Der Ameisenlöwe

In einem arabischen Text stieß ich auf das Wort layth, „Löwe“. Aber das passte nicht in den Kontext, es sollte eher ein Insekt sein, so etwas wie eine Spinne. Der syrische Name stand daneben: aryā dedēbābē, der „Fliegenlöwe“. Und in der Tat, das passte. Wir kennen ihn aber als Ameisenlöwe.
In der Antike gab es mehrere zusammengesetzte Tiere. Von den meisten hören wir nicht mehr, aber der Ameisenlöwe ist noch nicht ausgestorben. Im Gegenteil: 2010 war er noch das Insekt des Jahres. Er ist ein nachtaktiver Netzflügler: Myrmeleon formicarius aus der Familie der Ameisenlöwen (Myrmeleontidae).
Als geflügeltes Insekt ist er einer unter vielen. Außergewöhnlich ist jedoch die Larve dieses Tieres. Zur Beutefang gräbt die kleine Larve ein trichterförmiges Loch im lockeren Sand. Wenn eine Spinne oder Ameise hochläuft und auf der Schräge des Trichters landet, kann sie nicht mehr zurück. Die Larve wirft mit ihren Beinen noch mehr Sand auf, das Beutetier rutscht weiter nach unten und wird zwischen den starken Larvenkiefern zerquetscht.

Mich beschäftigte kurz die Frage, woher der Name „Ameisenlöwe“ stammt. Ein Löwe ist zwar auch ein Raubtier, hat aber ansonsten wenig mit diesem Tier gemeinsam, weder in der Größe noch im Verhalten.
Der Ameisenlöwe ist nicht selten und wurde wegen seiner Jagdtechnik von Menschen überall bemerkt. Die alten Griechen kannten ihn mit Sicherheit. Bei Aristoteles heißt er (vielleicht) λύκος, lykos, „Wolf,“ was ebenfalls schwer zu verstehen ist.

Der Name geht auf die Bibel zurück, genauer gesagt auf die griechische Übersetzung der Septuaginta von Hiob 4:11, ± 100 v. Chr. In Luthers Bibelübersetzung lautet der Vers:

  • „Der Löwe kommt um, wenn er keine Beute hat, und die Jungen der Löwin werden zerstreut.“

Der hebräische Text2 hat hier zwei Wörter, die beide „Löwe“ bedeuten: layish und lavī. Im Deutschen gibt es dafür nur ein Wort. Zweimal dasselbe Wort im selben Vers wäre unschön gewesen, aber zum Glück schafften die Jungtiere und die Umwandlung des zweiten Löwen in ein Weibchen etwas Variation. Die griechischen Bibelübersetzer fanden zweimal „Löwe“ offensichtlich auch nicht schön. Sie übersetzten deshalb das erste „Löwe“ als μυρμηκολέων (myrmēkoléōn), in der Tat wörtlich „Ameisenlöwe“, was auch immer das bedeuten mag.3 (Die lateinische Bibelübersetzung Vulgata ging in ihrer Verzweiflung noch weiter und übersetzte es als tigris, „Tiger”. Löwen und Tiger passen in Texten immer gut zusammen; deswegen.)

Was haben sich die Griechen bei ihrer Übersetzung gedacht, was für ein Tier haben sie sich vorgestellt und wie blieb der Name an dieser unliebsamen Larve hängen? Ich habe es (noch) nicht herausgefunden; Sie vielleicht? Ein Text, der vielleicht etwas weiter helfen könnte, ist Herodot (± 485–425 v. Chr), Historiae iii, 102. Dort handelt es sich um eine Wüste in Indien, in der Menschen Goldpartikel aus dem Sand gewinnen, der von sehr großen Ameisen aufgeworfen wird:

  • In dieser Wüste gibt es Ameisen, die etwas kleiner sind als Hunde, aber größer als Füchse. Ein paar wurden gefangen und leben im Tiergarten des persischen Königs. Diese Ameisen bauen ihre Höhlen unter der Erde und graben genau wie die griechischen Ameisen, denen sie sehr ähnlich sind.4

Hier gibt es immerhin riesige „Ameisen” (μύρμηκες, myrmikes), die allerdings bei weitem nicht die Größe eines Löwen erreichen. Manchmal hat man an das tibetische Murmeltier gedacht, aber es kann genau so gut ein Fantasietier sein—und letzteres trifft auch auf den biblischen Ameisenlöwen zu. Inder, die von großen Ameisen Gold wegnehmen, werden übrigens auch bei → Timotheus von Gaza (± 500) erwähnt).5

Soweit ich es überprüfen kann, kommt der griechische Name myrmēkoléōn in griechischen Texten, die älter als die Bibelübersetzung sind, nicht vor, und danach nur noch sporadisch in christlichen oder christlich beeinflussten Texten.
Das christliche Tierbuch Physiologus aus dem zweiten Jahrhundert erzählt von diesem Tier:

  • Elifas, der König von Theman, sagte: [Hiob 4:11]: „Der Ameisenlöwe ging zugrunde, weil er keine Speise fand.“ Der Physiologus sagte vom Ameisenlöwen, er sei vorne wie ein Löwe, hinten aber wie eine Ameise. Das Vatertier frisst Fleisch, die Mutter aber kaut Hülsenfrüchte. Wenn sie nun den Ameisenlöwe zeugen, zeugen sie ihn als ein Wesen von zweifacher Natur: Er kann kein Fleisch fressen wegen der Natur seiner Mutter und keine Hülsenfrüchte wegen der Natur seines Vaters; also geht er zugrunde, weil er keine Nahrung findet. (Übersetzung Schönberger)6

So wurde der Bibelvers „erklärt“. Wie es mit dem Überleben der Art weiter gehen soll, interessierte den Autor offenbar nicht. Möchten Sie die Predigt noch hören? Hier kommt sie:

  • So ist auch ein Mann mit zwei Seelen unbeständig auf all seinen Wegen (Jak. 1:7f). Man soll nicht auf zwei Wegen wandeln noch doppelzüngig reden beim Gebet. Wehe nämlich, heißt es, einem gespaltenen und sündigen Herzen, das auf zwei Wegen wandelt (Sirach 2:12). Es ist nicht schön, Ja Nein und Nein Ja zu sagen, sondern sprich Ja Ja und Nein Nein, wie es unser Herr Jesus Christus gesagt hat. (Mt 5:37, 2 Kor. 1:17f).
    Schön also hat der Physiologus vom Ameisenlöwen gesprochen.6

Findet er selbst! Es gibt Augenblicken, in denen ich es bedauere, dass das Christentum die westliche Welt erobert hat. Nun ja, davor hatte man viel mehr Götter, Opfer, Kaiserkult, Massaker in Arenen und viel weniger Nächstenliebe.

ANMERKUNGEN
1. Aristoteles, Historia Animalium 623a: Τῶν δ’ ἀραχνίων καὶ τῶν φαλαγγίων ἔστι πολλὰ γένη, τῶν μὲν δηκτικῶν φαλαγγίων δύο, τὸ μὲν ἕτερον ὅμοιον τοῖς καλουμένοις λύκοις μικρὸν καὶ ποικίλον καὶ ὀξὺ καὶ πηδητικόν· καλεῖται δὲ ψύλλα· τὸ δ’ ἕτερον μεῖζον, τὸ μὲν χρῶμα μέλαν, τὰ δὲ σκέλη τὰ πρόσθια μακρὰ ἔχον, καὶ τῇ κινήσει νωθρὸν καὶ βαδίζον ἠρέμα καὶ οὐ κρατερὸν καὶ οὐ πηδῶν. Τὰ δ’ ἄλλα πάντα, ὅσα παρατίθενται οἱ φαρμακοπῶλαι, τὰ μὲν (623a.) οὐδεμίαν τὰ δ’ ἀσθενῆ ποιεῖ τὴν δῆξιν. Ἄλλο δ’ ἐστὶ τῶν καλουμένων λύκων γένος.
2. Job 4:11: לַיִשׁ אֹבֵד מִבְּלִי-טָרֶף וּבְנֵי לָבִיא יִתְפָּרָדוּ.
3. Job 4:11, LXX: μυρμηκολέων ὤλετο παρὰ τὸ μὴ ἔχειν βοράν, σκύμνοι δὲ λεόντων ἔλιπον ἀλλήλους.
4. Hdt. Hist. iii, 102.2: ἐν δὴ ὦν τῇ ἐρημίῃ ταύτῃ καὶ τῇ ψάμμῳ γίνονται μύρμηκες μεγάθεα ἔχοντες κυνῶν μὲν ἐλάσσονα ἀλωπέκων δὲ μέζονα: εἰσὶ γὰρ αὐτῶν καὶ παρὰ βασιλέι τῷ Περσέων ἐνθεῦτεν θηρευθέντες. οὗτοι ὦν οἱ μύρμηκες ποιεύμενοι οἴκησιν ὑπὸ γῆν ἀναφορέουσι τὴν ψάμμον κατά περ οἱ ἐν τοῖσι Ἕλλησι μύρμηκες κατὰ τὸν αὐτὸν τρόπον, εἰσὶ δὲ καὶ αὐτοὶ τὸ εἶδος ὁμοιότατοι: ἡ δὲ ψάμμος ἡ ἀναφερομένη ἐστὶ χρυσῖτις.
5. Tim. Gaz., De animalibus (Περὶ ζῴων), xxxii, 2,3, Hrsg. Haupt 1869, 20; Übers. Rabinowitz und Bodenheimer 1949, 37.
6. Physiologus (Φυσιολόγος) , Griechisch/Deutsch, Hrsg und Übers. Otto Schönberger, Stuttgart 2001, Nr. 20, S. 37: Ἐλιφὰζ ὁ Θαιμανῶν βασιλεὺς ἔλεξε˙ «μυρμηκολέων ὤλετο παρὰ τὸ μὴ ἔχειν βοράν». ὁ Φυσιολόγος ἔλεξε περὶ τοῦ μυρμηκολέοντος ὃτι τὰ μὲν ἐμπρόσθια ἔχει λέοντος, τὰ δὲ ὀπίσθια μύρμηκος. ὁ μὲν πάτηρ σαρκοφάγος ἐστίν, ἡ δὲ μήτηρ ὄσπρια τρώγει. ὃταν δὲ γεννῶσι τὸν μυρμηκολέοντα, γεννῶσιν αὐτὸν δυο φύσεις ἔχοντα, καὶ οὐ δύναται φαγεῖν κρέα διὰ τὴν φύσιν τῆς μητρός οὐδε ὄσπρια διὰ τὴν φύσιν τοῦ πατρός˙ απόλλυται οὔν διὰ τὸ μὴ ἔχειν τροφήν.
Οὓτω καὶ πᾶς ἀνὴρ δίψυχος ἀκατάστατος ἐν πάσαις ταῖς ὁδοῖς αὐτοῦ. οὐ χρὴ βαδίζειν δύο τρίβους οὐδὲ δισσὰ λέγειν ἐν τῃ προσευχῇ· οὐαὶ γάρ, φησί, καρδίᾳ δισσῇ καὶ ἁμαρτωλῷ ἐπιβαίνοντα ἐπὶ δύο τρίβους. οὐ καλὸν εἰπεῖν τὸ ναὶ οὖ, καὶ τὸ οὖ ναί, ἀλλὰ τὸ ναὶ ναί, καὶ τὸ οὖ οὖ, καθὼς εἶπεν ὁ Κύριος ἡμῶν Ἰησοῦς Χριστός.
Καλῶς οὖν ἔλεξεν ὁ Φυσιολόγος περὶ τοῦ μυρμηκολέοντος

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Eine Ameise auf der Seidenstraße

Während ich an einem arabischen Text von Djibrīl ibn Nūḥ al-Anbārī (9. Jahrhundert) arbeitete, wurde ich in einem Fragment nicht nur in die griechisch-römische Antike hineingezogen, sondern auch in die chinesische! Das einschlägige Fragment war eine Beschreibung des Laufs der Fixsterne und Planeten: 

  • Denke mal an die Sterne und den Unterschied in ihren Umlaufbahnen. Einige verlassen ihren Platz am Firmament nicht und bewegen sich nur als Gruppe, andere bewegen sich durch den ganzen Tierkreis und haben ihre eigenen Kreisbahnen. So hat jeder Stern der letzteren Art zwei verschiedene Umlaufbahnen: eine allgemeine zusammen mit dem Himmelsgewölbe nach Westen und die andere eine Eigenbewegung nach Osten. Die Alten haben einen so losen Stern mit einer Ameise verglichen, die auf einem Mühlstein krabbelt. Der Mühlstein beschreibt einen Kreis nach rechts und die Ameise bewegt sich nach links, so dass die Ameise in dieser Situation zwei verschiedene Bewegungen ausführt: eine unabhängige, geradeaus und die andere unfreiwillig, zusammen mit dem Mühlstein, der sie nach hinten zwingt.1

