kalt werden, kommt das, was in der Erde eingeschlossen ist, mit seinen Verwesungsdämpfen heraus und lässt die Luft verrotten, wodurch eine Epidemie und die Pest entstehen.
Was [die Franzosen] selbst betrifft, so ist es bei ihnen Brauch, ihre Toten nicht zu begraben, sondern sie wie Hunde- und Tierkadaver auf Müllhaufen oder ins Meer zu werfen. Überdies sagten sie, dass sie informiert werden sollten, wenn jemand krank wurde. Dann würden sie eine bevollmächtigte Person schicken, um ihn zu untersuchen und herauszufinden, ob er die Pest hat oder nicht.”
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„An diesem Tag wurde in den Marktstraßen bekannt gegeben, dass Kleidung und Hausrat zwei Wochen lang in der Sonne aufgehängt werden sollten, und man wies die Scheichs der verschiedenen Viertel, Wohnstraßen und …(qlqāt?) an, diese Aktivität zu kontrollieren und zu inspizieren. Die Behörden ernannten für jede Straße eine Frau und zwei Männer, die die Häuser betreten und inspizieren sollten. Die Frau ging nach oben und informierte die beiden Männern beim Hinuntergehen, dass man die Kleider in der Sonne ausgebreitet hatte. [Die Familie] gab ihnen dann einige Münzen. Sie gingen erst, nachdem sie die Bewohner ernsthaft gewarnt und ihnen mitgeteilt hatten, dass in einigen Tagen auch eine Gruppe von Franzosen kommen würde, um die Häuser zu inspizieren. All dies wurde getan, um den Geruch der Pest aus ihren Kleidern zu vertreiben. Zu diesem Zweck schrieben sie Proklamationen aus, die sie wie üblich an die Wände anklebten.“

ثم تبين ان هذا البشلي حضر من مدة نيف واربعين يوما وبيده مكاتبات من الوزير خطابا لعلي بيك قابجي باشا الذي كان معينا بطلب المال والخزينة وحجزوه الفرنج في المركب في سكندرية مع الركاب خوفا من تعلق الطاعون بهم. فلما مضي عليهم اربعون يوما اخرجوهم واذنوهم في السفر بعد ان قاسوا الشدة من الحبس والضيق وثم الدخان الذي يبخروهم به من داخل العنبر وهو بطن المركب وزيادة على ذلك الغلا وغيره.

وفيه نبّهوا على الناس بالمنع من دفن الموتى بالترب القريبه من المساكن كتربة الازبكية والرويعي ولا يدفنون الا بالقرافات البعيدة والذي ليس له تربه بالقرافه يدفن ميته في ترب المماليك وإذا دفنوا [يبالغوا] في تسفيل الحفر، وامروا ايضا بنشر الثياب والامتعة والفرش بالاسطحه عدة ايام وتبخير البيوت بالبخورات المذهبة للعفونه كل ذلك خوفا من رائحة الطاعون بزعمهم وعدوه ويقولون ان العفونة تستجن باغوار الارض فاذا دخل الشتا وبردت الاغوار بسريان النيل والامطار والرطوبات خرج ما كان مستجنا بالارض بالابخره الفاسده فيتعفن الهوا ويفسد ويحدث الوبا والطاعون، واما طريقتهم فانهم لا يدفنون موتاهم بل يرمونهم علي الكيمان مثل رمم الكلاب والبهايم او يلقونهم في البحر ومما قالوا ايضا: انه اذا مرض مريض يخبروهم عنه فيرسلون من جهتهم امينا للكشف عليه ان كان بالطاعون او لا ثم يرون رايهم فيه بعد ذلك.

وفي ذلك اليوم نودي في الاسواق بنشر الثياب والامتعة خمسة عشر يوما وقيدوا على مشايخ الاخطاط والحارات والقلقات بالفحص والتفتيش فعينوا لكل حارة امرأة ورجلين يدخلون البيوت للكشف عن ذلك فتطلع المرأة الى فوق وتنزل فتخبرهم بانهم ناشرين ثيابهم ويعطوهم بعض الدراهم ويذهبوا بعد ان يقرطوا على اصحاب الدار ويخبروهم ان بعد ايام ياتون جماعة الفرنج ويكشفوا ايضا، وكل ذلك حتى تذهب من الثياب رائحة الطاعون، وكتبوا يذلك مناشير ولصقوها بحيطان الاسواق على عادتهم في ذلك.

Quelle: Al-Jabartī’s Chronicle of the First Seven Months of the French Occupation of Egypt. Muḥarram – Rajab 1213|15 June – December 1798, (تاريخ مدة الفرنسيس بمصر), Hrsg. und Übers. S. Moreh, Leiden 1975, 75–6, 82, 91  ٤٩، ٥٥-٥٦ ٦٤-٦٥.

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Alexander doch kein Bücherdieb

AlexIlias.jpg

🇳🇱 Während meines Italienurlaubs sah ich im Palazzo Te in Mantua auf einem Fresko eine Abbildung von Alexander dem Großen mit einem Kästchen, das einige Buchbände enthielt. Sie illustriert einen Passus in Plutarchs Alexanderbiografie:

  • Als diejenigen, die die Schätze und Güter von Darius aufnahmen ihm ein Kästchen brachten und sagten, dies sei das Allerkostbarste, fragte er seine Freunde, welche Kostbarkeit darin am besten aufbewahrt werden könnte. Als viele unterschiedliche Antworte kamen, sagte er selbst, er wolle die Ilias da hineinlegen um sie gut zu bewachen. 1

Alexander hat den persischen König Darius III (reg. 336–330 v.Chr.) in Etappen geschlagen, wobei er immer wieder reichlich Beute machte. Homers Ilias war ihm ein wichtiges Buch; er stellte sich ja gerne vor, er sei ein neuer Achilles.
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Könnte dies vielleicht mit der frühabbasidischen, eigentlich persischen Annahme zusammenhängen, dass Alexander alle Bücher von den Persern gestohlen habe, so dass sie später wieder aus dem griechischen ins Arabische zurückübersetzt werden mussten? Dazu hatte ich hier etwas geschrieben.
Warum war das Kästchen so kostbar? Vielleicht war es aus massivem Gold und mit Edelsteinen besetzt, aber es kann auch sein, dass vielmehr der Inhalt so kostbar war. Darius III hatte bekanntlich die alten persischen Zand Avesta-Texte herausgeben, übersetzen und kommentieren lassen. Sie bildeten den Mittelpunkt seiner Reichsideologie und wurden in seiner Schatzkammer aufbewahrt, die Alexander plünderte. Das Kästchen brachte er an sich, aber die persischen Bücher werden wohl das letzte gewesen sein, das ihn interessierte. Es ist gut denkbar, dass er die Bücher gleich wegwarf und ersetzte durch etwas, das ihm ein Schatz war: die Ilias, das wichtigste griechische Buch überhaupt. Und wenn es nicht wirklich so geschehen ist, ist es doch eine schöne Symbolik.
Das Thema kann noch etwas näheres Studium vertragen.

ANMERKUNG:
1. κιβωτίου δέ τινος αὐτῷ προσενεχθέντος, οὗ πολυτελέστερον οὐδὲν ἐφάνη τοῖς τὰ Δαρείου χρήματα καὶ τὰς ἀποσκευὰς παραλαμβάνουσιν, ἠρώτα τοὺς φίλους ὅ τι δοκοίη μάλιστα τῶν ἀξίων σπουδῆς εἰς αὐτὸ καταθέσθαι: πολλὰ δὲ πολλῶν λεγόντων αὐτὸς ἔφη τὴν Ἰλιάδα φρουρήσειν ἐνταῦθα καταθέμενος. (Plut. Alex. 26, 1–2)

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Ibn Khaldun bei Timur Lenk

🇳🇱 Ibn Khaldūn (Tunis 1332–Kairo 1406) ist einer der berühmtesten Araber der Welt. Er war ein Rechtsgelehrter der malikitischen Schule, aber seinen Ruhm verdankte er einem großen Geschichtswerk über Nordafrika, dem Kitāb al-‘Ibar, oder besser gesagt der Einführung dazu: der Muqaddima. Warum das Buch so berühmt geworden ist, erzähle ich gerne ein anderes Mal.
Er hat aber auch eine Autobiografie hinterlassen, eine Seltenheit in der damaligen Zeit. Die ist nicht mit modernen Werken der Gattung zu vergleichen. Der Verfasser bleibt an der Oberflache, bietet keinerlei Selbstkritik, aber dafür durchaus Eigenlob. Er gibt einen schönen Überblick über seinen Lebenslauf, über seine vielen Arbeitgeber allenthalben in Nordafrika und ab 1382 in Ägypten, über Menschen, die er kannte und über seine Funktionen als Richter, Hochschullehrer oder Berater; außerdem zitiert er ganze Ansprachen, die er gehalten hat. Es ist eine wichtige historische Quelle, aber in seine Seele lässt er den Leser nur selten blicken. Als er auf dem Weg nach Mekka in Ägypten eintraf, geschah es, dass ihm ein Amt angeboten wurde, so dass er dort blieb. Er setzte alles daran seine Familie aus Tunis herüberkommen zu lassen; als diese endlich unterwegs war, sank das Schiff in einem Sturm vor der Reede Alexandriens. Zu dieser Tragödie, die ihn sehr berührt haben muss, schrieb er nur zwei Zeilen: „Das Schiff ging unter mit Mann und Maus; groß war mein Schmerz und ich geriet ganz in Verwirrung. Der Sultan enthob mich meines Amtes und bot mir eine Ruhezeit an, so dass ich mich der Wissenschaft widmen konnte, sowohl im Unterricht wie in meiner Schreibarbeit.“1 Erst erheblich später trat er wieder eine Professur im malikitischen Recht an.