Wer sind diese „Alten“? Ich fing an, in antiken griechischen Texten zu stöbern und fand etwas über den Himmel als Mühlstein oder Rad. Auch zur entgegengesetzten Bewegung der Planeten war einiges zu finden. Aber woher kam die Ameise? Für einen Nicht-Altphilologe ist es oft schwierig, den Weg in den altgriechischen Texten zu finden. Deshalb freute es mich, dass Dr. Stefan Hagel aus Wien mich auf einige griechische Texte aufmerksam machte, in denen die Ameise vorkommt und von denen ein Fragment von Kleomedes wohl das wichtigste ist. Über ihn ist wenig bekannt, aber er zitiert viel von Posidonius, der von ± 135–51 v. Chr. lebte und auch als Hersteller einer Planetenmaschine bekannt war. Der Mechanismus von Antikythera,2 ein astronomischer Rechenmaschine, die u.a. die Position von Sonne, Mond, Fixsternen und Planeten berechnen konnte, datiert ebenfalls aus dieser Zeit. In Kleomedes‘ Caelestia (Über die Kreisbewegungen von Himmelskörpern) steht Folgendes:

  • Der Himmel, der sich oberhalb der Luft und der Erde herumdreht und diese seine dem Wohl und der Erhaltung der ganzen Welt angepaßte Bewegung vollzieht, muß notwendigerweise bei dieser Bewegung auch alle Gestirne, die er einschließt, mitführen. Von diesen vollführen nun einige die einfachste Bewegung, indem sie lediglich von der Weltkugel mit herumgedreht werden und immer die gleiche Stellung am Himmel einnehmen. Andere Sterne aber werden zwar auch mit dem Himmelsgewölbe herumgeführt, weil sie an ihm haften, sie haben aber außerdem auch noch eine Eigenbewegung, kraft deren sie ihre Stellung am Himmel verändern. Diese ihre Eigenbewegung ist langsamer als die Bewegung des Himmelsgewölbes. Sie ist auch der Bewegung des Himmelsgewölbes entgegengesetzt, nämlich von Westen nach Osten gerichtet.
    Jene Sterne heißen Fixsterne, diese Wandelsterne, da sie an anderen und anderen Stellen des Himmels gesehen werden. Die Fixsterne können wir vergleichen mit den Reisenden auf einem Schiff, welche währen der Fahrt auf ihren Plätzen bleiben, die Wandelsterne aber können wir mit Menschen vergleichen, die auf dem Schiff während der Fahrt vom Vorderdeck zum Hinterdeck gehen, während diese Bewegung langsamer ist als die Bewegung des Schiffes. Wir könnten sie auch mit Ameisen vergleichen, die auf einer@ sich herumdrehenden Töpferscheibe sich in einem der Drehung des Rades entgegengesetzten Sinne bewegen.

Mühlstein oder Töpferscheibe? Sie kommen beide vor. In der antiken griechischen Philosophie wird der Kosmos manchmal mit einem sich drehenden Mühlstein (Anaximenes) und manchmal mit einem Rad, τροχός, verglichen, das auch eine Töpferscheibe sein kann (Anaximander). Dies wird auch bei Theodoretus von Cyrrhus (± 393–458) erwähnt.4

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In der Zwischenzeit hatte ich auch Google für meine Suche verwendet, und dort erschien ein ähnlicher Text, der sogar die Ameise enthält. Er wurde verfasst von Luo Xia Hóng (ca. 130–70 v. Chr.):

  • Sowohl Sonne als Mond bewegen sich nach rechts und zur gleicher Zeit müssen sie den Himmeln folgen, die nach links drehen. Obwohl sich sowohl die Sonne als auch der Mond in Wirklichkeit nach Osten bewegen, werden sie [durch die Drehung der Himmel] mitgeschleppt, so dass sie im Westen unterzugehen scheinen. Dies ist analog zu einer Ameise, die auf einem Mühlstein krabbelt. Während sich der Mühlstein nach links [im Uhrzeigersinn] dreht, versucht die Ameise, nach rechts [im Gegenuhrzeigersinn] zu bewegen. Aber die Drehung des Mühlsteins ist viel schneller als die Bewegung der Ameise. Wir sehen dann, dass die Ameise gezwungen wird, der Bewegung des Mühlsteins zu folgen und sich anscheinend nach links [im Uhrzeigersinn] bewegt. 5

Obwohl es im chinesischen Text nicht um Planeten geht, ist die Ähnlichkeit mit dem griechischen Text viel zu groß, um zufällig zu sein. Das Rad und die Flöte dürften an mehreren Orten in der alten Welt unabhängig von einander erfunden worden sein, aber bei einem so spezifischen Text ist das nicht denkbar: Der kann nur überliefert worden sein. Es muss also mehr als nur Handelskontakte zwischen der griechisch-römischen Welt und dem alten China gegeben haben. Auch dazu konnte Dr. Hagel etwas sagen, aber Patrick Huang aus London hat hier ebenfalls geholfen. Sie erwähnten den intellektuellen Austausch zwischen dem Hof ​​des chinesischen Kaisers Hàn Wǔdì (156–87 v. Chr.) und dem hellenistischen Griechisch-Baktrischem Reich zur Zeit des oben genannten Astronomen Luo Xia Hóng. Zur gleichen Zeit war der Handelsverkehr auf der Seidenstraße gut angelaufen, nach Erkundungsreisen und zwei Militärexpeditionen von chinesischer Seite, und es wurde nicht nur Seide transportiert. Zumindest nach Persien und Indien wurde auch chinesische Wissenschaft exportiert, das war schon früher bekannt.

Natürlich gab es nicht nur die drei hier zitierten Texte. Es muss alle möglichen Bearbeitungen und Zwischenversionen gegeben haben. Aber diese entgegengesetzten Bewegungen, eine erzwungene und eine „freiwillige“, sowie das kleine Detail über die Ameise, kommen immer wieder vor.

Wer war der erste mit dieser Ameise? Hat sich das Tierchen von West nach Ost oder umgekehrt bewegt? Das ist noch nicht klar.

ANMERKUNGEN
1. Djibril ibn Nūḥ, Al-Iʿtibār:

فكِّر في النجوم واختلاف سيرها. ففرقة منها لا تريم مراكزها من الفلك ولا تسير الاّ مجتمعة، وفرقة مطلقة تتنقل في البروج وتفترق في مسيرها. فكل واحد منها يسير مسيرين مختلفين: أحدهما عام مع الفلك نحو المغرب والآخر خاص لنفسه نحو المشرق. وقد شبه الأولون هذه المطلقة بنملة تدب على رحى. فالرحى تدور ذات اليمين والنملة تدور ذات اليسار، فان النملة على تلك الحال تتحرّك حركتين مختلفتين: احداهما بنفسها متوجّهة أمامها والأخرى مستكرهة مع الرحى تجذبها الى خلفها.

2. Ich danke Hans Rottier, der mich auf diesen Mechanismus hingewiesen hat.
3. Sowohl Dr. Hagel als die Kleomedes-Übersetzer Bowen en Todd verweisen noch auf andere griechischen Texte in denen die Ameise vorkommt.
Die deutsche Übersetzung ist von → Czwalina. Sein „tönernes Rad“ für κεραμεικός τροχός habe ich durch „Töpferscheibe“ ersetzt. Präziser ist die englische Übersetzung von → Bowen und Todd:
II, 1: As the heavens revolve in a circle above the air and the Earth, and effect this motion as providential for the preservation and continuing stability of the whole cosmos, they also necessarily carry round all the heavenly bodies that they encompass. Of these, then, some have as their motion the simplest kind, since they are revolved by the heavens, and always occupy the same places in the heavens. But others move both with the motion that necessarily accompanies the heavens (they are carried round by them because they are encompassed), and with still another motion based on choice through which they occupy different parts of the heavens at different times. This second motion of theirs is slower than the motion of the cosmos, and they also seem to go in the opposite direction to the heavens, since they move from west to east. 
12: The first [set of bodies] is called “fixed,” but the second “planets,” since these appear at different times in different parts of the heavens. The fixed bodies might be likened to passengers who are borne along by a ship, yet remain in their assigned places in relation to the overall space. The planets, by contrast, are like passengers who move in an opposite direction to the ship (toward the stern from positions at the prow) with a relatively slower motion. They could also be likened to ants creeping on the basis of choice on a potter’s wheel in a motion opposite to [that of ] the wheel. 
Das griechische Original: Cleomedes, Caelestia 28.18-30.15/ii, 1-20:: Ὁ τοίνυν οὐρανός, κύκλῳ εἰλούμενος ὑπὲρ τὸν ἀέρα καὶ τὴν γῆν καὶ ταύτην τὴν κίνησιν προνοητικὴν οὖσαν ἐπὶ σωτηρίᾳ καὶ διαμονῇ τῶν ὅλων ποιούμενος, ἀναγκαίως καὶ πάντα τὰ ἐμπεριεχόμενα αὐτῷ τῶν ἄστρων περιάγει. τούτων τοίνυν τὰ μὲν ἁπλουστάτην ἔχει τὴν κίνησιν, ὑπὸ τοῦ κόσμου στρεφόμενα καὶ διὰ παντὸς τοὺς αὐτοὺς τόπους τοῦ οὐρανοῦ κατέχοντα· τὰ δὲ κινεῖται μὲν καὶ τὴν σὺν τῷ κόσμῳ κίνησιν ἀναγκαίως, περιαγόμενά γε ὑπ᾿ αὐτοῦ διὰ τὴν ἐμπεριοχήν, κινεῖται δὲ καὶ ἑτέραν προαιρετικήν, καθ᾿ ἣν [καὶ] ἄλλοτε ἄλλα μέρη τοῦ οὐρανοῦ καταλαμβάνει. αὕτη δὲ ἡ κίνησις αὐτῶν σχολαιοτέρα ἐστὶ τῆς τοῦ κόσμου κινήσεως· δοκεῖ δὲ καὶ τὴν ἐναντίαν κινεῖσθαι τῷ οὐρανῷ, ὡς ἀπὸ τῆς δύσεως ἐπὶ τὴν ἀνατολὴν φερόμενα. τὰ μὲν οὖν πρῶτα αὐτῶν καλεῖται ἀπλανῆ, ταῦτα δὲ πλανώμενα, ἐπειδὴ ἄλλοτε ἐν ἄλλοις μέρεσι τοῦ κόσμου φαντάζεται. τὰ μὲν οὖν ἀπλανῆ ἀπεικάσειεν ἄν τις ἐπιβάταις ἐπὶ νεὼς φερομένοις, ἐν τόποις οἰκείοις κατὰ χώραν μένουσι, τὰ δὲ πλανώμενα τὴν ἐναντίαν τῇ νηῒ φερομένοις ἀνθρώποις ὡς ἐπὶ τὴν πρύμναν ἀπὸ τῶν κατὰ τὴν πρώραν τόπων, ταύτης τῆς κινήσεως σχολαιοτέρας γινομένης. εἰκασθείη δ᾿ ἂν καὶ μύρμηξιν ἐπὶ κεραμεικοῦ τροχοῦ τὴν ἐναντίαν τῷ τροχῷ προαιρετικῶς ἕρπουσιν.
4. Diels/Kranz, Fragmente i, 93: καὶ οἱ μὲν μυλοειδῶς, οἱ δὲ τροχοῦ δίκην περιδινεισθαι, sc. τὸν κόσμον. Theodoretus, Graec. aff. cur. iv, 16 (Scholten)@.
5. Ho Peng Yoke, Li, Qi and Shu, 127: ‘Both the sun and the moon move towards the right, and at the same time they have to follow the heavens, which rotate towards the left. Hence, although in reality both the sun and the moon are moving eastwards, they are being dragged along by (the rotation of the heavens) so that they appear to set in the west. This is analogous to an ant crawling on a mill-stone, such that while the millstone is rotating towards the left (clockwise), the ant is attempting to move to the right (anti-clockwise). But the rotation of the mill-stone is much faster than the motion of the ant. It can be seen that the ant is compelled to follow the motion of the mill-stone, and that apparently it is moving towards the left (clockwise).’
Meine obige Übersetzung ist aus diesem Englisch. Patrick Huang sandte mir den chinesischen Text, den ich selbst nicht lesen kann. Einer von Ihnen vielleicht?

又《周髀》家云:「天圓如張蓋,地方如棋局。#天旁轉如推磨而左行,日月右行,隨天左轉,故日月實東行,而天牽之以西沒。譬之於蟻行磨石之上,磨左旋而蟻右去,磨疾而蟻遲,故不得不隨磨以左迴焉#。天形南高而北下,日出高,故見;日入下,故不見。天之居如倚蓋,故極在人北,是其證也。極在天之中,而今在人北,所以知天之形如倚蓋也。日朝出陽中,暮入陰中,陰氣暗冥,故沒不見也。夏時陽氣多,陰氣少,陽氣光明,與日同輝,故日出即見,無蔽之者,故夏日長也。冬天陰氣多,陽氣少,陰氣暗冥,掩日之光,雖出猶隱不見,故冬日短也。」

BIBLIOGRAPHIE
– Hermann Diels en Walther Kranz (Hrsg., Übers.), Fragmente der Vorsokratiker, Griechisch und Deutsch, 3 Bde., Zürich/Hildesheim 1951–52 (Nachdruck 1989-90).
– Djibril ibn Nūḥ al-Anbārī, Kitāb al-iʿtibār fī al-malakūt: ich arbeite an einer Ausgabe aus den Handschriften.
– Kleomedes: Cleomedes, Caelestia (Μετέωρα), die Teubner-Ausgabe von 1990 steht mir momentan nicht zur Verfügung.
– Kleomedes, Die Kreisbewegung der Gestirne, Übers. Arthur Czwalina, Leizpig 1927.
Cleomedes‘ Lectures on Astronomy. A Translation of The heavens. With an Introduction and Commentary by Alan C. Bowen and Robert B. Todd, Berkely/Los Angeles/London (University of California Press) 2004.
– Ho Peng Yoke, Li, Qi and Shu. An Introduction to Science and Civilization in China, Mineola NY (Dover) 1985.

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Islamische Verkündigung

Nicht nur die Geburt Jesu wurde seiner Mutter verkündet, auch die des Mohammeds. So will es wenigstens ein kurzer, schwer datierbarer Text (zwischen 650-750 AD):

  • Die Menschen erzählen—und nur Gott weiß, was wahr ist—dass Āmina, die Mutter des Propheten, erzählt hat, während ihrer Schwangerschaft sei [eine Stimme?] zu ihr gekommen, die gesprochen habe: „Du bist schwanger mit dem Herrn dieses Volkes. Wenn er geboren wird, sag dann: ‘Lass den Einzigen ihn behüten vor dem Übel eines jeden Neiders,‘ und nenne ihn Mohammed.“ Als sie schwanger mit ihm gewesen sei, habe sie gesehen, wie ein Licht von ihr ausgegangen sei, in dem sie die Festungen von Busrā in Syrien habe sehen können.1

War es ein Engel, der zu Āmina kam? Wir wissen es nicht. Im Arabischen stehen hier passive Verbalformen: „Es wurde zu ihr gekommen … ihr wurde gesagt.“ Wer oder was das tat, bleibt ungesagt. 
Das Licht, durch das Festungen sichtbar wurden, die sich mehr als tausend Kilometer von Mekka befanden, ist das wundersame, von Ewigkeit an existierende „Licht Mohammeds“ (nūr Muhammad). In Busrā fing das Römerreich an. Die Āmina zugeschriebene Aussage verweist auf die künftige Eroberung dieses Reiches. Die Beschwörungsformel, die sie aussprechen soll, erinnert an die Suren 113 und 114 im Koran. Die beiden Suren (al-mu‘awwidhātān) schützen vor dem Bösen.

Überdies fällt die Übereinstimmung mit der biblischen Verkündigung ins Auge. Im Lukasevangelium bekommt der Vater von Johannes dem Täufer Besuch des Engels Gabriel, der dem Kind eine große Zukunft weissagt und sagt, dass er Johannes heißen solle. Auch die Mutter Jesu bekommt kurz vor ihrer Schwangerschaft Besuch von ihm. Zu ihr sagt der Engel:

  • Sei gegrüßt, Begnadigte! Der Herr [ist] mit dir. […] Fürchte dich nicht, Maria! Denn du hast Gnade bei Gott gefunden. Und siehe, du wirst schwanger werden und einen Sohn gebären, und du sollst ihm seinen Namen Jesus nennen. Dieser wird groß sein und Sohn des Höchsten genannt werden […].2

Die Verkündigungen an Āmina und an Maria haben einiges gemeinsam: 1. Besuch einer Stimme(?), bzw. eines Engels. 2. Verkündigung der Geburt eines großen Mannes. 3. Auftrag zur Namensgebung. 

Kurzum, die arabische Erzählung bedient sich nicht nur des Korans, sondern auch der biblischen oder einer sehr verwandten Erzählung. Sie tut das, weil sie in einer Umgebung entstanden ist, in der der neue Prophet Mohammed sich gegenüber den längst existierenden „Propheten“ der Juden und Christen durchsetzen musste. Sie versucht eine christliche Verkündigung durch eine islamische zu ersetzen.

ANMERKUNGEN
1. Ibn Isḥāq: Das Leben Muhammed’s nach Muhammed Ibn Ishâk bearbeitet von Abd el-Malik Ibn Hischâm, hg. F. Wüstenfeld, Göttingen 1858–60, 102. Übers. G. Rotter: Ibn Isḥāq, Das Leben des Propheten, Kandern 1999, 30. ويزعمون – فيما يتحدث الناس والله أعلم – أن آمنة بنت وهب أم رسول الله ص كانت تحدث أنها أتيت، حين حملت برسول الله ص فقيل لها: أنك قد حملت بسيد هذه الأمة، فإذا وقع إلي الأرض فقولي: أعيذه بالواحد من شر كل حاسد ثم سمّيه محمدًا. ورأت حين حملت به أنه خرج منها نور رأت به قصور بُصْرى من أرض الشأم.
2. Bibel, Lukas 1:26–38.

Diakritische Zeichen: Buṣrā, nūr Muḥammad, al-muʿawwiḏātān

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Der Drache und die Wolken: ein Gottesbeweis

Ein weiteres Fragment aus dem arabischen, überwiegend christlichen Werk Kitāb al-iʿtibār fī al-malakūt von Djibrīl ibn Nūḥ, eine Sammlung von ungefähr hundert teleologischen Gottesbeweisen (arguments from design), wahrscheinlich aus dem neunten Jahrhundert. Hier hatte ich schon mal etwas zu diesem Text erzählt und ein Fragment zum Rüssel des Elefanten präsentiert. Aus demselben Text hatte ich bereits Einträge zur Dummheit von Babys, den Penis des Mannes, die menschliche Stimme, den schreienden Hirsch und die Giraffe veröffentlicht. Bei der Drache ist nicht das Tier selbst Gottesbeweis, sondern der wundersame Schutz, den Gott den Menschen vor ihm bietet:

  • Hast du gehört, was über den Drachen (tinnīn) und die Wolken gesagt wird? Man sagt, dass die Wolken sozusagen angewiesen werden, ihn an sich zu reißen, sobald sie ihn finden, genau wie ein magnetischer Stein (ḥajar al-maghnāṭīs) Eisen an sich reißt. Deshalb streckt ein Drache aus Angst vor den Wolken seinen Kopf nicht aus den Tiefen der Erde heraus und kommt nur gelegentlich heraus, wenn der Himmel klar und wolkenlos ist.
    Warum wurden die Wolken angewiesen, dem Drachen aufzulauern und ihn an sich zu reißen, wenn sie ihn finden, wenn nicht um die Menschheit vor den Schäden zu schützen, die er anrichtet?
    Wenn du nun fragst, warum der Drache überhaupt erschaffen wurde, lautet unsere Antwort: „Um [den Menschen] Angst einzuflößen und sie einzuschüchtern und als vorbildliche Bestrafung zur rechten Zeit. Er ist mit einer Peitsche zu vergleichen, die in einem Haus hängt um die Bewohner zu erschrecken und die gelegentlich von der Wand genommen wird zur Bestrafung und zur Ermahnung.“1

Der tinnīn ist ein großes Tier aus dem Nahen Osten, das bereits in ugaritischen Texten vorkommt. In der hebräischen Bibel ist תַּנִּין, תַּנִּינִים, tannīn, pl. tannīnīm, ein bösartige und bedrohliche Bestie, groß und meistens im Wasser zu anzutreffen, zum Beispiel ein vielköpfiges Seemonster, manchmal Leviathan genannt (z. B. Jesaja 27: 1), aber es kann auch eine Schlange oder ein Krokodil sein.2
In der griechischen Bibelübersetzung der Septuaginta wird das Wort manchmal mit κήτος, kètos übersetzt, aber meist mit δράκων, drakōn, „Drache“.
Auf Syrisch heißt er ܬܢܝܢܐ tannīnā, pl. tannīnē, was „Drache“ bedeutet, aber auch „Draco“, d. h. die Konstellation dieses Namens. Auch in der syrischen Bibel kommt tannīnā vor, aber ich habe nicht alle Stellen überprüft.

Bei Aristoteles (HA viii) fand ich δράκων, drakōn, nur als Name für eine bestimmte Art von Schlangen, nicht für etwas Größeres. Älian, der römische Tierautor des zweiten Jahrhunderts, kannte große Drachen. In Äthiopien werden ihm zufolge die Bestien bis zu 180 Fuß lang, in Phrygien bis zu 60 Fuß. Sie schnappen ganze Vögel aus der Luft und liegen auf der Lauer um die Schafe abzufangen, die am Abend von der Weide zurückkehren. Unter ihnen richten sie ein Gemetzel an; manchmal nehmen sie auch den Schäfer mit. Eine lustige Lektüre, aber nicht relevant für unseren Text. (Ael. NA ii, 11)

Laut al-Djāḥiẓ, dem arabischen Tierschriftsteller des neunten Jahrhunderts, ist der tinnīn das größte Tier, das es überhaupt gibt.3 Es wurde in Syrien und Bahrein gesichtet. Er erzählt, dass in Anṭākiya (Antiochien) ein Drache aus dem Meer gekommen war, der eine verheerende Spur durch die Region gezogen und das obere Drittel eines Minaretts durch einen Schlag mit seinem Schwanz zerstört hatte.4
Des Weiteren berichtet er von einer ziemlich heftigen Meinungsverschiedenheit über die Frage, ob der tinnīn wirklich existiert: Einige leugneten seine Existenz, andere versicherten, sie hätten tatsächlich einen gesehen.5

Der Kosmograph und Enzyklopädist al-Qazwīnī lebte im 13. Jahrhundert. Seit al-Djāḥiẓ hatte sich das Wissen über den Drachen stark vermehrt. Er schreibt:

  • [Der tinnīn] ist ein Thier von gewaltig grosser Körperform, furchtbarem Anblick, sehr langer und breiter Statur, grossem Kopf, funkelnden Augen, weitem Maule und Bauche, mit zahlreichen Zähnen, das eine unberechenbare Anzahl von Geschöpfen verschlingt und das die Wasserthiere wegen seiner gewaltigen Kraft fürchten …, usw. (Übers. Ethé)6

Auch die Schäden in Anṭākiya waren im Laufe der Jahrhunderte viel größer geworden. Laut al-Qazwīnī hätte das Monster nicht ein Drittel eines Minaretts, sondern zehn Türme der Stadtmauer zerstört! Dieser Autor hat noch mehr Wundersames über den Drachen zu berichten. Es gibt eine lange Geschichte darüber, wie er anfangs ein Landtier war, aber die anderen Landtiere beschwerten sich bei dem Herrn, weil er so viele von ihnen fraß. Dann sandte Gott einen Engel, der ihn aufhob und ins Meer warf. Nach einer Weile hatten die Meerestiere den gleichen Grund, sich zu beschweren „und nun entsendet Gott abermals einen Engel zu ihm, um seinen Kopf aus dem Meere herauszuholen. Da senkt sich eine Wolkenmasse zu ihm herab, trägt ihn mit sich fort und schleudert ihn zu Gog und Magog.“ (Übers. Ethé)7
Auch hier sind es Wolken, mit denen das Monster gezähmt wird. Und es gibt noch ein anderes Fragment mit Wolken:

  • Man sagt ferner: das über ihn zur Aufsicht gestellte Gewölk entrückt ihn, wo immer es ihn erblickt, gerade so wie der Magnetstein das Eisen an sich zieht und entrückt. Er hebt daher seinen Kopf nicht aus dem Wasser empor, aus Furcht vor dem Gewölk, kommt auch nur mitten im Sommer heraus, wenn die Welt heiter und wolkenlos ist. (Übers. Ethé)8

Dies entspricht weitgehend einigen Sätzen aus dem Text von Gibril ganz oben—auf Arabisch noch mehr als in den Übersetzungen. Philologen sind immer froh, so eine Übereinstimmung zu entdecken, denn sie gibt Aufschluss darüber, wie ein Text übertragen wurde und wie die Ideen reisten. Es ist denkbar, dass al-Qazwīnī von Gibrils Text abgeschrieben hat, aber notwendig ist das nicht: Es kann eine Zwischenstufe gegeben haben, oder beide Autoren hatten eine gemeinsame Quelle.