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Timurs Reich

Als Ibn Khaldūn auf die Siebzig zuging und sich aus allen seinen Ämtern zurückgezogen hatte, erlebte er noch etwas Besonderes. Die Mongolen waren nämlich in Syrien eingefallen, dessen Süden zu Ägypten gehörte, während der nordöstliche Teil vom kriegslüsternen und grausamen mongolischen Herrscher Tīmūr Lenk (1336–1405) beherrscht wurde.Die Mongolen fielen manchmal in Südsyrien ein; dann musste der Sultan militärisch aktiv werden. Ibn Taimiyya hatte schon vor einem Jahrhundert beklagt, dass die Sultane mit dem Dschihad gegen die Mongolen zu lasch waren, und auch als Tīmūr Aleppo bedrohte, unternahm Kairo anfangs nichts. Erst als Aleppo tatsächlich zerstört wurde und Tīmūr nach Damaskus vorstieß, wurde eine Armee aufgestellt. Sultan Faradsch (reg. 1399–1405) führte sie an und machte sich im November 1400 mit zahllosen Emiren und Soldaten auf den Weg. Wie gewohnt nahm er auch die Führer der vier Rechtsschulen mit. Ibn Khaldūn hatte lange die malikitische Rechtsschule in Kairo geleitet, aber war nicht mehr im Amt. Man bestand jedoch darauf, dass er mitkam; vielleicht weil er schon mal mit einem früheren Sultan in Syrien gewesen war. Als die Truppen sich aber Damaskus näherten, kam dem Sultan zu Ohren, dass zu Hause ein Komplott gegen ihn geschmiedet wurde. Er trat eilends den Rückweg an um es niederzuschlagen, wobei er viele Soldaten und die Rechtsgelehrten zurückließ.
Diese Situation war heikel für Ibn Khaldūn und seine Kollegen, aber vor allem für Damaskus, das jetzt nicht länger zu verteidigen war. Es wollte sich ergeben und sich loskaufen von Plünderung und Zerstörung, wie es damals üblich war. Tīmūr bot an die Stadt zu verschonen; einen neuen Statthalter hielt er auch schon bereit. Ibn Khaldūn konnte jetzt für die Damaszener eine Rolle als Ratgeber und als Diplomat im Kontakt mit Tīmūr spielen. Auch über diese Episode kann man einiges in der Autobiografie lesen.
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Vielleicht bauscht Ibn Khaldūn hier seine eigene Rolle etwas auf. „Richter Burhān ad-Dīn erzählte mir, dass er [= Tīmūr] nach mir und auch danach, ob ich mit den ägyptischen Truppen abgereist oder noch in der Stadt sei, gefragt hatte.“3 Einer anderen Quelle zufolge war es eher ein Zufall, dass er bei Tīmūr landete. Wie auch immer, eines Tages wurde der betagte Gelehrte in einem Korb über die Stadtmauer heruntergelassen und von Tīmūrs Männern abgeholt.
Der Empfang im mongolischen Lager war freundlich, das Gespräch fand mit Hilfe eines Dolmetschers statt. Wie immer trug Ibn Khaldūn maghrebinische Kleidung und ließ sich vorstellen als maghrebinischer, maliktischer Rechtsgelehrter, wodurch er vielleicht betonen wollte, dass er nicht zu Ägypten gehörte, das ja Tīmūrs Feind war. Der Herrscher befragte ihn gleich weiter über den Maghreb und wollte alles wissen, über die Lage bestimmter Orte wie Tanger und Ceuta. Mit einer kurzen mündlichen Beschreibung gab er sich nicht zufrieden; er verlangte einen ausführlichen Bericht über ganz Nordwestafrika. Hier wird uns noch mal ein Einblick in die Seele des Gelehrten vergönnt: ‘Die Angst hatte mich gepackt, wegen der Katastrophe, die dem shafi‘itischen Oberrichter Sadr al-Dīn al-Munāwī widerfahren war. Die Verfolger der ägyptischen Armee hatten ihn in Shahqab verhaftet und mitgenommen. Er wurde bei ihnen gefangen gehalten und es wurde ein Lösegeld verlangt, was mich beängstigte …“4
Kein Wunder also, dass er sich sofort ans Schreiben setzte: Es wurden zwölf Hefte (240 Seiten) voller geographischer und historischer Informationen zu Nordwestafrika, wie Tīmūr sie haben wollte. Als es fertig war, wurde es ins Mongolische übersetzt.
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Fügsam lieferte der Gelehrte also die Informationen; des Weiteren versuchte er seine Angst durch Schmeichelei zu bändigen: „Gott stehe Ihnen bei: Seit dreißig oder vierzig Jahren habe ich mich danach gesehnt, Ihnen zu begegnen, […] weil Sie der Sultan des Universums und der Herrscher der Welt sind; ich glaube nicht, das von Adam bis heute ein Herrscher aufgestanden ist wie Sie!“6 Und dies, so betonte er, sage er nicht von ungefähr, denn als Gelehrter sei er sehr wohl im Stande seine Größe mit der von persischen und römischen Kaisern oder mit der von Alexander dem Großen und Nebukadnezar zu vergleichen, und Tīmūr sei bestimmt der größte. Dem fiel auf einmal ein, dass er mütterlicherseits mit Nebukadnezar verwandt sei, was Ibn Khaldūn dem Dolmetscher gegenüber spontan bejahte: „Noch ein Grund, weshalb ich mich sehnte, ihn zu treffen.“7 Ein anderer triftiger Grund um sich nach Tīmūr zu sehnen war, so Ibn Khaldūn, dass Astrologen die Erscheinung eines mächtigen Herrschers vorhergesagt hatten. Zwar wurde dies meist mit einem ganz anderen Herrscher in Verbindung gebracht, aber Ibn Khaldūn nahm sich die Freiheit diese Weissagung auf Tīmūr anzuwenden.
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Schmeicheln und schleimen gehörte damals einfach zum Leben. Ibn Khaldūn, der oft genug in Ungnade gefallen war, wird es bei seinen Brotherren getan haben wie jeder anderer auch, und jetzt setzte er vor Angst noch einen darauf.
War er ein Verräter, kollaborierte er mit dem Feind, indem er ihm die strategisch wichtige Information über Nordafrika zur Verfügung stellte? In der Tat. Aber konnte er anders, in der heiklen Lage in der er sich befand, mutterseelenallein und wohl wissend, wie salopp Tīmūr mit Menschenleben umging? Für ihn würde ja niemand Lösegeld bezahlen.
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Nach fünfunddreißig Tagen konnte Ibn Khaldūn sich am 10. Januar 1401 losreißen und ungehindert nach Kairo zurückkehren—zuvor hatte er freilich noch die Einnahme und Plünderung von Damaskus durch die Mongolen erlebt. Seine Scham über den Bericht, den er geschrieben hatte, überwand er zu Hause, indem er dem Sultan von Marokko ein Gegenstück sandte: einen Bericht über Tīmūr und die Mongolen.
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Offensichtlich hegte Tīmūr Sympathie für Ibn Khaldūn. Eines Tages wollte er ein Maultier von ihm kaufen. Ibn Khaldūn antwortete: „Menschen wie wir verkaufen einander doch kein Maultier?“ und schenkte es ihm—was sonst hätte er machen können? Später bekam er aber den Geldwert für das Tier durch eine Zwischenperson ausgehändigt, was sehr korrekt war, aber über das Verhältnis zwischen beiden Männern zu denken gibt: War es doch herzlich? Ibn Khaldūn gab sich Mühe diese Geldsendung gegenüber seinem Sultan zu verantworten; er wollte ja in Ägypten nicht durch seinen Kontakt mit Tīmūr kompromittiert werden.8

ANMERKUNGEN
1. Ibn Ḫaldūn, Ta‘rīf 320: فعصف بهم الرياح وغرق المركب بمن فيه وما فيه وذهب الموجرد والمولود فعظم الأسف واختلط الفكر. وأعفاني السلطان من هذه الوظيفة وأراحني وفرغت لشأني من الاشتغال بالعلم تدريبًا وتأليفًا.
2. Auf Englisch auch bekannt als Tamerlane. Man könnte ihn besser Tamerlame nennen, denn lenk ist Persisch für lahm. Sein rechtes Bein konnte er kaum gebrauchen; über längere Strecken wurde er getragen oder ritt er zu Pferd. Den Sowjetärzten zufolge, die 1941 seine Überreste untersuchten, litt er an Knochentuberkulose. Tīmūr selbst behauptete, es sei die Folge eines Pfeilschusses in sein Knie.
3. Ibn Ḫaldūn, Ta‘rīf 403: وأخبرني القاضي برهان الدين أنه سأل عني وهل سافرت مع عساكر مصر أو أقمت بالمدينة. Ibn ‘Arabšāh @
4. Ibn Ḫaldūn, Ta‘rīf 405–6: وقد غلبني الوجل بما وقع من نكبة قاضي القضاة الشافعية صدر الدين المناوي أسره التابعون لعسكر مصر بشحقب وردوه فحبس عندهم في طلب الفدية منه فأصابنا من ذلك وجل
5. Der arabische Text ist nicht erhalten. Es scheint noch eine osmanisch-türkische Übersetzung in Handschrift zu existieren.
6. Ibn Ḫaldūn, Ta‘rīf 407: أيدك الله لي اليوم ثلاثون أو أربعون سنة أتمنى لقاءك […] انك سلطان العالم وملك الدنيا وما أعتقد أنه ظهر في الخليقة مند آدم لهذا العهد ملك مثلك
7. Ibn Ḫaldūn, Ta‘rīf 408: وهذا مما يجعلني على تمني لقاءه
8. Ibn Ḫaldūn, Ta‘rīf 412, 414.

BIBLIOGRAFIE
–  ‘Abd-ar-Raḥmān Ibn-Ḫaldūn: Kitāb al-‘Ibar wa-dīwān al-mubtada’ wal-ḫabar fī ayyām al-‘arab wal-‘aǧam wal-barbar wa-man ‘āṣarahum min ḏawī as-sulṭān al-akbar, Erstausgabe von Étienne Quatremère, Prolégomènes d’Ebn-Khaldoun, texte arabe publié d’après les manuscrits de la Bibliothèque Impériale, 3 Bde., Paris 1858. Ausg. Ibrāhīm Šabbūḥ, 14 Bde., Tūnis 2006-2013. Andere Ausgabe: Beirut 2000-2001, auch online. [Dies ist das Hauptwerk, das aber auch die Muqaddima und eine Kurzfassung der Autobiographie (at-Ta‘rīf) enthält.]
– Ibn Ḫaldūn, Die Muqaddima, Betrachtungen zur Weltgeschichte. Übertragen und mit einer Einführung von Alma Giese unter Mitwirkung von Wolfhart Heinrichs, München 2011. Englisch: The Muqaddimah. An Introduction to History, Übers. Franz Rosenthal, 3 Bde., New York 1958, 1986, auch online.
– Ibn Ḫaldūn, at-Ta‘rīf bi-ibn Ḫaldūn wa-riḥlatihi ġarban wa-šarqan, Hg. Muḥammad ibn Tāwīt al-Tanǧī, Kairo 1951, 2003. Französische Übersetzung: Le Voyage d’Occident et d’Orient, Übers. Abdesselam Cheddadi, Paris 1980, 1995. [Die Autobiographie]

Sekundär:
– M. Talbi, Ibn Khaldūn, in EI2.
– Walter J. Fischel, Ibn Khaldūn and Tamerlane, Berkeley/Los Angeles 1952.

Diakritische Zeichen: Ibn Ḫaldūn, Faraǧ, Ṣadr al-Dīn, Šaḥqab

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Abd al-Malik als Gründer des Islams

🇳🇱 Am Anfang des Islams stehen der Prophet Mohammed und der Koran. Aber was für ein Islam war das? Der Koran wurde erst im Lauf des 7. Jahrhundert zum Buch und stand als solches nur Wenigen zur Verfügung. Die Sunna—also die überlieferte Handlungsweise—des Propheten wurde erst später ausgearbeitet; im 7. Jahrhundert war die wichtigste Sunna die der jeweiligen Kalifen. Die Scharia gab es auch noch nicht. Gab es schon Muslime? Man nannte sich meist „Gläubige“ (mu’minūn) und das Wort Islam als Religionsbezeichnung war noch nicht geläufig.
Der Islam war einfach noch nicht voll herausgebildet. Er brauchte Gestaltung und dazu hat der Umayyadenkalif ‘Abd al-Malik (reg. 685–705) vieles beigetragen—so viel sogar, dass man ihn als Gründer oder Zweitgründer des Islams auffassen kann.

  • Ein Umayyadenkalif als Gründer des Islams? Mancher Muslim wird das wütend bestreiten: die Umayyaden waren doch Mörder, Säufer, Usurpatoren und noch vieles mehr! Mag sein, aber ‘Abd al-Malik hat einen Islam gegründet und ihn der Öffentlichkeit präsentiert. Dass sein Islam abwich von dem Islamentwurf späterer Schriftgelehrten, dafür konnte er nichts.