Natürlich zweifelten Seefahrer nicht an der Existenz des tinnīn; sie hatten ja manchmal beängstigende Erfahrungen mit ihm. In einem Text aus dem 9. oder 10. Jahrhundert heißt es:

  • Im Meer soll es riesige, furchterregende Schlangen geben, die tinnīn genannt werden. Wenn mitten im Winter die Wolken über die Meeresoberfläche streichen, erhebt sich der tinnīn aus dem Wasser, weil er unter der Hitze des Meeres leidet, denn im Winter ist das Meerwasser so warm wie ein Kochtopf. Der tinnīn ist in der Kälte der Wolken gefangen, und wenn der Wind sich über die Meeresoberfläche erhebt, steigen die Wolken auf und nehmen ihn mit. Die sich auftürmenden Wolken bewegen sich von einer Seite des Horizonts zur anderen, und wenn sie ihren Regen verloren haben, werden sie zu leichten Staubwolken, die in der Luft schweben und vom Wind zerstreut werden. Der tinnīn hat nichts mehr, was ihm Halt gibt und fällt ins Meer oder aufs Land. Wenn Gott Böses mit einem Volk vorhat, lässt er einen auf ihrem Land los, wo er die Kamele, Pferde, Rinder und Schafe verschlingt und zerstört. Der tinnīn bleibt dort, bis er nichts mehr zu essen findet und stirbt, oder bis Gott die Menschen von ihm befreit.
    Seeleute und Reisende, Kaufleute und Kapitäne haben mir erzählt, dass sie ihn mehrmals über ihren Köpfen vorbeiziehen sahen: schwarz und länglich in den Wolken. Wenn sich die Wolken senken, steigt er bis zur untersten Schicht hinab und lässt manchmal das Ende seines Schwanzes in der Luft hängen. Aber wenn er die Kälte der Luft spürt, bewegt er sich weg, steigt in die Wolke auf und wird unsichtbar. Gepriesen sei Gott, der beste aller Schöpfer!“9

Trombe

ANMERKUNGEN
1.

هل سمعت ما يتحدث به عن التنّين والسحاب؟ فانّه يقال انّ السحاب كالموكل به يختطفه حيث ما ثڤفه كما يختطف حجر المغناطيس الحديد، حتّى صار لا يطلع رأسه من بطن الأرض خوفًا من السحاب، ولا يخرج في الفرط الاّ مرة اذا أصحت السماء فلم تكن فيها نكتة من غيم. فلِم وكِّل السحاب بالتنّين يرصده ويختطفه اذا وجده الاّ ليرفع عن الناس مضرته؟ فان قلت: ولم خُلق التنّين أصلاً؟ قلنا: للتخويف والترهيب والنكال في موضع ذلك. فهو كالسوط المعلَّق يخوّف به أهل البيت وينزل أحيانًا للتأديب والموعظة.

2. Michaela Bauks, Art. ‘Tannin von 2019 in Das Wissenschaftliche Bibellexikon im Internet (WiBiLex).
3. Al-Djāḥiẓ, Ḥayawān vii: 105.
4. Al-Djāḥiẓ, Ḥayawān iv: 154.

ومِمَّا عظَّمها وزادَ في فَزَع النَّاس منها الذي يرويه أهل الشام وأهْل اْلبَحْرَيْن وأهل أنطاكِيََة وذلك أنِّي رأيتُ الثلث الأعلى من منارة مسجد أنطاكِية أظهرَ جدًَّة من الثلثين الأسفلين فقلت لهم: ما بال هذا الثلثِ الأعلى أجدَّ وأطْرى؟ قالوا: لأنّ تِنِّينًا تَرَفّعَ مِنْ بَحْرنا هذا، فكان لا يمرُّ بشيءٍ إلاّ أهلكه. فمرَّ على المدينة في الهواء محاذيًا لرأس هذه المنارة وكان أعلى ممَّا هي عليه فضربه بذنبهِ ضَرْبًَة حَذفت من الجميع أكثرَ من هذا المقدار فأعادوه بعد ذلك ولذلك اختلفَ في المنْظر.

5. Al-Djāḥiẓ, Ḥayawān iv: 155:

الخلاف في التنين ولم يزل أهل البقاع يتدافعون أمْرَ التِّنِّين ومن العجب أنّكَ تكون في مجلس وفيه عِشروُن رَجُلا فيجري ذكرُ التِّنِّين فينكرهُ بعضهم وأصحاب التثبت يدَّعون العِيان والموضع قريب ومَنْ يعاينهُ كثير وهذا اختلافٌ شديد.

6. Al-Qazwīnī, ‘Adjā’ib 132:

تنين حيوان عظيم الخلقة هائل المنظر طويل الجثة عريضها كبير الرأس براق العينين واسع الفم والجوف كثير الأسنان يبلع من الحيوانات عددا لا يحصى تخافه حيوانات الماء لشدة قوّته … الخ.

7. Al-Qazwīnī, ‘Adjā’ib 132. Gog und Magog wohnten irgendwo im Kaukasus.

فيبعث الله اليها ملَكا ليخرج رأسها من البحر فيتدلى لها سحاب لها سحاب فيحتملها ويلقيها الى ياجوج وماجوج.

8. Al-Qazwīnī, ‘Adjā’ib 133., Übers. Éthé 272.

ويقال انّ السحاب الموكل به يختطفه حيث ما رآه كما يختطف حجر المغناطيس الحديد، فهو لا يطلع رأسه من الماء خوفًا من السحاب، ولا يخرج في القيظ اذا أصحت السماء..

9. Ar-Rāmhurmuzī, ‘Adjā’ib al-Hind, 41-42:

وحدثت أن في البحر حيات يقال له التنين عظيمة هايلة إذا مرت السحاب في كبد الشتاء على وجه الماء خرج هذا التنين من الماء ودخل فيه لِما يجد في البحر من حرارة الماء لان ماء البحر في الشتاء يسخن كالمرجل فيُسجَن هذا التنين ببرودة السحاب فيها وتهبّ الرياح على وجه الماء فترفع السحاب عن الماء ويستقلّ التنين في السحاب وتتراكم وتسير من أفق الى أفق فإذا استفرغت مما فيها من الماء خفّت وصارت كالهباء وتفرّقت وقطعتها الرياح فلا يجد التنين ما يتحامل عليه فيسقط إما في بحر وإما في البر فاذا أراد الله تعالى بقوم شرا أسقطه في أرضها فيبتلع جمالهم وخيلهم وأبقارهم ومواشيهم ويهلكهم ويبقى حتى لا يجد شيئا يأكله فيموت أو يهلكه الله سبحانه عنهم.

BIBLIOGRAPHiE
– Al-Djāḥiẓ, Kitāb al-Ḥayawān, Hrsg und Kommt. ‘Abd al-Salām Muḥammad Hārūn, 7 Bde., Kairo 1938–47.
– Al-Qazwīnī, ‘Adjā’ib: Zakarija Ben Muhammed Ben Mahmud el-Cazwini’s Kosmographie, Herg. Ferdinand Wüstenfeld. Die Wunder der Schöpfung – aus den Handschriften der Bibliotheken zu Berlin, Gotha, Dresden und Hamburg, Göttingen, 1849. Übers. Hermann Ethé, Leipzig 1868.
– Bozorg ibn Shahriyār ar-Rāmhurmuzī, ‘Adjā’ib al-Hind, Hrsg. P. A. van der Lith, Leiden 1883–86 (mit französischer Übersetzung).

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Die vermeintliche Krankheit Mohammeds – 1: Epilepsie

Die Gesundheit des Propheten Mohammed muss robust gewesen sein. Er hat ja eine Gemeinde gegründet, eine Botschaft verbreitet, Widerstand ertragen, Kriegszüge geführt, einen Staat eingerichtet und noch einiges mehr. Ein krankhafter Mann bringt das nicht fertig. Keiner der zahlreichen alten arabischen Quellentexten zu Mohammed teilt etwas mit über eine ernsthafte Krankheit des Propheten, oder über seinen Gesundheitszustand überhaupt — mit Ausnahme der Erzählungen zu seinem Sterbebett.1 Sterblich war er allemal.

In Europa dagegen „wusste“ man immer, dass der Prophet sein ganzes Leben lang schwer und chronisch krank war. Dem Kirchenvater Theophanes Confessor (Konstantinopel 760–Samothrake 818) zufolge litt er nämlich an Epilepsie, und diese Mär wurde in Europa in der lateinischen Übersetzung von Anastasius Bibliothecarius (± 810–878) jahrhundertelang verbreitet: ein ruhmloses Kapitel in den Beziehungen zwischen Europa und dem Nahen Osten. Im 18., vor allem im 19. Jahrhundert wurden immer mehr alte arabische Texte in Europa bekannt. Es standen Orientalisten auf, die sie fleißig studierten und einsahen, dass das mit der Epilepsie nicht stimmen konnte, oder gar nicht mehr daran dachten. Aloys Sprenger, ein Orientalist, der auch Medizin studiert hatte, meinte 1861 noch, dass Mohammed zwar nicht an Epilepsie, sondern an Hysterie gelitten habe, eine typische Krankheit seines eigenen Jahrhunderts. Danach hörte man kaum noch von einer Krankheit, aber neuerdings kommt der Gedanke, dass Mohammed krank war, wieder auf. Diesmal nicht in kirchlichen oder orientalistischen Kreisen, sondern bei Islamhassern, die eine Auswahl an Koranversen und übersetzten Quellentexte verwenden—ohne allerdings in der Lage oder bereit zu sein, diese zu verstehen. Allerdings scheint der Glaube an Mohammeds Epilepsie endgültig aus der Mode geraten zu sein: ein Verfasser hält es vielmehr für bewiesen, dass er an Akromegalie litt und ein anderer diagnostiziert Schizophrenie. Welche Krankheit dem Propheten auch immer angedichtet wird, sie soll immer auch seine vermeintliche Geistesgestörtheit und Sexbesessenheit erklären, denn darauf möchten die europäischen Islamhasser ungerne verzichten.
.
Fangen wir an bei Theophanes. Dieser kannte offensichtlich eine Fassung der Erzählung über das erste Offenbarungserlebnis auf dem Berg Hirā, in der der Prophet nach dem ersten Schrecken Schutz und Trost suchte bei seiner Frau Khadīdja.2 Er schreibt:

  • Weil er arm und verwaist war, gefiel es dem besagten Mouamed, als Angestellter in den Dienst einer reichen Frau zu treten, die Chadiga hieß und eine Verwandte von ihm war, um mit Kamelkarawanen in Ägypten und Palästina Handel zu treiben. Nach und nach erdreistete er sich, sich an die Frau heranzumachen, die Witwe war; er nahm sie als Gattin und erwarb ihre Kamele und das Vermögen. Wann immer er nach Palästina kam, verkehrte er mit Juden und Christen und verfolgte bei ihnen bestimmte Sachen, die Schriften betreffend. Er litt an Epilepsie. Als seine Frau davon erfuhr, war sie sehr traurig, da sie als Frau von vornehmer Herkunft einen Mann wie ihn geheiratet hatte, der nicht nur arm, sondern auch Epileptiker war. Er versuchte sie trügerisch zu beschwichtigen, indem er sagte: „Ich sehe die Erscheinung eines Engels namens Gabriel, und da ich seinen Anblick nicht aushalten kann, werde ich ohnmächtig (?) und falle hin.“3

So war der Prophet Theophanes zufolge nicht nur krank, sondern auch ein Betrüger: die ganze Offenbarung war somit Betrug. Aber passt es nicht hervorragend in Erzählungen zu einem Berufungs- oder Offenbarungserlebnis, dass ein Prophet sich vor Schrecken und Ehrfurcht zu Boden wirft? Im Alten Testament passiert das, wenn ein Prophet mit dem Göttlichen konfrontiert wird, z.B. Hesekiel 1:28, 3:23. Der hebräische Ausdruck ist wa-eppol al panay, ואפל על פני , von Luther wörtlich übersetzt mit: „ich fiel (nieder) auf mein Angesicht.“ Man sollte dabei wohl eher an ein aktives „sich Niederwerfen“ denken. Theophanes, der die Bibel auf Griechisch las, muss dieses biblische πίπτω ἐπὶ πρόσωπόν μου gelesen haben, ohne es jedoch in Verbindung zu bringen mit dem Mohammed angedichteten „Fallen“, das in der von ihm gehörten Erzählungen bestimmt genau so gemeint ist. Sonst hätte er sich mal fragen sollen, ob der biblische Prophet Hesekiel etwa auch Epileptiker gewesen war. Aber nein, das konnte zu seiner Zeit natürlich noch bei keinem Christ aufkommen: Die biblischen Erzählungen sind ja hundertprozentig wahr und berichten von wirklichen Ereignissen, während sie nichts gemeinsam haben mit ähnlichen Erzählungen über Mohammed, die völlig gelogen sind. 

Das ganze Mittelalter hindurch und noch später hörte man immer wieder von Epilepsie. Über die zerrüttete Beziehung zwischen dem westlichen Christentum und der Welt des Islams kann man bei Daniel lesen, für die spätere Zeit auch bei →Tolan. Ich zitiere als Beispiel nur noch Luther, der die Schrift Confutatio Alcorani seu legis Saracenorum von Ricoldo da Monte di Croce O.P. (gest. 1320) übersetzte:

[…] Da brach herfur Mahmet ein Araber / der nu reich worden war / durch eine Widwen / die er gefreiet hatte / Darnach ward er ein Heubtman unter den strassen reubern und kam in solche hoffart / das er König in Arabien zu werden gedacht. Aber weil er eins geringen herkomens und ansehens war / namen sie jn nicht an. Da gab er sich fur einen Propheten aus / Und nach dem er das Falubel / oder die fallende seuche hatte / und stets darnider fiel / auff das niemand gleubete / das er solche Plage hatte / sprach er / Ein Engel hette mit jm geredt. Und sagt darnach etliche Sprüche / welche er hette gehort (wie er sagt) wie eine Glocke / die umb seine ohren geklungen hette.4

Hier klingt nicht nur ein Echo der Erzählung zum ersten Offenbarungserlebnis, sondern auch das eines Hadiths:

Al-Hārith ibn Hishām fragte den Propheten: „Wie kommt die Offenbarung zu Dir?“ Er antwortete: „Manchmal kommt sie zu mir wie das Läuten einer Glocke; das ist das Härteste für mich, und wenn es abklingt, behalte ich sie. Und manchmal kommt ein Engel in Gestalt eines Mannes zu mir und ich behalte das, was er sagt.“5

Es gibt tatsächlich mehrere Hadithe, in denen ein Offenbarungserlebnis des Propheten beschrieben wird. Vielleicht glauben Muslime, dass diese einen wirklichen Tatbestand wiedergeben, aber Nichtmuslime müssen das keineswegs. Ich halte sie für fromme Dichtung.
.
Wie die Krankheit Mohammeds sich in der Neuzeit entwickelte, folgt im 2. Teil.

ANMERKUNGEN
1. Den ältesten Quellen zufolge (z.B. Ibn Isḥāq, Sīra 999–1011) fing sein Sterbebett mit heftigen Kopfschmerzen an. Hatte er eine Hirnblutung, einen Hirntumor, eine Hirnhautentzündung oder waren die Kopfschmerzen sekundär, verursacht durch eine andere Grunderkrankung? Wir wissen es nicht und spekulieren ist völlig sinnlos: Die Quellen reden nur von Kopfschmerzen. Ein Text sagt aus, dass der Prophet sich weigerte, ein (Zauber?)-Medikament aus Äthiopien einzunehmen. An anderer Stelle erfahren wir, dass der Prophet einen Verband um den Kopf trug und zu schwach geworden war, das Gebet zu leiten. Bei jemandem, der dem Tod nahe ist, ist das nicht verwunderlich. Zum Tod des Propheten siehe hier.
2. Ibn Isḥāq, Sīra 151–4.
3. Theophanes, Chronographia i, 333-4: ἀπόρου δὲ καὶ ὀρφανοῦ ὄντος τοῦ προειρημένου Μουάμεδ, ἐδοξεν αὐτῷ εἰσιέναι πρός τινα γυναῖκα πλουσίαν, συγγενῆ αὐτοῦ οὖσαν, ὀνόματι Χαδίγαν, μίσθιον ἐπὶ τῷ καμηλεύειν καὶ πραγματεύεσθαι ἐν Αἰγύπτῳ καὶ Παλαιστίνη. κατ’ ὀλιγον δὲ παρρησιασάμενος ὑπεισῆλθε τῇ γυναικὶ χήρα οὖσῃ, καὶ ἔλαβεν αὐτὴν γυναῖκα καὶ ἔσχε τὰς καμήλους αὐτῆς καὶ τὴν ὓπαρξιν. ἐρχόμενος δὲ ἐν Παλαιστίνῃ συνανεστρέφετο Ἰουδαίοις τε καὶ Χριστιανοῖς. ἐθηρᾶτο δὲ παρ’ αὐτῶν τινὰ γραφικά, καὶ ἔσχε τὸ πάθος τῆς ἐπιληψίας. καὶ νοήσασαι ἡ τούτου γυνὴ σφόδρα ἐλυπεῖτο, ὡς εὐγενὴς οὖσα καὶ τῷ τοιούτῳ συναφθεῖσα οὐ μόνον ἀπόρῳ ὄντι, ἀλλὰ καὶ ἐπιληπτικῷ. τροποῦται δὲ αὐτὸς θεραπεῦσαι αὐτὴν οὓτω λέγων, ὃτι ὀπτασίαν τινὰ αγγέλου λεγομένου Γαβριὴλ θεωρῶ, καὶ μὴ ὑποφέρων τὴν τούτου θέαν ὀλιγωρῶ καὶ πίπτω. (@Was ὀλιγωρῶ hier bedeutet, ist mir nicht klar; ich muss es in der UB in einem Spezialwörterbuch nachschlagen.)
4. Luther, Verlegung, Kap. 13.
5. Muslim, Sahīh, Fadā’il 87: أن الحارث بن هشام سأل النبي ص: كيف يأتيك الوحي؟ فقال: أحيانًا يأتيني في مثل صلصلة الجرس وهو أشدُّه عليه ثم يفصِم عنّي وقد وعيته، وأحيانًا ملَك في مثل صورة الرجل فأعي ما يقول.
Auch Hesekiel (1:28) will laute Klänge gehört haben: „Und wenn [die Engel] gingen, hörte ich ihre Flügel rauschen wie große Wasser, wie die Stimme des Allmächtigen, ein Getöse wie in einem Heerlager.“

BIBLIOGRAPHIE
– Norman Daniel, Islam and the West, Oxford 1960, 1993.
– Ibn Isḥāq, Sīra: Das Leben Muhammed’s nach Muhammed Ibn Ishâk bearbeitet von Abd el-Malik Ibn Hischâm, ed. F. Wüstenfeld, Göttingen, 2 Tle., 1858–60.
– Martin Luther: Verlegung | des Alcoran | Bruder Richardi | Pre-|diger Ordens | An-|no. 1300 | Verdeudscht durch | D. Mar. Lu., Wittemberg 1542, Kap. 13. Die Abhandlung ist mehrfach online vorhanden; einfach googeln.
– Theophanes: Theophanis Chronographia, Hrsg. Carl de Boor. 1. Textum Graecum continens, Leipzig 1883, Nachdruck Hildesheim 1980.
– Theophanes: The chronicle of Theophanes Confessor. Byzantine and Near Eastern history A.D. 284–813, transl. with introd. and commt. by Cyril Mango and Roger Scott, with the assistance of Geoffrey Greatrex, Oxford 1997, Reprint 2006.
– John V. Tolan, Faces of Muhammad. Western Perceptions of the Prophet of Islam from the Middle Ages to Today, Princeton & Oxford 2019.

Diakritische Zeichen: Ḥirāʾ, Ḫadīǧa, Ṣaḥīḥ, Faḍā’il, Al-Ḥārit ibn Hišām

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Die Arabisierung der christlichen Bibel

In Kinderbibeln und Bibelfilmen aus Hollywood tragen die Palästinenser aus Jesu Zeit oft Kleidung, die arabisch anmutet. Die Arabisierung der Bibel war ein Prozess, der Jahrhunderte gedauert hat. Auf älteren Gemälden tragen die biblischen Gestalten noch europäische Kleidung. Rembrandt hatte bereits eine Truhe türkischer Kleider zur Hand, um z.B. seinen Abraham orientalisch zu kleiden (1). Isaaks Diener von Benjamin West (2) ist überzeugend wie ein Türke gekleidet. Selbstverständlich ritt er ein Kamel (2, 3).
Natürlich war man sich bewusst, dass die biblischen Erzählungen sich in Palästina, Ägypten, Babylonien und Persien, also im sogenannten Orient abgespielt hatten, wenn auch nicht alle Typen orientalischer Fantasie brauchbar waren. Das biblische Ambiente wird nie so „orientalisch“ wie die wirkliche arabische Welt. Der Orient war wohl zu frivol für christliche Zwecke: Die Pracht und die Sinnlichkeit des vorgestellten Orients wurden ausgelassen. Im 19. Jahrhundert, als die bis heute bildbestimmenden Illustrationen zu der Bibel entstanden, hat man auf die Kleidung geschaut, die palästinensische Bauer und Fischer damals trugen, und diese nach freier Fantasie umgemodelt (4). Überwiegend nüchterne, bescheidene Kleidung ist es geworden. Typisch arabische Kopfbedeckungen werden angewandt; bei Jesus selbst eher nicht, weil die sein charismatisch wallendes Haar verhüllen würden (5, 6). In der neutestamentarischen Umgebung sehen wir einen matten Orient: billige Gewänder und brave Gesichter; keine noblen Wilden oder stolzen Kämpfer; vielmehr rau
beinige, aber aufmerksam zuhörende Bauerntypen. Nur bei den Drei Königen (7) darf der malerische Orient kurz durchbrechen, und natürlich bei der Geschichte über Herodes und Salome. Moreaus Gemälde (8) zeigt einen orientalischen Despoten und eine Tänzerin in kostbarem, nahezu durchsichtigem Stoff.
.
Die meisten Künstler und Illustratoren hatten keine Ahnung, was die Menschen im Nahen Osten vor so vielen Jahrhunderten getragen hatten, und griffen auf ihre Phantasie zurück. Manche Illustratoren aus dem späten 19. Jahrhundert hatten aber einige Kenntnis von altägyptischer oder babylonischer Bekleidung. Es ist interessant zu sehen, dass in ihren geschichtsbewussten Bildern die Israeliten oder Juden wie Araber gekleidet sind, anstatt einen alttestamentarischen simlah zu tragen, einen Überwurf aus Wolle oder Leinen, der vom Hals bis die Knie reichte und kurze Ärmel oder gar keine hatte. Im Bild von David und Saul (9) trägt der König eine europäischen Krone, während David eine arabische keffiyeh trägt. Auf manchen Bildern (10, 11, 12) hat Joseph die (vermeintliche) altägyptische Mode adoptiert, während seine Brüder wie Araber gekleidet sind.
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Vielleicht haben die langen, arabisierenden Gewänder den Bibelzeichnern auch deshalb so gut gepasst, weil so viel Stoff darein ging. Die simlah ließ viel Bein sichtbar und die griechisch-römischen Tuniken des Neuen Testaments sogar noch mehr.
Fanden die Viktorianer es unpassend, Jesus in solchen spärliche Bekleidung abzubilden? Oder wollten sie den orientalischen Charakter der Juden betonen?

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Gottesbeweis: Der Schöpfer beugt Inflation vor

🇳🇱 Heute wieder ein Fragment aus dem arabischen, überwiegend christlichen Text Kitāb al-i‘tibār fī al-malakūt von Djibrīl ibn Nūh,1 eine Sammlung von ungefähr hundert teleologischen Gottesbeweisen (arguments from design), wahrscheinlich aus dem neunten Jahrhundert. Siehe zu dem Büchlein hier. Daraus finden Sie in diesem Bluch Fragmente zum Rüssel des Elefanten, zur Dummheit von Babys, zum Penis des Mannes, zur menschlichen Stimme und zum schreienden Hirsch.

Die Fürsorge des Schöpfers für seine Geschöpfe ist auch ersichtlich aus der Knappheit von Edelmetallen. Er hat es den Menschen unmöglich gemacht, diese Metalle selbst herzustellen. Wenn sie das könnten und demzufolge unbegrenzte Mengen Gold und Silber zur Verfügung hätten, würde das Geld wertlos und der Handel damit unmöglich. Davor hat er die Menschheit behütet. In Djibrīls Worten: 

  • Erwäge, wie kostbar Gold und Silber sind und wie die Vernunft der Menschen versagt, wenn sie versuchen [diese Metalle] selbst herzustellen, obwohl sie das sehr gerne möchten und sie sich dazu sehr anstrengen. Wenn sie die Kenntnisse, nach denen sie streben, erlangen würden, würden diese in der Welt unvermeidlich so allgemein bekannt, dass es viel zu viel Gold und Silber geben würde. Deren Preis würde stürzen und sie würden wertlos werden, so dass sie bei Kauf und Verkauf, bei Transaktionen, bei Steuern, die für den Sultan erhoben werden, und im Spartopf für den Nachwuchs keinen Nutzen mehr hätten. Es ist dem Menschen aber gegeben, Messing herzustellen aus Kupfer, Sand aus Glas und mehr solche Sachen, die nicht schaden können. Man sieht also, dass Menschen mit Sachen, die ihnen unschädlich sind, frei walten dürfen, was ihnen aber bei Stoffen, die ihnen schädlich wären, wenn sie sie erhielten, verwehrt bleibt.1

Nicht nur die Herstellung von Edelmetallen ist dem Menschen verwehrt worden, auch deren Gewinnung in Gruben u.dgl. bleibt beschränkt, obwohl die Vorkommen riesig sind:

  • Grubenarbeiter haben uns erzählt, dass sie einmal sehr tief in eine bestimmte Grube vordrangen und an eine Stelle kamen, wo sie etwas wie Berge aus Silber sahen. Aber vor der Stelle strömte ein gewaltiger, bodenlos tiefer Fluss mit einer starken Strömung, den sie unmöglich überqueren konnten. Später kehrten sie zurück um diese Stelle zu suchen, aber sie konnten sie nicht wiederfinden und gingen enttäuscht zurück.
    Erwäge jetzt den Entwurf des Schöpfers. Er wollte seinen Knechten seine Allmacht und den Umfang seiner Schätze zeigen, um sie wissen zu lassen, dass er, wenn er ihnen Berge Silber schenken wollte, dazu fähig wäre. Aber das wäre nicht gut für sie, denn wie gesagt: Das Metall würde unter den Menschen an Wert einbüßen und von wenig Nutzen sein. Nehmen wir zum Beispiel an, dass unter den Gefäßen oder anderen Gegenständen, die Menschen herstellen können, etwas Außerordentliches entsteht. So lange es ungewöhnlich und selten bleibt, wird es teuer sein und seinen Preis behalten, aber wenn es in Überfluss zur Verfügung kommt, wird der Wert sinken und der Preis wird abstürzen. Hierin liegt die Bestätigung von dem, was jemand einmal sagte: „Die Kostbarkeit von Sachen hängt von ihrer Knappheit ab.“ 2