Als ‘Abd al-Malik antrat, hatte er mit vielen Feinden zu kämpfen. Er hatte von seinem Vater zwar ein riesiges Reich geerbt, das ganz Persien und halb Ostrom umfasste, aber das Reich war marode. Der Ostteil wollte nie spuren und es war von Damaskus aus schwierig, ihn zu regieren, Schiiten und Kharidschiten rebellierten und anfangs musste der Herrscher noch ein anderes Kalifat vernichten: das von ‘Abdallāh ibn az-Zubair (reg. 680–992). Dieser residierte in Mekka; sein kompetenter Bruder Mus‘ab herrschte über große Teile des Iraks und Irans, während den Umayyaden manchmal nicht viel mehr blieb als Syrien und ihre Hauptstadt Damaskus. ‘Abdallāh und seinen Bruder zu vernichten gelang ‘Abd al-Malik 692: Beide wurden getötet, der Bürgerkrieg war beendet. Der Kalif muss erschrocken gewesen sein über die Kluft, die sich zwischen Syrien und Arabien aufgetan hatte. Jetzt kam es darauf an, die Einheit wiederherzustellen.

Geschichtsschreibung
Der nach dem Krieg wiedervereinte Staat brauchte eine allgemein akzeptierte Ideologie und einen Gründungsmythos, in dem Arabien eine Hauptrolle spielen sollte. Dazu war ‘Urwa ibn az-Zubair (643–712) sehr von Nutzen. Als ‘Abd al-Malik dessen Brüder ‘Abdallāh und Mus‘ab hatte töten lassen, eilte der viel jüngere ‘Urwa nach Damaskus um seine Haut zu retten und dem Umayyadenkalifen die Treue zu geloben. Das war ein gewagter Schritt, aber er war erfolgreich. Der Kalif, der bereits aus strategischen Gründen eine Staatstrauer für Mus‘ab ausgerufen hatte, verzichtete auf die Hinrichtung ‘Urwas und entschied, ihn lieber zu benutzen. ʿUrwa war der Intellektuelle der Familie, der nie militärisch aktiv gewesen war, sondern sich in Medina in Ruhe dem Studium der Hadith-Ü
berlieferungen, des Rechts und der Prophetenbiographie (sīra) gewidmet hatte. Der Kalif ließ ihn nach Medina zurückkehren und bat ihn, die wahre Geschichte des Islams für ihn niederzuschreiben.

Das tat ‘Urwa: Er schrieb ein ganze Reihe „Briefe“ (rasā’il) an den Kalifen und später noch an dessen Sohn al-Walīd. Diese Texte sind äußerst wichtig, denn sie enthalten den Kern der Prophetenbiographie und der frühen Geschichte der „koranischen Bewegung“—die seit ‘Abd al-Malik „Islam“ heißt. Spätere Autoren greifen fast alle auf ‘Urwas Texte zurück. Die sind kurz gefasst, denn fantastische Erzählungen mochte ‘Abd al-Malik nicht.
‘Urwa war nicht nur ein Sohn des vornehmen Prophetengefährten az-Zubair, sondern auch der Asmā’, der Tochter des ersten Kalifen Abū Bakr. Die Prophetenwitwe Aischa war seine Tante. Somit gehörte er väter- und mütterlicherseits zum frühen Verdienstadel. Seine Schriften „atmen Arabien“ und nehmen stark Partei für Abū Bakr und dessen Familie.
Vor ‘Abd al-Malik drohte die früheste „koranische Bewegung“ auseinanderzudriften. In Syrien war die Atmosphäre noch sehr römisch, man verkehrte mit Christen und das heilige Jerusalem war eine formidable Anwesenheit. Im Irak, der persisch beeinflussten Brutstätte des Widerstands gegen Damaskus, entstand gerade die Schia; hier ertönten auch die ersten Rufe nach der Sunna des Propheten und wuchs die Hadith-Literatur heran. ‘Abdallah ibn az-Zubair und seine Brüder fokussierten sich voll auf Arabien und profilierten sich als die treuesten Hüter des Gewohnheitsrechts von Mekka und Medina. Als solche wären sie vielleicht am ehesten zum Kalifat berechtigt gewesen. Durch ‘Urwas Werk wurde dem Erbe Arabiens und des frühen Verdienstadels wenigstens wieder der zentrale Platz in der offiziellen Ideologie gewährt.

Felsendom
Als der Bürgerkrieg noch wütete, ließ ‘Abd al-Malik auf dem ehemaligen Tempelberg in Jerusalem den Felsendom bauen, der 692 fertig wurde. In der Mitte befindet sich ein großer Felsbrocken, um den Pilger ihre Runden drehen konnten, wie in Mekka auch. Dabei sahen sie dann Inschriften, in denen einige deutliche Ansagen den Triumph des Islams verkünden, etwa: „Die Religion bei Gott ist der Islam.“ (Koran 3:19)
Warum hat der Kalif den Felsendom bauen lassen? Naheliegend ist, das Gebäude als Ansage an die Christen zu interpretieren. Christen bildeten ja den Großteil der Bevölkerung des Westreichs, und für sie war Jerusalem mit seiner alten Grabeskirche ein zentraler Ort. In der Kirche wurde das Heilige Kreuz aufbewahrt, das Kaiser Heraclius erst 630 in die Kirche zurückgebracht hatte, nachdem es von den Persern geraubt worden war. Der Felsendom war ein frischer Neubau, herausfordernd durch seine Lage und Schönheit und durch die Inschriften darauf und darin. Aus einer der Inschriften—Koran 4:171—wird klar, was über Jesus zu denken sei:

  • Christus Jesus, der Sohn der Maria, ist [nur] der Gesandte Gottes und dessen Wort, das er der Maria entboten hat, und ein Geist von ihm. Glaubt denn an Gott und seine Gesandten und sagt nicht: „Drei“! Hört damit auf, das ist besser für euch. Gott ist [nur] ein [einziger] Gott, gelobt sei er! Dass er ein Kind haben würde!

Jahrhunderten christlichen Gezänks über die Natur Christi sollte mit diesem und anderen Korantexten ein Ende gesetzt werden. Auch Mohammed wird in den Inschriften erwähnt; das war zuvor kaum je in der Öffentlichkeit getan worden.

‘Abd al-Malik hatte große Verdienste um das Reich. Er hat die Einheit wiederhergestellt, innere Feinde klein gehalten und den Kaiser in Konstantinopel in die Schranken gewiesen. Er hat Verwaltungsreformen und eine Münzreform durchgeführt, wobei er aus dem römischen solidus ausstieg—d.h. aus dem Euro der damaligen Zeit. Arabisch hat er zur Amtssprache gemacht. Das alles waren sehr wichtige Errungenschaften, aber nachhaltiger waren seine Förderung einer islamischen Identität und sein Anstoß zu einer islamischen Geschichtsschreibung.

Mit dem Abschied vom Christentum wurde der arabische Islam geboren. Allmählich verschwand immer mehr von dem jüdischen und christlichen Material (den isrā’īlīyāt), das anfangs die „Erzählungen“ und Genealogien, die Korankommentare und die Prophetenbiographie gefüllt hatte; es wurde eine deutliche „Entbibelung“ durchgeführt. Mekka, die Ka‘ba und Medina standen fortan im Mittelpunkt. Und der Prophet Muhammad wurde immer wichtiger, bis im achten Jahrhundert seine Sunna die der Kalifen verdrängte.

BIBLIOGRAFIE
– A. Görke und G. Schoeler, Die ältesten Berichte über das Leben Muḥammads. Das Korpus ‘Urwa ibn az-Zubair, Princeton 2008.  [‘Urwas Texte in deutscher Übersetzung gesammelt und analysiert]
– Chase Robinson, Abd al-Malik, Oxford 2005.

Diakritische Zeichen: ʿAbd al-Malik, Muṣʿab, ʿAbdallāh, ʿUrwa, ʿĀʾiša

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Al-Hakim: ein Verrückter auf dem Thron?

🇳🇱 In jedem politischen System landet schon mal ein Verrückter auf dem Thron. Nebukadnezar, Nero, Caligula, Iwan, Adolf, Bokassa und etliche andere—wie man weiß, passiert es auch heute noch. Aus dem arabischen Kulturkreis kann ich Ihnen den Kalifen al-Hākim (geb. 985, reg. 996-1021) anbieten, der aus seiner Hauptstadt Kairo heraus über ein Reich herrschte, das sich von Tunis bis in den Norden des heutigen Syriens erstreckte. Er gehörte zur Dynastie der Fātimiden, die schiitisch war nach ismailitischem Bekenntnis (die „Siebener-Schiiten”). Für sie hatte ein Kalif—oder ein Imam, wie sie ihn lieber nannten—absolute Macht und war so etwas wie ein Demiurg oder Messias.
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Dass al-Hākim geisteskrank war, meinte bereits Yahyā al-Antākī, ein christlicher Arzt und Historiker, der in Ägypten lebte, bis er dem Land 1014 entfloh. Er attestierte dem Kalifen Gehirnkrämpfe und Melancholie. Wie machte sich al-Hākims Geistesstörung bemerkbar? Er folgte seinem Vater auf dem Thron als er elf Jahre alt war. Mit fünfzehn wollte er nicht länger von seinem Vormund, dem Eunuchen Bargawān, gegängelt werden; er ließ ihn während eines gemeinsamen Spaziergangs ermorden. Das war die erste Äußerung seiner blutrünstigen Neigungen. Ein schönes Kind soll er eigenhändig getötet und ausgeweidet haben, einen Diener persönlich mit einem Hackbeil umgebracht haben, aber meistens überlies er dass Töten seinen Sklaven.
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Al-Hākim versuchte sein Reich in Ordnung zu bringen indem er Korruption und Machtmissbrauch am Hof und in den Verwaltungsorganen bekämpfte. Was anfangs vielleicht als eine gutgemeinte Säuberungsaktion erschien, erwies sich bald als ein Terrorregime. Der Kalif mochte Schnellverfahren und das Strafmaß war oft die Todesstrafe; dabei wurden Minister und hohe Beamte nicht verschont. Er hatte ja die absolute Macht, und jemand umbringen zu lassen war kinderleicht, wie er früh gelernt hatte. Während seiner Regierung sind unzählige Menschen, gerne auch aus der Elite, standrechtlich verurteilt und hingerichtet worden. Beim „Volk“ war er aber beliebt, und er war sogar bekannt für seine Zugänglichkeit und Gerechtigkeit.
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Mehr als die Hälfte der Einwohner Ägyptens zu jener Zeit waren Christen; Juden gab es ebenfalls. Die meisten Muslime waren Sunniten, während der Herrscher Schiit war. Weil viele Verwaltungsfunktionen in christlichen Händen waren, fielen seinen „Säuberungen“ viele Christen zum Opfer. Der Kalif ließ auch Kirchen, Klöster und gelegentlich eine Synagoge zerstören. Er enteignete die Besitztümer seiner Mutter und Schwester und ließ seinen Onkel Arsenios im Jahr 1010 sogar meucheln; der war der griechisch-orthodoxee Patriarch von Alexandrien und Jerusalem. Seine Mutter war nämlich eine Christin, und zwar eine griechisch-orthodoxe: orientiert an Konstantinopel — dem Feind! Es fanden erzwungene Bekehrungen zum Islam statt — obwohl der Koran das verbietet. Christen und Juden sollte erniedrigende, sie von den Muslimen absetzende Kleidung tragen, und sogar lächerlich große Unterscheidungsmerkmale im Badehaus. Spektakulär war die Zerstörung der Grabeskirche in Jerusalem 1009, die in Europa noch Jahrzehnte nachhallte und mit zum ersten Kreuzzug führte. Einige Jahre später war alles wieder anders: Zerstörte Kirchen durften wiederaufgebaut werden, manche sogar auf Staatskosten. Zwangsbekehrte Christen und Juden durften, falls sie das wünschten, zu ihrer alten Religion zurückkehren.
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Ab 1003 regnete es Dekrete (sigillāt), die die Sittlichkeit in Ägypten verbessern sollten. Als junger Mann hatte der Kalif sich noch gerne an den Volksfesten in Fustāt (Alt-Kairo) beteiligt. Die Christen, die dort wohnten, tranken gerne Wein und oft kam es zu Ausschreitungen. Es hatte ihm gefallen zuzuschauen, wenn Männer auf der Straße aneinander gerieten, sogar wenn das in eine blutige Schlacht zwischen Gruppen ausartete. Aber eines Tages meinte al-Hākim, dass die Unordnung und die Gewalt aus dem Ruder liefen. Per Dekret verbot er den Ausschank von Wein und die Teilnahme von Frauen am Nachtleben; sie sollten abends lieber zu Hause bleiben. Laut einem späteren Dekret sollten sie das auch tagsüber, es sei denn mit einer Sondergenehmigung, wenn es wirklich nötig war. Spazierfahrten auf dem Nil wurden verboten; später durften auch Männer nicht mehr abends auf die Straße: das ganze Nachtleben kam zum Erliegen. Wein und alles, was damit zu tun hatte, wie Krüge usw. wurden öffentlich vernichtet, Kneipen wurden zugemacht, Reben entwurzelt; sogar die Honigproduktion wurde gedrosselt, damit die Leute nicht in Honigwein Zuflucht suchen konnten. Musik, Schach und Ausritte in die Wüste wurden verboten, wie auch Erker an der Straße und sogar mulūḫīya, ein Gemüse, das Mu‘awiya, der bei den Schiiten so verhasste Rivale ‘Alīs, gerne gegessen hatte.
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Aber auch sunnitische Muslime wurden nicht verschont. Man machte ihnen klar, dass sie immer einer Irrlehre angehangen hatten, und sie wurden aufgefordert sich zu bekehren. Es wurden Kurse zum schiitischen Glauben gegeben und bald waren die Hörsäle zu klein, so viele Sunniten wollten dorthin, um ihren Job oder ihr Leben zu behalten. Mit allerlei Dekreten über Speisen und Details des Kultus wurden sie weiter belästigt. Erst in al-Hakims letzten Regierungsjahren, als der Kalif eher zur Mystik neigte, wurde aber der sunnitische Glaube wieder anerkannt, und fast sah es nun so aus, als wäre die Schia gar nicht mehr so wichtig.
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Wenn ein Dekret des Kalifen nicht befolgt wurde oder unausführbar war, wie etwa das Alkoholverbot, zog er es zurück und versuchte es später noch mal durchzusetzen. Oft genug aber wurden Dekrete auch „einfach so“ zurückgezogen, weil der Kalif auf andere Gedanken gekommen war. Er war tatsächlich bekannt für seine Launenhaftigkeit. Manch Untertan entschloss sich, wenn eine neue Anordnung in der Luft lag, eine Zeitlang aufs Land zu ziehen, wenn möglich in Besitz eines Schutzbriefs (amān).
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In seinen letzten Jahren wurde al-Hākim Asket. Er fühlte sich den Mystikern verwandt, trug vor lauter Bescheidenheit ein schlichtes, selten gewaschenes Gewand und machte oft nächtliche Ausritte auf einem Esel. Beim Volk wurde er noch beliebter, weil er viele Staatseigentümer verschenkte. Der stark verkleinerte Hof fragte sich inzwischen, ob der Herrscher überhaupt noch zurechnungsfähig sei. Der ließ unterdessen einen Propagandisten in seinem Palast wohnen, der dort an einem Buch arbeitete, in dem er die Göttlichkeit des Kalifen nachwies. Dieser hinderte ihn nicht daran.
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Im Februar 1021 unternahm der Kalif eines Abends wieder einen einsamen Ausritt auf seinem Esel, auf einem Hügel etwas außerhalb von Kairo. Diesmal kam er nicht zurück. Nach einigen Tagen wurden seine blutige Kleidung und der Esel gefunden. Anzunehmen ist, dass er ermordet worden war. Ein verschwundener Imam: eine in schiitischen Augen vertraute und schöne Vorstellung.