Dem Autor, der im Irak zu Hause war, war offensichtlich die Mär verborgen geblieben, dass im westafrikanischen Ghāna3 das Gold überhaupt nicht knapp sei. Das Land war nämlich für seine wahrhaft legendären Goldvorkommen bekannt; es war gleichsam das Eldorado Afrikas. Das Gold wuchs dort an Pflanzen: „Gold wächst im Sande dieses Landes wie Karotten; bei Sonnenaufgang wird es gepflückt.“ 4 Nun, in Ghāna war es nicht der Schöpfer, sondern ein weiser König, der der Inflation vorbeugte: „Die Goldklumpen, die in allen Gruben des Landes gefunden werden, sind für den König reserviert. Er lässt nicht zu, dass sie aus seinem Land in ein anderes gehen. Die Klumpen können von einer Unze bis zu einem Pfund wiegen. Nur Staubgold lassen sie aus dem Land heraus. Wenn sie alles, was in den Gruben gefunden wird, herausließen, würde zu viel Gold in die Hände der Menschen geraten und es würde seinen Wert verlieren.“ 5

Dieser König war nicht der einzige: Viele Fürsten haben ihre Schatzkammern voll geladen und später machte die Kirche dasselbe, zum Beispiel in Spanien, wo viel neues Gold aus Amerika nicht auf den Markt kam, sondern in Gestalt teurer kirchlicher Kunst „unschädlich“ gemacht wurde. Alles eingedenk der Grundregel der Ökonomie: „Die Kostbarkeit von Sachen hängt von ihrer Knappheit ab.“

ANMERKUNGEN:
1. Auch als Dalāʾil al-i‘tibār bekannt. Das Büchlein wird oft al-Djāḥiẓ (ca. 776–869) zugeschrieben. Die erste (unkritische) Ausgabe erschien 1928 in Aleppo. Ich habe verschiedene Handschriften benutzt; Einzelheiten behalte ich noch für mich.

ثم فكر‏ في‏ عزة الذهب والفضّة‏ وقصور حيلة‏ الانس عمّا حاولوا من‏ صنعتهما على حرصهم واجتهادهم في‏ ذلك‏. ‏ فإنهم لو ظفزوا بما حاولوا من هذا العلم‏ كان لا محالة‏ سيظهر ويستفيض في‏ العالم حتّى‏ يكثر‏ الذهب والفضة‏ ويسقط عند الناس فلا تكون لهما قيمة ويبطل الانتفاع بهما في‏ الشراء والبيع والمعاملات والاتاوة‏ التي‏ تُجبَى الى السلطان والذخر‏ الذي‏ يذخر للأعقاب‏. وقد أعطي‏ الناس مع هذا صنعة‏ الشبه من النحاس والزجاج من الرمل وما أشبه ذلك مما لا مضرّة فيه‏. فانظر كيف أعطوا ارادتهم فيما لا‏ ضرر عليهم فيه ومنعوا ذلك فيما كان ضارّاً‏ ‏ لهم لو نالوه‏.

2.

أخبرنا أناس ممن يزاول المعادن أنّهم‏ أوغلوا في‏ بعضها فانتهوا الى موضع رأوا فيه أمثال الجبال من الفضّة،‏ ومن دون ذلك وادٍ‏ عظيم‏ يجري‏ منصلتًا بماء‏ غزير لا يدرك‏ غوره‏ ولا حيلة في‏ عبوره‏. ثم عادوا‏ يطلبونه فلم‏ يقفوا عليه فانصرفوا آسفين‏.
‏ ففكِّر الآن في هذا من تدبير الخالق‏. فانّه‏ جل ثناؤه أراد أن‏ يري‏ العباد قدرته وسعة خزائنه ليعلموا أنّه لو شاء أن‏ يمنحهم كالجبال من الفضّة لفعل،‏ ولكنه لا صلاح لهم في‏ ذلك،‏ لأنّه كان‏ يكون كما ذكرنا‏ بسقوط هذا الجوهر عند الناس وقلّة انتفاعهم به‏. واعتبر ذلك بأنّه قد‏ يظهر الشيء الطريف مما يُحدثه الناس من الأواني‏ والأمتعة‏. فما دام عزيزًا قليلاً‏ فهو نفيس جليل‏ آخذ للثمن،‏ فاذا فشا وكثر في‏ أيدي‏ الناس سقط عندهم وخست‏ ‏ قيمته‏. وفي‏ هذا مصداق قول القائل‏ انّ‏ نفاسة الأشياء من عزتها‏.

3. Dieses historische Ghāna lag weit nordwestlich des modernen Ghana, ungefähr im heutigen Mali. Es muss ein mächtiges Reich gewesen sein.
4. Yāqūt ibn ‘Abdallāh al-Ḥamawī, Mu‘djam al-buldān, Hrsg. Ferdinand Wüstenfeld, 6 Bde., Leipzig 1866–73, i, 822:  قال اين الفقيه: والذهب ينبت في رمل هذه البلاد كما ينبت الجزر وإنه يقطف عند بروغ الشمس . Dass diese Goldpflanzen heutzutage nicht mehr vorkommen, liegt merkwürdigerweise an der Islamisierung des Gebiets, „… for in Ghana and beyond it to the south are the places where gold grows and it has been found by experience that whenever the gold-plant land is taken and Islam and the call to prayer become widespread there the gold plant disappears from it.“ (al-‘Umarī, Al-ta‘rīf, Kairo 1894, 27,6; wohl besser in al-Droubi, A critical edition; beide Ausgaben des arabischen Texts jedoch nicht zur Verfügung; für den Augenblick zitiert aus Corpus of early Arabic sources, 276.)
5. K. al-istibṣār 221:

أخبرنا أناس ممن يزاول المعادن أنّهم‏ أوغلوا في‏ بعضها فانتهوا الى موضع رأوا فيه أمثال الجبال من الفضّة،وإذا وجد في جميع معادن بلاد هذا الملك الندرة من الذهب اصطفاها الملك لنفسه ولم يتركها تخرج من بللده لغيره. و الندرة تكون من أوقية إلى رطل وإنما يتركون أن يخرج من بلادهم من الذهب ما كان رقيقًا، ولو تركوا كل ما يوجد في المعادن يخرج من بلادهم لكثر الذهب بأيدي الناس ولهان.

BIBLIOGRAFIE:
Corpus of early Arabic sources for West African History, Übers. und Hrsg. J.F.P Hopkins & N. Levtzion, Cambridge [1981].
– Djibrīl ibn Nūḥ [=Ps.-Djahiz], Dalā’il al-i‘tibār ʿalā l-khalq wa al-tadbīr, Hrsg. Rāghib al-Ṭabbākh al-Ḥalabī,Aleppo 1928.
– N.N., Kitāb al-istibṣār fī ‘adjāʾib al-amṣār: waṣf Makka wa-‚l-Madina wa-Miṣr wa-bilād al-Maghrib, li-kātib Marrākushī min kuttāb al-qarn as-sādis al-hidjrī (12 m.), Übers. und Kommt. Sa‘d Zaghlūl ‘Abd al-Ḥamīd, A̓lexandrien 1958.
– Al-‘Umarī: Shihāb al-Dīn Ibn Faḍl Allāh al-‘Umarī, Al-ta‘rīf bil-muṣṭalaḥ al-sharīf, Kairo 1894.
– Al-‘Umarī: Al-Droubi, Samīr, A critical edition of and study on Ibn Faḍl Allāh’s manual of secretaryship „al-Ta‘rīf bil-muṣṭalaḥ al-sharīf“, al-Karak 1992.

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Das Fortleben der Antike im Islam

🇳🇱 Eine bekannte Studie von Franz Rosenthal heißt Das Fortleben der Antike im Islam.
Die traditionelle, von Wissenschaftlern längst nicht mehr vertretene Sichtweise in Westeuropa war, dass die Antike mit dem Untergang des weströmischen Reichs im Jahr 476 nicht länger fortlebte, sondern endete. Danach fing das Mittelalter an: das dunkle Zeitalter, das Jahrhunderte brauchte um etwas heller zu werden, die Antike aufs Neue zu entdecken und in die Renaissance zu münden.
Wie dem auch sei: Der Ostteil des Römerreichs kannte kein Mittelalter. Dort und in Persien überlebte die antike Wissenschaft, wenn sie auch eine Zeitlang sehr bedroht war. Es war das Verdienst der frühabbasidischen Gesellschaft, dass sie für die Zukunft gerettet wurde. Diese Tatsache wird in Europa noch oft ignoriert.
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In den ersten zwei Jahrhunderten des Abbasidenkalifats (750–1258) gab es eine riesige Übersetzungsschlacht: aus dem Griechischen und Mittelpersischen (Pahlavi) erst ins Syrische, danach ins Arabische. Das ganze griechische Schrifttum, ausgenommen die Dichtung und die Geschichtsschreibung, wurde übersetzt: will sagen: alles Bekannte zur Arithmetik, Geometrie, Astronomie, Musiktheorie; die Werke von Aristoteles und die Kommentare dazu: Metaphysik, Ethik, Physik, Zoologie, Botanik, Logik (Organon), Geographie, Medizin, Pharmakologie, (Al)chemie, Militärwissen (Taktika), Weisheitssprüche (= Gnomologie), Tierheilkunde, Falknerei/Beizjagd.
Das war nicht das Werk eines Kalifen oder eines Mäzens mit einem ausgefallenen Hobby, sondern ein breit getragenes Großprojekt, das man für notwendig hielt und das etwas kosten durfte.

Die größten Förderer des Übersetzens, die Banū Mūsā ibn Shākir, bezahlten ca. 815 monatlich ungefähr 500 Dinar pro Monat an drei Spitzenübersetzer, d.h. 2125 Gramm Gold. Das wäre nach dem Kurs von heute (21.5.2018) fast 75.000 Euro. Aber so darf man wohl nicht rechnen. Auf jeden Fall war es sehr viel.

Warum gerade in dieser Periode? Die Kultur im Riesenreich Alexanders des Großen und in den Nachfolgestaaten war hellenistisch gewesen. Diese hellenistische Kultur war Dimitri Gutas zufolge allmählich durch zwei Faktoren geschädigt worden:
–––1. Durch die langen Kriege zwischen Oströmern und Persern (der letzte dauerte von 602–628) waren die Zentren von Kultur und Gelehrsamkeit nicht länger miteinander in Kontakt.
–––2. Für die Christenheit war profane vorchristliche Wissenschaft unerwünscht und war der Hellenismus eher ein Feind. Lieber vertat man seine Zeit—sehr viel Zeit—mit Querelen über die Fragen, ob Maria Gott geboren hatte, ob Gott der Vater und sein Sohn Jesus Christus eine Natur hätten oder zwei, einen Willen oder zwei, ob Ikonen erlaubt seien usw. Im östlichen Römerreich war „Grieche“ ein Schimpfwort geworden und wurde „heidnisches“ Wissen als minderwertig betrachtet.1 Allerdings war das Heidentum um 500 wohl endgültig beerdigt und die Antike wurde im Oströmischen Reich entweder ignoriert oder in uninspirierten Zusammenfassungen (Florilegia) weiter überliefert.
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Im arabischen Umaiyadenreich, das bis 750 existierte, waren die griechische Sprache und die griechisch-orthodoxe Staatskirche noch vordergründig präsent gewesen. Kalif ‘Abd al-Malik führte zwar um 700 Arabisch als Amtssprache ein, aber noch Jahrzehnte lang sprachen und schrieben viele Einwohner des Reichs Griechisch. Ein wichtiger Kirchenvater wie Johannes Damascenus schrieb seine Werke um 750 auf Griechisch und er tat das mitten in der umaiyadischen Hauptstadt Damaskus! Der noch recht römische Charakter des Umaiyadenreichs machte dort die Atmosphäre nicht günstig für hellenistisches Wissen.
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Als die Abbasiden aber den Schwerpunkt des Reichs in den Irak verlegten und Bagdad gründeten, geriet die griechische Kirche mit ihrer anti­hellenistischen Haltung außer Sicht. Nichts stand einer neuen Blüte der antiken Wissenschaft mehr im Weg; im Gegenteil: die Kalifen, Wesire, alle Staatsorgane und viele private Personen förderten sie wie nie zuvor. Im neuen Großreich fanden die wissenschaftlichen Zentren wieder zueinander und beeinflussten sich gegenseitig. Man sprach viele Sprachen; das neu gestaltete Reich war äußerst multikulturell.