Nuance
Bis hierher habe ich das traditionelle Bild wiedergegeben, wie es beispielsweise Marius Canard in einem Artikel, der 1971 in der Encyclopaedia of Islam erschien, dargestellt hatte. Aber war der Kalif wirklich ein Geisteskranker? Wie so oft standen Gelehrte auf, die das Bild nuancierten, die neue Fakten entdeckten und alte als fake news entlarvten. Ein wenig schade ist das schon, denn es gibt ein enormes Bedürfnis nach markanten Fakten und Horrorgeschichten; aber die Wissenschaft ist streng. Meist erweist sich bei solchen Forschungen, dass die verrückten gar nicht so verrückt waren, oder wenigstens nicht ganz. Der babylonische König 
Nebukadnezar (reg. 605–562 v. Chr.) war dem Propheten Daniel 4:29–34 zufolge sieben Jahre lang geisteskrank, aber der Autor stand ihm feindselig gegenüber. Und vielleicht hat er ihn verwechselt mit König Nabonidus (reg. 556–539 v. Chr.), der als gestört galt und einige Jahre im arabischen Taima verbrachte — zur Kur vielleicht? Moderne Altphilologen haben längst nachgewiesen, dass „verrückte“ Kaiser wie Nero und Caligula zwar grausam und gewalttätig waren, aber nebenbei ganz vernünftige Dinge taten.
Auch al-Hākim ist Gegenstand solcher kritischen, nuancierenden Studien geworden, u.a. von Josef van Ess und vor allem Heinz Halm. Inzwischen erkennt man, dass viele Erzählungen über al-Hakim von Christen stammen, die unter ihm gelitten hatten, oder von Sunniten, die ihn im Nachhinein kaputtschreiben wollten, weil er Schiit war.
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Manche Gräueltaten z.B. können einfach gestrichen werden, wenn man bedenkt, dass die Autoren Christen waren und ihre „Klassiker“ kannten: So soll Al-Hākim Alt-Kairo (Fustāt) in Brand gesteckt haben und noch zwei Tage genüsslich vom Berg Muqattam aus auf die Flammen geschaut haben. Aber das ist natürlich ein narratives  recycling des großen Brandes von Rom, den Kaiser Nero befohlen haben soll. Ein Großbrand in Fustāt ist zu der fraglichen Zeit weder in Texten belegt noch archäologisch nachgewiesen.
Auch wird erzählt, der Kalif wusch sich sieben Jahre lang nicht, wohnte in einem unterirdischen Gewölbe, ließ seine Haare wachsen bis sie lang waren wie Löwenmähnen, und seine Fingernägel, bis sie Adlerklauen glichen. Dies hört sich an wie die Verrücktheit Nebukadnezars, wie sie Daniel beschrieben hatte. In den Augen christlicher Historiker eine schöne Parallele: Nebukadnezar musste wie ein Verrückter herumirren, weil er den Tempel in Jerusalem zerstört hatte; al-Hakim, weil er dort die Grabeskirche hatte abreißen lassen.
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Die berühmten bizarren Dekrete entsprachen bei näherer Betrachtung in weiten Teilen dem islamischen Recht. Auch in anderen Umgebungen wurden schon mal Weinfässer kaputt geschlagen oder Juden und Christen mit diskriminierenden Maßnahmen belästigt; nur nie so eindringlich und nie alles auf einmal. Al-Hākims Dekrete waren auffällig, weil niemand je die Regeln so streng angewendet hatte. Dass sie ständig aufs Neue erlassen werden mussten, zeigt, dass die Bevölkerung so viel Rechtschaffenheit nicht gewöhnt war. Frauen auf der Straße und Alkohol waren einfach nicht zu unterbinden. Die Scharia wird in ihrer vollen Pracht nur von Fundamentalisten für ausführbar gehalten, und al-Hākim war einer. Das war er sich selbst und seinem Stand verpflichtet: War er nicht der Messias?
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Andererseits musste der Kalif die Bevölkerung zufrieden halten. Mit der Abschaffung von Steuern und Zöllen befolgte er islamische Regeln und erfreute zugleich das Volk. Leider konnte die Staatskasse nicht ohne diese Einnahmen auskommen, so dass sie auch wieder eingeführt werden mussten. Auch seine Dekrete schaffte al-Hākim manchmal wieder ab, wenn sie nicht durchführbar waren oder wenn das die Stimmung im Volk hob. Auch seine wechselhafte Haltung der sunnitischen Mehrheit gegenüber wird so verständlich: in schwierigen Zeiten konnte er keine unzufriedene Massen Sunniten gebrauchen. Was reine Willkür zu sein schien, war eine pragmatische Strategie des Machterhalts.
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Eine generelle Christenverfolgung gab es nicht: Einen Tag nach der Zerstörung einer Kirche konnte ein Christ zu Minister ernannt werden. Al-Hākim konnte nicht allzu streng sein mit den Christen: Er brauchte sie ja für die Staatsverwaltung. Gelegentliche Plünderung von Kirchen und Klöstern erfolgte, wenn die Staatskasse leer war. Aus dem gleichen Grund konfiszierte er auch die Erbschaften der hingerichteten Funktionäre und das Vermögen seiner Mutter.
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Sogar die Gewohnheit des Kalifen, ganz bescheiden auf einem Esel zu reiten steht in einer Tradition: So verhält sich nämlich ein Messias (siehe hier oder zenith 4/2014).
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Für al-Hākim wird das Regieren nicht immer leicht gewesen sein. Soldaten maghribinischer und türkischer Herkunft kämpften ständig um die Macht und mussten in Schach gehalten werden. Als geistiger Führer oder gar der Messias der Schiiten (den Drusen zufolge sogar Gott selber!) herrschte er über ein Reich, das hauptsächlich von Sunniten und Christen bewohnt war. Das hätte eigentlich gereicht zum Verrücktwerden; um so mehr, weil er durch seine griechisch-orthodoxe Mutter selbst eine gehörige christliche Komponente hatte.
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Kurzum: al-Hākim war verhaltensauffällig, aber nicht total behämmert. Allerdings ein sehr strenger und unberechenbarer Herrscher, der viel mehr Hinrichtungen auf dem Buckel hatte als zu der Zeit üblich war. Volksnah, aber gerade dem Hof und den höheren Beamten gegenüber sehr misstrauisch.

Alt Hist
Nun ist die Nuancierung bestehender Auffassungen eine Sache; es gibt aber auch propagandistische Geschichtsschreibung, die das Bild einer Person gänzlich revidieren kann. Stalin, zum Beispiel war, nachdem russische Historiker und Medien die Fakten neu gemischt hatten, ein Spitzenmanager, ein netter Kerl, unter dessen Regierung das Leben in der Sowjet-Union, wie er selber sagte, „besser, fröhlicher geworden ist“.
Zu al-Hākim findet man solche „Geschichtsschreibung“ unter anderem in der Encyclopaedia Iranica. Die ist ein meistens vorzügliches englischsprachiges Nachschlagewerk, das alle Themen zu Iran und zum schiitischen Islam behandelt.1 Den Artikel „Hākem be-Amr-Allah“ aber kann man nur parteiisch nennen. Nichts als Lob dort für diesen Kalifen, der sein Reich so schön zusammenhielt und sogar noch zu vergrößern wusste, der sich um die Sittlichkeit seiner Untertanen kümmerte und die Wissenschaft förderte. Kein Wort zu der Zerstörung von Kirchen, den Hinrichtungen, den Dekreten, der Vergöttlichung oder etwaigen Geistesstörungen. Der Mord an seinem Vormund Bargawan heißt dort zum Beispiel: „the latter’s removal“ (Hervorhebung von mir). Dass al-Hākim einen so schlechten Ruf hatte, liegt dem Autor zufolge nur an der feindseligen Haltung christlicher und sunnitischer Historiker.2 Der Autor ist Farhad Daftary, ein führender Ismailit, also von derselben Glaubensrichtung wie der Kalif.

Volksepik
Es gibt noch eine Textgattung, die sich mit al-Ḥākim beschäftigt hat: die Volksepik.3 Fantastische, vielbändige Heldengeschichten über historische Personen oder wenigstens unter Verwendung ihrer Namen waren in der ganzen islamischen Welt weit verbreitet. Das Klientel dürfte solche Erzählungen oft für Geschichte gehalten haben. Postum erschien auch eine Sīrat al-Hākim, „Lebensgeschichte al-Hākims“. Den fiktiven Lebenslauf des Kalifen aus diesen 1600 Seiten zusammenzufassen wäre verlorene Liebesmüh. Aber wo war der Kalif letztendlich geblieben? Für die seriösen Historiker war er wohl ermordet worden; den Drusen zufolge war er verschwunden. Die Volkserzähler „wussten“ aber, dass er nicht auf, sondern in dem Berg Muqattab (eine Verballhornung von Muqattam) verschwunden war. Er war ja mit 360 Schätzen vertraut gemacht worden; nur zwei Schätze blieben ihm verwehrt, in einer Höhle im Berg. Sein Rivale ‘Abd al-‘Azīz, der aus magischen Büchern viel Wissen gesammelt hatte, führte ihn in das Höhlensystem, das randvoll mit Gold und Juwelen war, und er wusste ihn dort unten zurückzulassen. Selbst eilte er nach Kairo, um die Macht zu ergreifen und für die Bluttaten des Kalifen Rache zu üben.
Der Kalif war also tief im Berg eingeschlossen, aber für seine Ernährung war gesorgt. Jahre später fand seine Tochter ihn dort, als er gerade verstorben war.

 

ANMERKUNGEN
1. Die EIr wird von Gelehrten außerhalb Irans herausgegeben. Von der Islamischen Republik Iran ist sie unabhängig. Siehe auch hier.
2. „Ḥākem also concerned himself with the moral standards of his subjects; many of his numerous edicts (sejellāt) preserved in later sources are of an ethico-social nature. He was also prepared to mete out severe punishment to high officials of the state who were found guilty of malpractice. Anṭāki and the Sunni historiographers have generally painted a highly distorted and fanciful image of this caliph-imam, portraying him as a person of unbalanced character with strange and erratic habits. However, modern scholarship is beginning to produce a different account on the basis of Ḥākem’s own edicts and the circumstances of his reign. As a result, Ḥākem is emerging as a tactful leader who was popular with his subjects.“
3. Auch Volksroman genannt, Arabisch: sīra sha’bīya; man spricht vielleicht besser von epischen Erzähltexten. Zur Gattung s. → Heath, Sīra.

BIBLIOGRAPHIE
– Marius Canard, „al-Ḥākim bi-Amr Allāh,“ EI2.
– Farhad Daftary, „Ḥākem be-Amr-Allāh,“ Encyclopaedia Iranica, XI/6, blz. 572-573, online hier (zuletzt gesehen am 12. Mai 2017).
– Josef Van Ess, Chiliastische Erwartungen und die Versuchung der Göttlichkeit. Der Kalif al-Hakim (386-411 H.), Abhandlungen der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse, Jg. 1977, Abh. 2.
– Heinz Halm, Die Kalifen von Kairo. Die Fatimiden in Ägypten (973–1074), München 2003, S. 167–304.
– Heinz Halm, „Der Treuhänder Gottes. Die Edikte des Kalifen al-Ḥākim,“ Der Islam 63 (1986), 11–72.
– Peter Heath, „Sīra sha‘biyya,“ EI2.
– Antje Lenora, Der gefälschte Kalif. Eine Einführung in die Sīrat al-Ḥākim bi-Amrillāh, Diss. Halle/Saale 2011. Hier herunterzuladen.
– Claudia Ott, „Wo versteckt sich al-Ḥākim? Eine Spurensuche in der Sīrat al-Ḥākim bi-Amrillāh und ihrer Berliner Handschrift.“ In H. Biesterfeldt and V. Klemm (Hrsg.), Differenz und Dynamik im Islam. Festschrift für Heinz Halm zum 70. Geburtstag, Würzburg 2012, 399–410.

Diakritische Zeichen: Al-Ḥākim, Fāṭimiden, Yaḥyā al-Anṭākī, Barǧawān, siǧillāt, Fusṭāṭ, Muqaṭṭam, Muqaṭṭab

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Die erste arabische Kriegsmarine

640 eroberten die Araber die römische Provinz Ägypten, aber 646 wurde Alexandrien schon wieder durch eine römische Flotte zurückerobert. Die blieb nicht so lange, aber Mu‘āwiya, der kompetente Gouverneur von Syrien, der später Kalif wurde, erkannte plötzlich, wie leicht das neue arabische Reich vom Meer aus angegriffen werden konnte. Er überzeugte seinen etwas passiven Großonkel, den Kalifen ‘Uthmān, von der Notwendigkeit eine Flotte aufzubauen. Er bekam die Erlaubnis und zwang unzählige Schiffbauer in Syrien und Ägypten sich an die Arbeit zu machen. Nach drei Jahren lag eine Flotte von nicht weniger als 1700 Kriegsschiffen vor der syrischen Küste: „Man sah vor lauter Masten das Meer nicht mehr.“
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Jetzt sollte die Flotte natürlich ausprobiert werden. Im Frühling 649 brachte man 12.000 Soldaten an Bord und ein Teil der Flotte fuhr für einen Überfall auf die noch römische Insel Zypern aus. Die dortigen Bewohner ließen die Soldaten ungehindert von Bord gehen, weil sie meinten, es seien Römer. Sie konnten sich offensichtlich nicht vorstellen, dass es so etwas wie eine arabische Flotte geben konnte. Die Truppen konnten einfach in die Hauptstadt Constantia (griechisch Σαλαμίνα, Salamina; unweit vom heutigen Famagusta) einmarschieren, sie besetzen und plündern. Sehr große Mengen Gold und Silber und eine große Zahl von Sklaven und Sklavinnen wurden erbeutet. So wurden die Kosten des Flottenbaus weitgehend wettgemacht.

Das Fahren und Plündern verlief sehr angenehm. Mu‘āwiya nahm darauf Kurs auf Konstantinopel, aber seine Flotte wurde von den Römern vertrieben. Dann lieber nach Arwad, eine kleine Insel vor der syrischen Küste, die er aber wegen ihrer sehr starken Befestigungsanlagen nicht einnehmen konnte. Inzwischen wurde es Winter und die Flotte kehrte nach Syrien zurück, aber im Frühling 650 eroberte Mu‘āwiyas Flotte Arwad und schleifte die Festungen. Dann wurde Zypern noch mal überfallen, wo diesmal römische Soldaten lagerten. Diese spornten die Bewohner an durchzuhalten, aber beim Anblick der arabischen Flotte ergriffen die die Flucht und versuchten überall sich zu verstecken. Vergebens: Die Araber „zupften sie aus den Rissen im Boden wie Eier, die in einem Nest zurückgelassen waren.“ Abermals wurden große Mengen Edelmetall erbeutet und Zehntausende Sklaven—wenn diese Zahl nicht übertrieben ist. Constantia hat sich nie davon erholt.

654 segelte die von Abu al-A’war angeführte Flotte nach Konstantinopel, während gleichzeitig eine Armee unter Muʿāwiya über Land dorthin marschierte. Bei Phoenix (Φοῖνιξ, dem heutigen Finike bei Antalya) begegneten die Araber einer römischen Flotte, auf der Kaiser Constans II. und sein Bruder persönlich anwesend waren. Es kam zu einer Seeschlacht, der „Schlacht der Masten“ (ma‘rakat dhāt al-sawārī), die von den Arabern gewonnen wurde. Ihre Stärke scheint hauptsächlich in der Wendigkeit ihrer kleineren Angriffsschiffe gelegen zu haben. Der Kaiser musste als Soldat verkleidet um sein Leben fliehen. Dann weiter zum Hauptziel: Konstantinopel! Aber als die arabischen Schiffe sich schon fast vor der Stadt befanden, kam ein schwerer Sturm auf, der die gesamte Flotte, mitsamt Belagerungswaffen zerstörte. Die Hand Gottes, wie man in Konstantinopel fest glaubte. Mu’āwiya führte seine Truppen über Land zurück nach Hause. Es würde Jahrzehnte dauern, bis man es wagte, wieder Kurs auf Konstantinopel zu nehmen, aber selbst dann und in den folgenden Jahrhunderten war es nie möglich, diese Stadt vom Meer aus zu erobern. Trotzdem war die arabische Marine fortan eine beeindruckende Präsenz im östlichen Mittelmeerraum.

Die Schiffbauer und die Seeleute waren alle christliche Kopten und Syrer; die Soldaten waren Araber. Die Syrer wie auch die Ägypter waren seit Jahrhunderten mit dem Meer vertraut. Obwohl die Schifffahrt im Koran ein nicht unwichtiges Thema ist, scheuten die Muslime in Syrien sich aber vor dem Meer. Dass die Matrosen und Ruderer Christen waren, erwies sich noch 717 als ein Nachteil. Als die Flotte abermals Konstantinopel angreifen wollte, aber irgendwo am Bosporus überwintern musste, liefen viele von ihnen zu den Römern über, weil ihnen jetzt einfiel, dass sie als Christen eigentlich eher dem Römerreich angehörten. Der Kaiser dürfte sie bei ihrer Entscheidung unterstützt haben.

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EXKURS
Ein Hadith erzählt, dass eine Frau namens Umm Haram gerne als Soldat mit ihrem Mann mitgehen wollte, auf dieser Expedition gegen Zypern. Der Prophet erlaubte es ihr. Von ihren Kriegshandlungen ist nichts bekannt, aber sie fiel nach der Rückkehr in Syrien von ihrem Reittier, starb und wurde somit Märtyrerin. Zu ihrem Gedächtnis baute man 1816 eine Moschee bei ihrem Grab auf Zypern. Vor Ort meinte man wohl, sie sei auf Zypern umgekommen.