„Hence the transfer of the caliphate from Damascus to central ‘Irāq — i.e., from a Greek-speaking to a non-Greek-speaking area — had the paradoxical consequence of allowing the preservation of the classical Greek heritage which the Byzantines had all but extirpated.“2

Kalif al-Mansūr (754–75)
Al-Mas‘ūdī, einem Historiker aus dem 9. Jahrhundert, zufolge, war al-Mansūr

„der erste Kalif, der Astrologen förderte und auf Grund astrologischer Weissagungen handelte. Er hatte Naubakht, den Zoroastrier, an seinem Hof, der auf sein Betreiben zum Islam konvertierte, der Vorfahr der Familie Naubakht; auch hatte er Ibrāhīm al-Fazārī bei sich, den Verfasser eines Dichtwerks über die Sterne und anderer astrologischer und astronomischer Werke, wie auch den Astrologen ‘Alī ibn ‘Īsā, den Astrolabisten.
Er war der erste Kalif, der Bücher aus anderen Sprachen ins Arabische übersetzen ließ, unter denen Kalīla wa-Dimna und Sindhind. Auch wurden für ihn Bücher von Aristoteles zu Logik und anderen Themen übersetzt, der Almagest von Ptolemaeus, das Buch von Euclid [über Geometrie], die Arithmetica [von Nicomachus von Gerasa], und andere alte Bücher aus dem klassischen Griechisch, dem römischen Griechisch, Pahlavi, Neupersisch und Syrisch. Diese wurden unter den Menschen verbreitet, die sie erforschten und studierten.“3

Al-Mansūr spürte, dass er das neue Abbasiden-Regime legitimieren musste. Bei den arabischsprachigen Muslimen war das nicht so schwer: Die Dynastie sei ja (vermeintlich) verwandt mit dem Propheten. Aber für die Perser und Aramäer, und die waren in der neuen Umgebung stark in der Mehrheit, war das nicht so selbstverständlich: Es gab schon gleich mehrere Aufstände. Al-Mansūr wollte ihnen nun zeigen, dass die Abbasiden die legitimen Nachfolger der persischen Sassaniden seien. Diese hatten auf Astrologie viel Wert gelegt; ihr ganzes Tun und Treiben war von Astrologie bestimmt. Das wollte al-Mansūr genauso tun: Seine Astrologen sollten beweisen, dass seine Regierung „in den Sternen geschrieben“ stand und also unausweichlich die Beste sei. Darum sollten astrologische Texte her, und zwar persische und griechische. Arabische gab es ja nicht, weder islamische noch vorislamische.
Astrologie ist wenig islamisch, wird vielleicht jemand sagen — aber wer bestimmte, was islamisch war? Das tat niemand weniger als der Kalif selbst, der Stellvertreter Gottes (khalīfat allāh) auf Erden! Die „Leute des Hadith und der Sunna,“ für die der Koran und die Sunna des Propheten Mohammeds das Wichtigste waren, spielten anfangs noch keine Rolle.
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Alexander, der Bücherdieb
Aber wozu dann die altgriechischen Texte? Man höre und staune: Nach sassanidischer Auffassung hatte Zoroaster vom guten Gott Ohrmazd (Ahuramazda) die Avesta empfangen, die alle Kenntnis und Weisheit der ganzen Welt enthielt.4 Der böse Alexander [der Große] hatte aber Persien zerstört und die Kenntnisse über die ganze Welt zerstreut. Er hatte sie ins Griechische übertragen lassen und die Originale zerstört. Deshalb kam es darauf an, die Kenntnisse wieder zurückzuübersetzen. Das hatte schon der Sassanidenfürst Ardashīr gemacht und al-Mansūr wollte das fortsetzen. Er fasste es energisch an und seine Nachfolger auch.
Eine völlig fact free Geschichte hatte somit weitreichende, in diesem Fall positive Folgen. Die Übersetzungsbewegung war religiös verankert.
(Siehe jetzt auch meinen Text Alexander doch kein Bücherdieb.)
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Kalif al-Mahdī (775–85)
Unter Kalif al-Mahdī wurde weiter übersetzt, allerdings mit etwas anderer Akzentsetzung. Jetzt kamen die Topica vom alten griechischen Philosophen Aristoteles (384–322 v.Chr.) an die Reihe, der 5. Teil des Organon. Das ist ein schwieriges Buch; es behandelt den Disput (djadal), die Kunst des Argumentierend auf Basis von geteilten Annahmen (z.B. Definitionen) über das Für und Wider gewisser Thesen. Die Methode wurde anhand von 300 Themen (topoi) verdeutlicht. Der Kalif bestellte 782 persönlich eine Übersetzung beim nestorianischen Patriarchen Timotheus I. Später sollte das Buch übrigens noch zweimal übersetzt werden.
Was brachte ein vollbeschäftigtes Staatsoberhaupt dazu, für sich eine Übersetzung eines so schwierigen Buchs zu bestellen? Die Antwort liegt in den Diskussionen über Religion, die jetzt anstanden. Wo das Abbasidenreich nun mal ein islamischer Staat war, sollten die Untertanen auch Muslime sein. Die Vorbehalte des Umaiyadenreichs gegen Konvertiten („es sind keine Araber,“ „sie bringen keine Kopfsteuer ein“) waren verschwunden. Es sollte ein Staat von muslimischen Bürgern mit gleichen Rechten und Privilegien werden. Auch Nichtaraber konnten jetzt Jobs bekommen; manchmal beklagten sich die Araber sogar darüber.
Der Islam sollte im Reich also unbedingt eine missionierende Religion werden. Wenn Islamstaat, dann auch Muslime, und es sollte attraktiv und überzeugend sein, sich zu bekehren—nicht nur wegen der entfallenden Kopfsteuer: Es ging um die richtige Religion. Für die Dispute mit Andersgläubigen waren die Topica nützlich. Religionsgespräche fanden jetzt überall statt; es gibt eine unglaubliche Menge von Schriften dazu, auch von christlicher Seite. Die Christen hatten ja eine lange Tradition in Disput und Polemik und die Muslime mussten sich richtig ins Zeug legen um mitzuhalten.

Juden und Christen hatten eine geschützte Position. Manichäer und andere Ungläubige (Bardesaniten, Marcioniten) dagegen wurden mit harter Hand verfolgt.
Noch ein Mas‘ūdi-Zitat:

„Al-Mahdī widmete viel Energie dem Ausrotten von Ketzern und Abtrünnigen. Diese Leute traten zu seiner Zeit auf und verkündeten während seines Kalifats öffentlich ihre Glaubensvorstellungen, als die Bücher von Mani, Bardesanes und Marcion (u. a. überliefert von Ibn al-Muqaffa‘ und anderen) weit verbreitet waren, die aus dem Persischen und Pahlavi ins Arabische übersetzt wurden, und die Schriften, die den Manichäismus, Bardesanismus und Marcionismus unterstützten, geschrieben von Ibn Abī al-‘Audjā’, Hammād ‘Adjrad, Yahyā ibn Ziyād und Mutī‘ ibn Iyās. So nahm die Zahl der Manichäer zu und ihre Lehrmeinungen wurden öffentlich bekannt.
Al-Mahdī war der erste [Kalif], der in ihrer Forschung dialektisch argumentierende Theologen (djadaliyūn) beauftragte, Bücher gegen die gerade erwähnten Ketzer und die anderen Ungläubigen zu schreiben. Die Theologen brachten demonstrative Beweise gegen die Abweichler vor, eliminierten die Scheinargumente der Ketzer und legten den Zweiflern in klaren Worten die Wahrheit dar.“5

Al-Mahdī war ein guter Schüler, der mit dem Patriarchen Timotheus selbst die Technik des Disputierens trainierte. Diese Techniken erwiesen sich auch in Wissenschaft, Philosophie, Theologie (kalām) und im Recht als nützlich.
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Kalif al-Ma’mūn (813–833)
bekam es mit den Leuten der Sunna und des Hadith zu tun, den späteren ’ulamā’. Er versuchte sie klein zu halten und stützte sich dazu auf die Mu‘taziliten, die sich sehr stark mit der „griechischen“ Wissenschaft beschäftigten. Das förderte noch einmal mehr die Übersetzungstätigkeit.

Der berühmte Mu‘tazilitische Prosaschriftsteller al-Djāḥiẓ (ca. 777–869) bekam eine Art Dialektik-Rausch. Es machte ihm Spaß, das Für und Wider bestimmter Dinge provozierend gegenüberzustellen. Dabei sei es unwichtig, welche Auffassungen letztendlich richtig seien. So hat er ein Traktat über die Überlegenheit der Schwarzen über die Weißen geschrieben6 sowie ein anderes, in dem er die Vor- und Nachteile von jungen Sklaven und Sklavinnen als Sexpartner gegeneinander abwägt.7

Den wohl berühmtesten Übersetzer möchte ich noch kurz erwähnen: Hunain ibn Ishāq, 808–873. Er war ein nestorianischer Christ aus dem Irak, studierte Physik und Medizin, zog nach Alexandrien zum Griechischlernen, danach nach Basra, wo er Arabisch lernte. Er übersetzte Aristoteles und Galen u.v.a. und verfasste ein griechisch-syrisches Wörterbuch.

Zwei, drei Jahrhunderte später kam das Gedankengut der Antike in arabischer, teils hebräischer Übersetzung nach Europa, über Sizilien und vor allem Spanien. Ohne die abbasidische Zwischenstufe wäre es den Europäern unbekannt geblieben; ohne sie hätte es nie eine europäische Renaissance gegeben.

ANMERKUNGEN

1. D. Gutas, Greek thougt, Arabic culture, 20.
2. Theodoret von Kyrrhus (393–458) schrieb z.B. Græcarum affectionum curatio, [Ελληνικών θεραπευτική παθημάτων], „Heilung der griechischen Krankheiten“. Er meinte das vorchristliche Heidentum.
3. Al-Mas‘ūdī, Prairies, v, 3446:

وكان أول خليفة قرّب المنجمين وعمل بأحكام النجوم، وكان معه نوبخت المجوسي المنجم، وأسلم على يديه وهو أبو هؤلاء النوبختية، وإبراهيم الفزاري المنجم صاحب القصيدة في النجوم وغير ذلك من علم النجوم وهيآت الفلك، وعلي بن عيسى الأُسطُرلابي المنجم. وكان أول خليفة ترجمت له الكتب من اللغة العجمية إلى العربية، منها كتاب كليلة ودمنة وكتاب السند هند، ترجمت له كتب أرسطاطاليس من المنطقيات وغيرها، ترجم له كتب المجِسطي لبَطْلميوس وكتاب إقليدس وكتاب الأرِثماطقي وسائر الكتب القديمة من اليونانية والرومية والفهلوية والفارسية والسريانية، وأخرجت الى الناس، فنظروا فيها وتعلّقوا الى علمها.

4. D. Gutas, Greek Thought, 34–45 hat die Texte dazu gesammelt und übersetzt, z.T. aus dem persischen.
5. Al-Mas‘ūdī, Prairies, v, 3447:

وأمعن [المهدي] في قتل الملحدين والذاهبين عن الدين لظهورهم في أيامه وإعلانهم باعتقاداتهم في خلافته، لمّا انتشر من كتب ماني وابن دَيْصان ومَرْقيون مما نقله عبد الله بن المقفَّع وغيره وترجمت من الفارسية والفَهْلوية الى العربية، وما صنّفه في ذلك الوقت ابن أبي العوجاء وحمّاد عَجْرَد ويحيى بن زياد ومطيع بن إياس تأييدًا لمذاهب المانية والديْصانية والمَرْقيونية. فكثر بذلك الزنادقة وظهرت آراءهم في الناس، وكان المهدي أول من أمر الجدليين من أهل البحث من المتكلمين بتصنيف الكتب على الملحدين ممن ذكرنا من الجاحدين وغيرهم، فأقاموا البراهين على المعاندين وأزالوا شُبَه الملحدين، فأوضحوا الحق للشاكّين.

6. „Kitāb fakhr as-sūdān ʿalā al-bīḍān,“ in Rasāʾil al-Ǧāḥiẓ, Hg. ʿAbd al-Salām Muḥammad Hārūn, 2 Bde. Kairo o.J. [1964], i, 173–226. Deutsch (Fragmente) in: Charles Pellat, Arabische Geisteswelt, ausgewählte und übersetzte Texte von al-Ǧāḥiẓ (777–869), Übers. Walter Müller, Zürich/Stuttgart 1967, Kap. 31: „Über den Ruhm der Schwarzen vor den Weißen,“ 315–318. Englisch: „What Blacks may boast of to Whites,“ Übers. T. Khalidi in Islamic Quarterly 25 (1981), 3–51 (nicht gesehen).
7. „Kitāb Mufāḫarat al-ǧawārī wal-ġilmān,“ in Rasāʾil al-Ǧāḥiẓ, ii, 87–137; Übers.: Éphèbes et Courtisanes, traduit par Maati Kabbal, préface et notes de Malek Chebel, Paris 1997.