[…] von Anas ibn Mālik, von seiner Tante Umm Harām bint Milhān: Der Prophet schlief eines Tages in meiner Nähe und als er aufwachte, lächelte er. Ich fragte ihn, warum er lachte. Er antwortete: [Im Traum] sind mir Menschen aus meiner Gemeinde gezeigt worden, reitend auf dem grünen Meer  wie Könige auf ihren Thronen. Sie sagte: Bete zu Gott, dass er mich zu einer von ihnen macht! Darauf bat der Prophet für sie und schlief wieder ein; dasselbe geschah noch einmal. Er sagte: Du bist eine der Ersten.
[Und in der Tat,] sie ging an der Seite ihres Gatten ‘Ubāda ibn as-Sāmit mit auf den Raubzug, als die Muslime mit Mu‘āwiya zum ersten Mal das Meer befuhren. Als sie von dem Raubzug heimkehrten und in Syrien wieder an Land gingen, wurde ihr ein Tier zum Reiten gebracht, aber es warf sie ab und daran starb sie. Bukhārī, Djihād 8, var. Djihād 3, 17:

حَدَّثَنَا عَبْدُ اللَّهِ بْنُ يُوسُفَ قَالَ حَدَّثَنِي اللَّيْثُ حَدَّثَنَا يَحْيَى عَنْ مُحَمَّدِ بْنِ يَحْيَى بْنِ حَبَّانَ عَنْ أَنَسِ بْنِ مَالِكٍ عَنْ خَالَتِهِ أُمِّ حَرَامٍ بِنْتِ مِلْحَانَ قَالَتْ نَامَ النَّبِيُّ صَلَّى اللَّهُ عَلَيْهِ وَسَلَّمَ يَوْمًا قَرِيبًا مِنِّي ثُمَّ اسْتَيْقَظَ يَتَبَسَّمُ فَقُلْتُ مَا أَضْحَكَكَ قَالَ أُنَاسٌ مِنْ أُمَّتِي عُرِضُوا عَلَيَّ يَرْكَبُونَ هَذَا الْبَحْرَ الْأَخْضَرَ كَالْمُلُوكِ عَلَى الْأَسِرَّةِ قَالَتْ فَادْعُ اللَّهَ أَنْ يَجْعَلَنِي مِنْهُمْ فَدَعَا لَهَا ثُمَّ نَامَ الثَّانِيَةَ فَفَعَلَ مِثْلَهَا فَقَالَتْ مِثْلَ قَوْلِهَا فَأَجَابَهَا مِثْلَهَا فَقَالَتْ ادْعُ اللَّهَ أَنْ يَجْعَلَنِي مِنْهُمْ فَقَالَ أَنْتِ مِنْ الْأَوَّلِينَ فَخَرَجَتْ مَعَ زَوْجِهَا عُبَادَةَ بْنِ الصَّامِتِ غَازِيًا أَوَّلَ مَا رَكِبَ الْمُسْلِمُونَ الْبَحْرَ مَعَ مُعَاوِيَةَ فَلَمَّا انْصَرَفُوا مِنْ غَزْوِهِمْ قَافِلِينَ فَنَزَلُوا الشَّأْمَ فَقُرِّبَتْ إِلَيْهَا دَابَّةٌ لِتَرْكَبَهَا فَصَرَعَتْهَا فَمَاتَتْ.

BIBLIOGRAFIE
– Robert G. Hoyland, In God’s Path: The Arab Conquests and the Creation of an Islamic Empire, Oxford 2015, S. 90–3.
– Hugh Kennedy, The Great Arab Conquests. How the Spread of Islam Changed the World We Live In, London 2007, Kap.. 10.

Diakritische Zeichen: Muʿawiya, ʿUṯmān, Umm Ḥarām bint Milḥān, ʿUbāda ibn aṣ-Ṣāmit, al-Buḫārī, Ṣawārī

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Lebensmittelhilfe für Medina. Arbeitsloses Grundeinkommen

canal_des_pharaons640 wurde Ägypten von ‘Amr ibn al-‘Ās für die Araber erobert; Alexandrien etwas später. Eine seiner ersten Maßnahmen war die Wiederherstellung des Bubastis-Kanals, der vom heutigen Zagazig im Nildelta zum heutigen Ismā‘īlīya verlief und von dort südwärts durch den Krokodilsee und die Bitterseen nach Qulzum bei Suez. Es handelte sich also um einen Wasserweg vom Delta bis zum Roten Meer. An einem Kanal vom Roten Meer bis zum Mittelmeer war zu der Zeit niemand interessiert. Alexandrien war ja Seehafen und die Schiffe waren klein genug um auch über den Nil oder durch einen Kanal zu fahren. Und notfalls wurde mal umgeladen; all das war billiger als der Transport über Land. Überdies waren die Handelskontakte mit dem feindlichen Römerreich erst mal zum Erliegen gekommen.
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Dieser oder ein ähnlicher Kanal existierte schon zur Pharaonenzeit. Der Kanal, den ‘Amr dort vorfand, hatte der persische König Darius (522–486 v. Chr.) bauen lassen, der dort Inschriften zurückließ. Nach dem Abzug der persischen Besatzungsmacht wollte niemand mehr per Schiff nach Persien und der Kanal wurde vernachlässigt. Ptolemæus II (284–246 v. Chr.) ließ ihn erneuern und zum Teil umleiten, mit einer Schleuse, die verhinderte, dass Salzwasser in den Nil strömen konnte. Der Endpunkt am Roten Meer hieß Arsinoë nach seiner Schwester, die auch seine Gattin war. Der Kanal wurde unter dem römischen Kaiser Traian (98–117) nochmals erneuert. Zu seiner Zeit beherrschte das Römerreich die Schifffahrt im Roten Meer und im Persischen Golf und trieb intensiv Handel mit Indien. Dieser Kanal endete bei Klysma („Schleuse“) oder Kleopatris, dem späteren arabischen Qulzum. Der Wasserweg dürfte bei Ankunft der Araber in einem nicht mal so schlechten Zustand gewesen sein; bei Hochwasser im Nil soll er noch befahrbar gewesen sein. Es war in der Antike natürlich keine Kleinigkeit solch einen Kanal zu bauen oder zu vertiefen. Aber das Gelände half mit, denn ein Großteil der Strecke verlief durch das weiche Bett des Wadi Tumīlāt. Und natürlich halfen zahllose Sklaven mit, von denen bestimmt viele ums Leben kamen.
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Als im neunzehnten Jahrhundert der moderne Suezkanal gegraben wurde, nahm man diesen alten Kanal wieder in Gebrauch um aus dem Delta Trinkwasser und allerlei Güter zur Baugrube zu bringen. Hier finden Sie eine schöne Karte aus dieser Zeit; durch wiederholtes Anklicken lässt sie sich vergrößern. Die fette horizontale Linie ist der Kanal; er heißt dort Canal de l’Ouadee Salsalamout bzw. Canal des Ptolémé (Orthographie ist nie die stärkste Seite von Ingenieuren.)
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640 oder 641 war der Kanal wieder befahrbar und die ersten Getreideschiffe fuhren nach al-Djār, den Hafen von Medina. Der Transport über das Meer war viel günstiger und sicherer als Karawanen aus Syrien. Das Getreide dürfte in Ägypten günstig gewesen sein, denn die üblichen Lieferungen nach Konstantinopel, das jetzt Feindesland war, waren erst mal zum Erliegen gekommen. Und wenn es nicht einmal bezahlt werden musste, weil es aus erbeuteten Staatsländereien stammte, war es sogar noch billiger. Für Medina konnte der Engpass des Katastrophenjahrs 639 sich nicht wiederholen.

  • Im Jahr 21 schrieb ‘Umar an ‘Amr ibn al-‘Ās, teilte ihm mit, in welcher Notlage die Menschen in Medina sich befanden und befahl ihm Nahrungsmittel aus dem Steuerertrag über das Meer nach Medina zu senden; darunter auch Öl. Als diese in al-Djār eintrafen regierte dort Sa‘d. Es wurde dann zu einem Gebäude in Medina gebracht und unter die Menschen verteilt.1

Eine Variante dieser Geschichte:

  • ‘Umar ritt aus mit den vornehmsten Prophetengefährten, bis er nach al-Djār kam, wo er die Schiffe sah. Er gab den Auftrag das Getreide in Empfang zu nehmen und er ließ an der Stelle zwei Festungen bauen, in denen er es speicherte. Darauf gab er Zaid ibn Thābit den Auftrag die Menschen nach ihren Wohnorten zu registrieren und befahl ihm Schecks (sikāk, Pl. von sakk) auf Papyrus zu schreiben, die er unten mit seinem Siegel versah.2

Dies sind Texte zu der ersten Güterverteilung; es gibt noch einige und sie passen nicht sehr gut zusammen. Ein anderer Bericht erzählt, dass ‘Umar einen Versuch anstellte, weil er wissen wollte, wie viel Getreide pro Person benötigt sei:

  • ‘Umar befahl einen djarīb (22,715 Kg) Weizen bereitzustellen. Der wurde gemahlen, dann gebacken und in Öl eingeweicht. Darauf ließ er dreißig Männer einladen, die damit ihr Mittagsmahl einnahmen […] und abends noch mal dasselbe und er stellte fest, dass für einen Mann zwei djarīb pro Monat ausreichend sind. Deshalb gab er jedem Mann, jeder Frau und jedem Sklaven 2 djarīb pro Monat.3

Aber die Getreideverteilung war bald überholt, denn es gab noch viel mehr zu verteilen. Es kam auch allerlei andere Beute aus den eroberten Gebieten. Zur selben Zeit wurden ja Syrien, der Irak und Iran erobert, was einen nicht versiegenden Strom von Beutegut zur Folge hatte. Die Regierung lagerte die meisten Güter erst in den Staatsdepots und verteilte sie von da aus auf kontrollierte Weise. Rückkehrende Soldaten hatten auch noch eigenes Geld in der Tasche. Medina wurde reich.
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Ca. 642, das ist nur ganz kurz nach den ersten Getreidesendungen aus Ägypten, organisierte Kalif ‘Umar deshalb ein Register aller frühen Gläubigen, den sog. Dīwān al-djund.4 Darin wurden alle Emigranten aus Mekka verzeichnet, aber auch die, die nach Äthiopien emigriert und zurückgekehrt waren, und die sog. „Helfer“ in Medina, und alle, die sich ehrenvoll in Mohammeds Militärexpeditionen betätigt hatten oder sonst Verdienste hatten für seine Sache—kurz: fast alle freien Einwohner Medinas! Hinter ihren Namen wurden ihre Taten aufgeführt.
Alle diese Menschen bekamen fortan jedes Jahr eine Zuwendung aus der Staatskasse, und oft genug ihre Kinder auch noch. Denken Sie dabei nicht an Hartz 4! Die Zuwendungen an die Armen unter den Emigranten (ahl as-suffa), die waren damals tatsächlich Armenfürsorge gewesen; jetzt handelte es sich aber um große Summen. Es war unerhört. Wenn Menschen in der Antike registriert wurden, war das normalerweise um effektiv Steuern von ihnen zu erheben. Hier ging es um die Gewährung eines Grundeinkommens oder Ehrengeldes oder, wenn Sie so wollen, um eine kontrollierte Verteilung von Kriegsbeute.
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Es gab eine Hierarchie unter den Zuwendungsberechtigten nach ihren Verdiensten. Puin unterscheidet vier Gruppen:4

  • Gruppe 1: Badr-Kämpfer; Witwen des Propheten 4000 DH (=Dirham), später 5000 oder 6000
    Gruppe 2: Übrige Emigranten und Helfer (ansār) 1000 DH weniger als Gr. 1
    Gruppe 3: Teilnehmer bei al-Hudaibiya und bei den Ridda-Kämpfen 1000/2000 DH weniger als Gr. 2
    Gruppe 4: Alle übrigen Einwohner Medinas 250–400 DH

Zwar setzt Puin bei allen seinen Daten ein Fragezeichen, aber man bekommt doch einen Eindruck. Ungewiss ist vor allem, wie viel die Nachkommen der ursprünglichen Zuwendungsberechtigten empfangen sollten.
Es war deshalb sehr wichtig, wie man registriert war. Söhne und Enkel werden sich Mühe gegeben haben, die guten Taten ihres Vorfahren noch etwas aufzubauschen, nicht nur wegen des größeren Prestiges, sondern auch für mehr Geld. Das hatte eine Auswirkung auf die biographische Literatur (Gattung: Verdienste der Prophetengefährten).
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Die Mekkaner bekamen übrigens nichts—es sei denn, sie hätten sich nach ihrer späten „Bekehrung“ im Jahr 630 noch für Gottes Sache angestrengt, indem sie als Soldaten nach Syrien oder in den Irak zogen. Das galt auch als Hidschra.

ANMERKUNGEN
1. Al-Balādhurī, Futūh al-buldān (Liber expugnationis regum), Hg. M.J. de Goeje, Leiden 1866, 216.

وكتب عمر بن الخطاب في سنة ٢١ الى عمرو بن العاصي يعلمه ما فيه أهل المدينة من الجهد ويأمره أن يحمل ما يقبض من الطعام في الخراج الى المدينة في البحر فكان ذلك يُحمل ويحمل معه الزيت فإذا ورد الجار تولّى قبضه سعد الحار ثم جُعل في دار بالمدينة وقسم بين الناس بمكيال.

2. Al-Ya‘qūbī, Ta’rīkh, Hrsg M. Th. Houtsma ii, 177:

 كتب عمر الى عمرو بن العاص أن يحمل طعامًا غي البحر الى المدينة يكفي عامة المسلمين حتى يصير به الى ساحل الجار فحمل طعامًا الي القلزم ثم حمله في البحر في عشرين مركبًا في المركب ثلاثة آلاف إردبّ وأقل وأكثر حتى وافى الجار وبلغ عمر قدومها فخرج ومعه جلّة أصحاب رسول الله حتى قدم الجار فنظر السفن ثم وكّل من قبض ذلك الطعام وبنى هناك قصرين وجعل ذلك الطعام فيهما ثم أمر زيد ين ثابت أن يكنب الناس على منازلهم وأمره أن يكنب لهم صكاكًا من قراطيس ثم يختم أسافلها قكان أول من صكّ وختم أسفل الصكاك.

3. G.-R. Puin, Der Dīwān von ʿUmar ibn al-Ḫaṭṭāb. Ein Beitrag zur frühislamischen Verwaltungsgeschichte, Diss. Bonn 1970, 90; al-Balādhurī, Futūh al-buldān, Kairo ed. 363 @noch kontrollieren@@
4. Puin,
o.c., 94–5.
5. Puin, o.c.,
113–4.

Diakritische Zeichen: ʿAmr ibn al-ʿĀṣ, al-Ǧār, ṣakk, ṣikāk, ǧarīb, dīwān al-ǧund, ahl aṣ-ṣuffa, anṣār, al-Ḥudaibiya, al-Balāḏurī, futūḥ, taʾrīḫ

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Asche über Medina?

Medina war am Anfang des 7. Jahrhunderts eine Oase von 50 km2 (Kontrolle@), also etwas größer als Offenbach. In der Antike war es voller Dattelpalmen. Oasen konnten immer nur eine gewisse Anzahl Einwohner ernähren. Wurden es mehr, so mussten die Überzähligen wegziehen—oder es mussten Lebensmittel von außen importiert werden. Wenn die Ernte gering ausfiel, wurde gehungert. Es war aber nicht so, dass die Einwohner Medinas nur die Datteln aßen, die dort wuchsen. Sie tauschten einen Teil davon gegen Kamel- und Hammelfleisch, das die Halbnomaden aus dem Umland lieferten. Selbst hatten sie auch Milchschafe und wahrscheinlich gingen sie auf die Jagd. Aus Syrien importierten sie Getreide, das mit Gütern oder Goldklümpchen bezahlt wurde.
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Als der Prophet Mohammed 622 sich nach der Hidschra mit geschätzten achtundachtzig Männern und ihren Familien in Medina niederließ, drückte das auf das verfügbare Lebensmittelkontingent der Oasenbewohner. Die Neuankömmlinge kompensierten das, indem sie Raubzüge außerhalb der Oase unternahmen. Die ärmeren Emigranten, die ahl al-suffa,1 durften in der Moschee wohnen und wurden aus der Staatskrippe ernährt.
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Während der arabischen Eroberungen nach Mohammeds Tod wurde reiche Beute gemacht, die in der Staatskasse landete und verteilt wurde. Viele Männer genossen nach abgeleistetem Dienst ihren Ruhestand in Medina und hatten eigenes Geld in der Tasche. Die Oase wurde immer wohlhabender. Es wurde auch in Bewässerungsprojekte investiert, u.a. vom Kalifen Mu‘āwiya. Die Importe nahmen zu. Später im 7. Jahrhundert war Medina ein Luxuswohnort. Der Lebemann Hasan ibn ‘Alī wohnte dort und die grande dame Sukaina, aber auch Aischa und viele Intellektuelle. Dazu ein anderes Mal.
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Es lief aber nicht gleich so prächtig. Das Jahr 18 der islamischen Jahreszählung, das ist 639,2 war ein Jahr von Hunger und Not. ‘Ām ar-ramāda wurde es genannt, das „Jahr des Untergangs“.
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Im Geschichtswerk von at-Tabarī (gest. 923; tatsächlich, fast drei Jahrhunderte später!)3 steht dazu u.a.: „Die Menschen wurden in dem Jahr durch eine schwere Hungersnot, Unfruchtbarkeit und Trockenheit getroffen; es war das Jahr das ‘ām ar-ramāda geannt wird.“ Welche Menschen? Die Einwohner von Medina? Gleich darauf redet er von ‘Amwās in Palästina, wo die Pest ausbrach (25.000 Tote).4 Das war, so erklärt er (oder vielmehr seine Quelle), weil die Menschen dort angefangen hatten Wein zu trinken. Die Übeltäter wurden ausgepeitscht und Kalif ‘Umar fluchte: „Volk von Syrien, möge euch etwas Unerhörtes widerfahren!“ worauf die ramāda ausbrach.“ Merkwürdig, dass ein Staatsoberhaupt so etwas seinen Untertanen wünscht. Aber er wird das wohl nicht wirklich gesagt haben. Alle diese Erzählungen sind hauptsächlich Dichtung.
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Die ramāda war jedoch in Medina und davon handelt aṭ-Ṭabarī’s Folgetext. Es könnte natürlich sein, dass auch in Syrien gehungert wurde, aber dann wäre es unglaubwürdig, dass aus Syrien nicht weniger als 4.0004 Kamellasten Getreide als Hilfe nach Medina übergebracht wurden, wie wir noch sehen werden.

  • „Während der Regierung ‘Umars wurden die Bewohner Medinas und das Umland von einem unfruchtbaren Jahr (sana) heimgesucht, in dem der Staub aufgewirbelt wurde, wenn es wehte, als wäre es Asche (ramād). Deshalb wird es das Jahr des Untergangs genannt.“
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    „Die ramāda war eine Hungersnot, die Medina und das Umland traf und so viel Tod und Zerstörung verbreitete, dass die wilden Tiere in den Wohnstätten der Menschen Zuflucht suchten. Die Menschen fingen sogar an ihre Schafe zu schlachten, aber sie ekelten sich davor, so abscheulich sah das aus—und das obwohl sie hungerten.“

In einem Paralleltext wird der Ekel erklärt: weil die Tiere nur Haut und Knochen waren, und an ihnen kaum Fleisch zu sehen war.

Der Kalif zögerte lange, bevor er sich entschied, die Garnisonsstädte im Norden um Hilfe zu bitten. Schließlich kam eine Karawane von 40004 Kamelen, mit Getreide beladen. Das war eine große Erleichterung, aber sie kam ziemlich spät. Erst wurde gezögert, dann ein Kurier ausgeschickt, dann musste das Getreide gesammelt und aufgeladen werden und die Karawane brauchte auch einige Wochen—kurzum, es werden wohl noch viele Menschen verhungert sein. Einige Jahre später sollte Getreide über den Seeweg aus dem frisch eroberten Ägypten kommen, aber 639 war davon noch nicht  die Rede.
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VulkaanVOLCANIC_11_57415Noch kurz zu den Wörtern: „…indem der Staub aufgewirbelt wurde, wenn es wehte, als wäre es Asche (ramād).“ Die Staubteilchen in der Luft wurden also nicht durch Regen oder Feuchtigkeit festgehalten—aber war das etwas Besonderes? Schauen Sie mit auf das (heutige) Wetter in Medina. Monatelang kein Regen, sehr geringe Luftfeuchtigkeit: Selbstverständlich waren dort Staubteilchen in der Luft. Hier war aber die Rede von Staub „als wäre es Asche.“

Und wenn es nun wirklich Asche gewesen wäre? Die Umgebung Medinas ist sehr vulkanisch. Des Öfteren haben Vulkanausbrüche in der Umgebung die Oase bedroht; am Rande der heutigen Stadt fangen gleich die Lavafelder an. Der Harrat ‘Uwayrid, 300 km nordwestlich von Medina, hatte einen Ausbruch um 640; der viel näher gelegene Harrat Khaybar zehn Jahre später. So sagen es Vulkanologen, die für ihre Schlussfolgerungen keine Texte brauchen. Unweit ist der al-Djabal al-Baidā’, der „weiße Berg“, der so heißt, weil er der Aschekrater eines Vulkans ist. Könnte vielleicht ein Vulkanausbruch die Ursache des Notjahrs 639 gewesen sein? Hier weiß ich nicht weiter. Verschwinden die Regenwolken, regnet es (noch) weniger als sonst, wenn etwas weiter ein Vulkan ausbricht? Hatte der unterirdische Wasservorrat der Oase sich unter dem Einfluss der Naturgewalten vorübergehend zurückgezogen? Sterben Schafe, wenn allerlei Partikel vom Himmel auf sie fallen oder ihr Futter mit Asche bedeckt ist? War die Handelsroute nach Syrien eine Zeitlang blockiert? Das alles sollen Geo-, Bio- und Vulkanologen erforschen.

„Year of Drought’, schreibt G.H.A. Juynboll in seiner Tabarī-Übersetzung. Aber „Trockenheit“ bedeutet das Wort ramāda eigentlich nicht. Was macht ein Arabist um eine Wortbedeutung herauszufinden? Er kann z.B. das alte Wörterbuch von Lane4 zur Hand nehmen. Der nahm alle jahrhundertealten arabischen Wörterbücher, schrieb ab, was darin stand, und übersetzte es in viktorianisches Englisch. Deshalb findet man bei ihm oft strittige und „mittelalterlich“ anmutende Umschreibungen. Es ist ein trauriges Hilfsmittel, aber wir haben nicht viele andere. Wenn Farbbezeichnungen vorkommen, ist es immer gut, noch mal bei Fischer5 nachzuschauen. Es stellt sich heraus, dass die Wurzel r-m-d zwei hier relevante Basisbedeutungen hat:

ramada: „untergehen, kaputt gehen“, und zwar durch verschiedene Ursachen. In Lanes Wortlaut: by becoming old and worn-out, and had no goodness and lastingness; by reason of cold or of hoar frost or rhyme; by drought, barrenness, or dearth. Das „Untergehen“ ist primär; dessen Ursache, also auch die Trockenheit, ist sekundär. ramāda ist das Verbalsubstantiv: „das Untergehen, der Untergang“.
ramād, „Asche“ und das Farbwort armad: „in Bezug auf die Farbe durch Asche (ramād) besonders charakterisiert; vom Auge: Grauer Star usw.“

Die beiden Basisbedeutungen haben nichts miteinander zu tun, wenn auch sowohl die Texte als auch die Wörterbücher sich manchmal durch die Ähnlichkeit von ramāda und ramād hinreißen lassen. Man muss ihnen in ihrer Volksetymologie nicht folgen.
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Also, ramāda ist „Untergang“. Es war das Jahr des Untergangs, nicht das der Trockenheit und auch nicht das der Asche, wie ich einen Augenblick dachte. Ein Vulkanausbruch ist mit Hilfe des Lexikons nicht belegbar. Bleibt aber meine Verwunderung über die Meldung vom aufgewirbelten Staub „als wäre es Asche“. In großen Teilen des Nahen Osten regnet es doch immer Staub? Wenn es nur Staub gewesen wäre, wäre es wohl kaum erwähnenswert, oder?

ANMERKUNGEN
1. Klar, das ist unser Wort Sofa, Ruhebank.
2. Anderen zufolge war es Ende 17 bis Anfang 18. Die Jahreszahlen für diese Periode stimmen nie so wirklich.
3. At-Tabarī, Ta’rīkh i, 2570–8.
4. Bei großen Zahlen in der Antike hilft diese Regel: Teile durch zehn!
5. Edward William Lane, Al-madd al-qamoos. An Arabic-Eglish Lexicon, 8 Bde., London/ Edinburgh 1863.
6. Wolfdietrich Fischer, Farb- und Formbezeichnugen in der Sprache der altarabischen Dichtung, Wiesbaden 1965.

Diakritische Zeichen: ṣuffa, Ḥarrat, al-Ǧabal al-Baiḍāʾ, aṭ-Ṭabarī,Ta’rīḥ

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Abd al-Malik übt sich in Grausamkeit und Mord

Als ‘Abd al-Malik 685 unerwartet die Nachfolge seines Vaters Marwān als Umaiyadenkalif in Damaskus antreten musste, fand er sich einem formidablen Gegner gegenüber: ‘Abdallah ibn az-Zubair, der in Arabien ein Kalifat gegründet hatte. Aber auch in Syrien war er nicht unangefochten. Dort bekam er es nämlich mit ‘Amr ibn Sa‘īd al-Ashdaq (?–689) zu tun. Dieser war auch Angehöriger der Sippe Umaiya und hatte sich u.a. als General und als Statthalter von Mekka und Medina verdient gemacht. Marwān hatte diesem ‘Amr versprochen, dass er ihm nachfolgen dürfe. Aber sobald er auf dem Thron saß, hatte er die Huldigung seiner eigenen Söhne forciert. Als ‘Abd al-Malik tatsächlich seinen Vater nachfolgte, war ‘Amr von Groll erfüllt. Trotzdem sah er noch eine Zukunft für sich. Als er einmal ‘Abd al-Malik auf einem Feldzug in den Irak begleitete, sprach er ihn auf eine mögliche Nachfolge an. ‘Abd al-Malik ließ sich aber nicht darauf ein.1 Nach diesem für ihn enttäuschenden Gespräch schlich ‘Amr mit einigen Anhängern weg aus dem Lager und ging zurück nach Damaskus. Es gelang ihm die Stadt an sich zu bringen, wo er einen beträchtlichen Anhang hatte. ‘Abd al-Malik sah sich gezwungen umzukehren um seine eigene Hauptstadt zurückzuerobern. ‘Amr ergab sich unter der Bedingung, dass er Leib und Leben behalten dürfe.
‘Abd al-Malik hatte aber etwas anderes mit ihm vor. Eines Tages lud er ‘Amr in seinen Palast. Dieser zog sicherheitshalber ein Kettenhemd an und nahm hundert Gefolgsmänner mit, von denen aber nur einer hereingelassen wurde. Als er die vielen Soldaten und Verwandten des Kalifen sah, witterte er Unheil und sandte seinen Sklaven weg um bei seinem Bruder Hilfe zu holen. Der Sklave verstand aber den Auftrag nicht richtig und die Hilfe blieb aus.
‘Abd al-Malik fing an ihn einzuschüchtern und zu piesacken. Er ließ ihm sein Schwert abnehmen und ließ ihn in Fesseln legen, seine Hände hinter seinem Nacken gebunden.

  • Darauf gab ihm ‘Abd al-Malik einen Stoß, so dass er mit seinem Mund gegen die Bank kippte und seinen Vorderzahn abbrach.
    „Verdammt noch mal,’ sagte ‘Amr, ‘ich hoffe, das reicht dir jetzt!“
    „Wenn ich wüsste, dass du mich verschonen würdest,’ antwortete ‘Abd al-Malik, ‘würde ich dich verschonen und laufen lassen. Aber es gab nie zwei Männer in einer Lage wie dieser, ohne das der eine den anderen beseitigte.“ […]
    ‘Abd al-Malik ließ sich jetzt eine Lanze bringen. Er schwang sie hin und her und warf sie auf ‘Amr, aber die Waffe drang nicht in dessen Körper ein. Er tat es noch einmal, wieder vergeblich. Als er einen Schlag auf ‘Amrs Arm gab, spürte er, dass dieser ein Kettenhemd trug. Er lachte und sagte: „Hah, ein Kettenhemd! Du bist gut vorbereitet hierher gekommen! Knappe, bring mir das kurze Schwert!“ Es wurde ihm gereicht und er befahl seinen Männern ‘Amr auf den Boden zu drücken. ‘Abd al-Malik setzte sich auf dessen Brust und schnitt ihm die Kehle durch. […]
    ‘Abd al-Malik zuckte und zitterte. So ergeht es, wie man sagt, einem Mann, wenn er einen Verwandten tötet. ‘Abd al-Malik wurde von ‘Amrs Brust fortgezogen und auf die Bank gelegt. Er sagte: „Nie habe ich so etwas erlebt: Er ist von jemandem getötet worden, der das Diesseits besitzt und das Jenseits nicht suchte.“2

Dann erschienen endlich ‘Amrs Männer—zu spät. Sie schrien die Anwesenden an und es begann ein Kampf. Aber jemand warf den Kopf des Getöteten unter die Leute, nebst einer Anzahl Beutel mit Geld, worauf sie auseinandergingen.

Der Kalif „zuckte und zitterte“. Dieser Erzählung zufolge wünschte ‘Abd al-Malik den Mord persönlich und vor Zeugen auszuführen. Leicht fiel es ihm nicht und stolz war er auch nicht. Vielleicht wollte er seine Umgebung wissen lassen, was für einer er war und dass er gnadenlos durchgreifen konnte. Vielleicht wollte er das vor allem auch sich selbst beweisen, weil er sich noch in Grausamkeit üben musste. Sein bisheriges Leben war relativ ruhig gewesen, aber als Herrscher musste er hart sein können—das verstand er sehr gut. Nicht ohne Grund ließ er sich auf seinen Münzen mit Schwert und Peitsche abbilden.

Eine Überlieferung3 berichtet, dass die Feindschaft zwischen ‘Abd al-Malik und ‘Amr auf altes Leid zurückging. Als Jungen sollen die beiden schon des öfteren gekämpft haben, dazu ermutigt von ‘Abd al-Maliks Großmutter Umm Marwān. Diese lud sie oft zusammen mit noch anderen Jungen zum Essen ein. Dann hetzte sie die Jungen gegeneinander auf; die fingen dann an sich zu schlagen und verließen das Haus ohne noch ein Wort zu wechseln. Wollte die Oma die Rivalität zwischen den Zweigen des Hauses Umaiya anstacheln, in der Hoffnung, dass ihre eigene Nachkommen schon früh die Oberhand bekommen würden? Oder hat diese Erzählung die spätere Rivalität in die Vergangenheit zurückprojiziert? Das ist gut möglich, denn das Motiv altes Leid“ kommt auch in anderen Texten zur Mordepisode vor.
‘Amr hatte nämlich vier Söhne, die nach der Ermordung ihres Vaters versuchten ihre Überlebenschancen sicherzustellen, indem sie die Flucht nach vorne antraten und sich zum Kalifen begaben:

  • Die Söhne ‘Amrs erschienen vor ‘Abd al-Malik nach der Wiederherstellung der Reichseinheit (djamā‘a). Sie waren zu viert. […] Als ‘Abd al-Malik sie sah, sagte er: „Ihr seid Männer aus einer noblen Familie, die ihr euch selbst immer für besser gehalten habt als alle eure Verwandten, wenn Gott euch das auch nicht vergönnt hat. Was zwischen eurem Vater und mir passiert ist, war nichts Neues: Es war ein altes Leid, das bereits in der vorislamischen Zeit (djāhiliya) tief in den Seelen eurer Väter und der unseren verwurzelt war.“
    Umaiya, der Älteste, konnte kein Wort herausbringen: Er war der Nobelste und Intelligenteste. Deshalb […] stand Sa‘īd, der Mittlere auf und sagte: „Fürst der Gläubigen, warum werfen Sie uns etwas aus der vorislamischen Zeit vor, wo doch Gott den Islam gebracht und das Alte niedergerissen hat […]? Was zwischen Ihnen und ‘Amr passiert ist: ‘Amr war Ihr Neffe und Sie wissen am besten was Sie getan haben. ‘Amr ist vor Gott erschienen, und Gott genügt als Abrechner.4 Bei meinem Leben, wenn Sie uns bestrafen für das, was geschehen ist, dann ist es für uns unter der Erde besser als darauf.“
    ‘Abd al-Malik war sehr gerührt und spürte eine große Milde für sie. Er sagte: „Euer Vater stellte mich vor die Wahl: ihn zu töten oder von ihm getötet zu werden, also zog ich es vor, ihn zu töten. Aber ihr—wie habe ich mich nach euch gesehnt, wie verwandt fühle ich mich mit euch—und natürlich habe ich ein Auge für eure Rechte!“ Er gab ihnen also große Zuwendungen, zeigte ihnen seine Gunst und behielt sie ganz in seiner Nähe.5

Mit dem Begriff „vorislamische Zeit“ (djāhilīya) verwies ‘Abd al-Malik auf eine weit zurückliegende Vergangenheit6—obwohl der Mord noch frisch in der Erinnerung haftete. Dass die Fehde alt und vererbt war, sollte offenbar als Entschuldigung dienen oder wenigstens zu Verständnis führen. ‘Amrs Sohn Sa‘īd reagierte geschickt und wies darauf hin, dass der Islam alles alte Leid aus der djāhilīya gelöscht hatte.
Das Verhalten ‘Abd al-Maliks den vier Söhnen seines Mordopfers gegenüber war typisch für ihn, als seine Macht gefestigt war: so wenige Menschen wie nur möglich sich zu Gegnern zu machen, vor allem nicht in Syrien und schon gar nicht aus der Sippe Umaiya—vielmehr die Menschen ganz in seiner Nähe zu behalten.

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Zur Ernüchterung: Es gibt auch kurze Überlieferungen, die zu ‘Amrs Ermordung etwas ganz anderes erzählen:

  • Es wird auch erzählt: Als ‘Abd al-Malik ‘Amr den Stoß gab, durch den dessen Zahn herausflog, fing ‘Amr an die verletzte Stelle zu reiben. ‘Abd al-Malik sagte zu ihm: „Ich sehe, dass du deinen Zahn so wichtig findest, dass du mir nie mehr gewogen sein kannst.“ Und er befahl ihn zu enthaupten.7

Und:

  • Es wird auch gesagt: Als ‘Abd al-Malik zum Gebet ging, beauftragte er seinen Sklaven Abū az-Zu‘ayzi‘a mit der Tötung ‘Amrs. Das tat der, und den Kopf warf er den Umstehenden und seinen Gefährten zu.8

Das waren normalere Manieren mit einem politischen Gegner abzurechnen. Aber mit solchen Berichten bekommt man kein spannendes Geschichtsbuch.

 

ANMERKUNGEN
1. aṭ-Ṭabarī, Ta’rīkh ii, 784.
2. aṭ-Ṭabarī, Ta’rīkh ii, 788–91.
3. aṭ-Ṭabarī, Ta’rīkh ii, 793–4.
4. Koran 4:6; 33:39.
5. aṭ-Ṭabarī, Ta’rīkh ii, 795.
6. Es sei denn, der Kalif meinte mit „vorislamischer Zeit“ die Periode vor der von ihm durchgeführten Wiederherstellung der Reichseinheit (djamā‘a). In dem Fall würde der Islam nicht mit dem Propheten Mohammed, sondern mit Kalif ‘Abd al-Malik anfangen—was nicht so abwegig ist, wie es sich anhört; vg. hier.
7. aṭ-Ṭabarī, Ta’rīkh ii, 789.
8. aṭ-Ṭabarī, Ta’rīkh ii, 791–2.

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