BIBLIOGRAFIE
– Dimitri Gutas, Greek Thought, Arabic Culture. The Graeco-Arabic Translation Movement in Baghdad and Early ʿAbbāsid Society (2nd–4th/8th–10th centuries), London 1998.
– Franz Rosenthal, Das Fortleben der Antike im Islam, Zürich 1965.
– Al-Mas‘ūdī, Les prairies d’or [Murūǧ aḏ-ḏahab], Hg. […] Ch. Pellat, 7 Bde. Beirut 1966–1979.
– Hinrich Biesterfeldt, „Secular Graeco-Arabica — Fifty years after Franz Rosenthal’s Fortleben der Antike im Islam,” in: Intellectual History of the Islamicate World, 3 (2015), 125–157.

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Al-Hakim: ein Verrückter auf dem Thron?

🇳🇱 In jedem politischen System landet schon mal ein Verrückter auf dem Thron. Nebukadnezar, Nero, Caligula, Iwan, Adolf, Bokassa und etliche andere—wie man weiß, passiert es auch heute noch. Aus dem arabischen Kulturkreis kann ich Ihnen den Kalifen al-Hākim (geb. 985, reg. 996-1021) anbieten, der aus seiner Hauptstadt Kairo heraus über ein Reich herrschte, das sich von Tunis bis in den Norden des heutigen Syriens erstreckte. Er gehörte zur Dynastie der Fātimiden, die schiitisch war nach ismailitischem Bekenntnis (die „Siebener-Schiiten”). Für sie hatte ein Kalif—oder ein Imam, wie sie ihn lieber nannten—absolute Macht und war so etwas wie ein Demiurg oder Messias.
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Dass al-Hākim geisteskrank war, meinte bereits Yahyā al-Antākī, ein christlicher Arzt und Historiker, der in Ägypten lebte, bis er dem Land 1014 entfloh. Er attestierte dem Kalifen Gehirnkrämpfe und Melancholie. Wie machte sich al-Hākims Geistesstörung bemerkbar? Er folgte seinem Vater auf dem Thron als er elf Jahre alt war. Mit fünfzehn wollte er nicht länger von seinem Vormund, dem Eunuchen Bargawān, gegängelt werden; er ließ ihn während eines gemeinsamen Spaziergangs ermorden. Das war die erste Äußerung seiner blutrünstigen Neigungen. Ein schönes Kind soll er eigenhändig getötet und ausgeweidet haben, einen Diener persönlich mit einem Hackbeil umgebracht haben, aber meistens überlies er dass Töten seinen Sklaven.
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Al-Hākim versuchte sein Reich in Ordnung zu bringen indem er Korruption und Machtmissbrauch am Hof und in den Verwaltungsorganen bekämpfte. Was anfangs vielleicht als eine gutgemeinte Säuberungsaktion erschien, erwies sich bald als ein Terrorregime. Der Kalif mochte Schnellverfahren und das Strafmaß war oft die Todesstrafe; dabei wurden Minister und hohe Beamte nicht verschont. Er hatte ja die absolute Macht, und jemand umbringen zu lassen war kinderleicht, wie er früh gelernt hatte. Während seiner Regierung sind unzählige Menschen, gerne auch aus der Elite, standrechtlich verurteilt und hingerichtet worden. Beim „Volk“ war er aber beliebt, und er war sogar bekannt für seine Zugänglichkeit und Gerechtigkeit.
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Mehr als die Hälfte der Einwohner Ägyptens zu jener Zeit waren Christen; Juden gab es ebenfalls. Die meisten Muslime waren Sunniten, während der Herrscher Schiit war. Weil viele Verwaltungsfunktionen in christlichen Händen waren, fielen seinen „Säuberungen“ viele Christen zum Opfer. Der Kalif ließ auch Kirchen, Klöster und gelegentlich eine Synagoge zerstören. Er enteignete die Besitztümer seiner Mutter und Schwester und ließ seinen Onkel Arsenios im Jahr 1010 sogar meucheln; der war der griechisch-orthodoxee Patriarch von Alexandrien und Jerusalem. Seine Mutter war nämlich eine Christin, und zwar eine griechisch-orthodoxe: orientiert an Konstantinopel — dem Feind! Es fanden erzwungene Bekehrungen zum Islam statt — obwohl der Koran das verbietet. Christen und Juden sollte erniedrigende, sie von den Muslimen absetzende Kleidung tragen, und sogar lächerlich große Unterscheidungsmerkmale im Badehaus. Spektakulär war die Zerstörung der Grabeskirche in Jerusalem 1009, die in Europa noch Jahrzehnte nachhallte und mit zum ersten Kreuzzug führte. Einige Jahre später war alles wieder anders: Zerstörte Kirchen durften wiederaufgebaut werden, manche sogar auf Staatskosten. Zwangsbekehrte Christen und Juden durften, falls sie das wünschten, zu ihrer alten Religion zurückkehren.
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Ab 1003 regnete es Dekrete (sigillāt), die die Sittlichkeit in Ägypten verbessern sollten. Als junger Mann hatte der Kalif sich noch gerne an den Volksfesten in Fustāt (Alt-Kairo) beteiligt. Die Christen, die dort wohnten, tranken gerne Wein und oft kam es zu Ausschreitungen. Es hatte ihm gefallen zuzuschauen, wenn Männer auf der Straße aneinander gerieten, sogar wenn das in eine blutige Schlacht zwischen Gruppen ausartete. Aber eines Tages meinte al-Hākim, dass die Unordnung und die Gewalt aus dem Ruder liefen. Per Dekret verbot er den Ausschank von Wein und die Teilnahme von Frauen am Nachtleben; sie sollten abends lieber zu Hause bleiben. Laut einem späteren Dekret sollten sie das auch tagsüber, es sei denn mit einer Sondergenehmigung, wenn es wirklich nötig war. Spazierfahrten auf dem Nil wurden verboten; später durften auch Männer nicht mehr abends auf die Straße: das ganze Nachtleben kam zum Erliegen. Wein und alles, was damit zu tun hatte, wie Krüge usw. wurden öffentlich vernichtet, Kneipen wurden zugemacht, Reben entwurzelt; sogar die Honigproduktion wurde gedrosselt, damit die Leute nicht in Honigwein Zuflucht suchen konnten. Musik, Schach und Ausritte in die Wüste wurden verboten, wie auch Erker an der Straße und sogar mulūḫīya, ein Gemüse, das Mu‘awiya, der bei den Schiiten so verhasste Rivale ‘Alīs, gerne gegessen hatte.
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Aber auch sunnitische Muslime wurden nicht verschont. Man machte ihnen klar, dass sie immer einer Irrlehre angehangen hatten, und sie wurden aufgefordert sich zu bekehren. Es wurden Kurse zum schiitischen Glauben gegeben und bald waren die Hörsäle zu klein, so viele Sunniten wollten dorthin, um ihren Job oder ihr Leben zu behalten. Mit allerlei Dekreten über Speisen und Details des Kultus wurden sie weiter belästigt. Erst in al-Hakims letzten Regierungsjahren, als der Kalif eher zur Mystik neigte, wurde aber der sunnitische Glaube wieder anerkannt, und fast sah es nun so aus, als wäre die Schia gar nicht mehr so wichtig.
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Wenn ein Dekret des Kalifen nicht befolgt wurde oder unausführbar war, wie etwa das Alkoholverbot, zog er es zurück und versuchte es später noch mal durchzusetzen. Oft genug aber wurden Dekrete auch „einfach so“ zurückgezogen, weil der Kalif auf andere Gedanken gekommen war. Er war tatsächlich bekannt für seine Launenhaftigkeit. Manch Untertan entschloss sich, wenn eine neue Anordnung in der Luft lag, eine Zeitlang aufs Land zu ziehen, wenn möglich in Besitz eines Schutzbriefs (amān).
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In seinen letzten Jahren wurde al-Hākim Asket. Er fühlte sich den Mystikern verwandt, trug vor lauter Bescheidenheit ein schlichtes, selten gewaschenes Gewand und machte oft nächtliche Ausritte auf einem Esel. Beim Volk wurde er noch beliebter, weil er viele Staatseigentümer verschenkte. Der stark verkleinerte Hof fragte sich inzwischen, ob der Herrscher überhaupt noch zurechnungsfähig sei. Der ließ unterdessen einen Propagandisten in seinem Palast wohnen, der dort an einem Buch arbeitete, in dem er die Göttlichkeit des Kalifen nachwies. Dieser hinderte ihn nicht daran.
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Im Februar 1021 unternahm der Kalif eines Abends wieder einen einsamen Ausritt auf seinem Esel, auf einem Hügel etwas außerhalb von Kairo. Diesmal kam er nicht zurück. Nach einigen Tagen wurden seine blutige Kleidung und der Esel gefunden. Anzunehmen ist, dass er ermordet worden war. Ein verschwundener Imam: eine in schiitischen Augen vertraute und schöne Vorstellung.

Nuance
Bis hierher habe ich das traditionelle Bild wiedergegeben, wie es beispielsweise Marius Canard in einem Artikel, der 1971 in der Encyclopaedia of Islam erschien, dargestellt hatte. Aber war der Kalif wirklich ein Geisteskranker? Wie so oft standen Gelehrte auf, die das Bild nuancierten, die neue Fakten entdeckten und alte als fake news entlarvten. Ein wenig schade ist das schon, denn es gibt ein enormes Bedürfnis nach markanten Fakten und Horrorgeschichten; aber die Wissenschaft ist streng. Meist erweist sich bei solchen Forschungen, dass die verrückten gar nicht so verrückt waren, oder wenigstens nicht ganz. Der babylonische König 
Nebukadnezar (reg. 605–562 v. Chr.) war dem Propheten Daniel 4:29–34 zufolge sieben Jahre lang geisteskrank, aber der Autor stand ihm feindselig gegenüber. Und vielleicht hat er ihn verwechselt mit König Nabonidus (reg. 556–539 v. Chr.), der als gestört galt und einige Jahre im arabischen Taima verbrachte — zur Kur vielleicht? Moderne Altphilologen haben längst nachgewiesen, dass „verrückte“ Kaiser wie Nero und Caligula zwar grausam und gewalttätig waren, aber nebenbei ganz vernünftige Dinge taten.
Auch al-Hākim ist Gegenstand solcher kritischen, nuancierenden Studien geworden, u.a. von Josef van Ess und vor allem Heinz Halm. Inzwischen erkennt man, dass viele Erzählungen über al-Hakim von Christen stammen, die unter ihm gelitten hatten, oder von Sunniten, die ihn im Nachhinein kaputtschreiben wollten, weil er Schiit war.
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Manche Gräueltaten z.B. können einfach gestrichen werden, wenn man bedenkt, dass die Autoren Christen waren und ihre „Klassiker“ kannten: So soll Al-Hākim Alt-Kairo (Fustāt) in Brand gesteckt haben und noch zwei Tage genüsslich vom Berg Muqattam aus auf die Flammen geschaut haben. Aber das ist natürlich ein narratives  recycling des großen Brandes von Rom, den Kaiser Nero befohlen haben soll. Ein Großbrand in Fustāt ist zu der fraglichen Zeit weder in Texten belegt noch archäologisch nachgewiesen.
Auch wird erzählt, der Kalif wusch sich sieben Jahre lang nicht, wohnte in einem unterirdischen Gewölbe, ließ seine Haare wachsen bis sie lang waren wie Löwenmähnen, und seine Fingernägel, bis sie Adlerklauen glichen. Dies hört sich an wie die Verrücktheit Nebukadnezars, wie sie Daniel beschrieben hatte. In den Augen christlicher Historiker eine schöne Parallele: Nebukadnezar musste wie ein Verrückter herumirren, weil er den Tempel in Jerusalem zerstört hatte; al-Hakim, weil er dort die Grabeskirche hatte abreißen lassen.
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Die berühmten bizarren Dekrete entsprachen bei näherer Betrachtung in weiten Teilen dem islamischen Recht. Auch in anderen Umgebungen wurden schon mal Weinfässer kaputt geschlagen oder Juden und Christen mit diskriminierenden Maßnahmen belästigt; nur nie so eindringlich und nie alles auf einmal. Al-Hākims Dekrete waren auffällig, weil niemand je die Regeln so streng angewendet hatte. Dass sie ständig aufs Neue erlassen werden mussten, zeigt, dass die Bevölkerung so viel Rechtschaffenheit nicht gewöhnt war. Frauen auf der Straße und Alkohol waren einfach nicht zu unterbinden. Die Scharia wird in ihrer vollen Pracht nur von Fundamentalisten für ausführbar gehalten, und al-Hākim war einer. Das war er sich selbst und seinem Stand verpflichtet: War er nicht der Messias?
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Andererseits musste der Kalif die Bevölkerung zufrieden halten. Mit der Abschaffung von Steuern und Zöllen befolgte er islamische Regeln und erfreute zugleich das Volk. Leider konnte die Staatskasse nicht ohne diese Einnahmen auskommen, so dass sie auch wieder eingeführt werden mussten. Auch seine Dekrete schaffte al-Hākim manchmal wieder ab, wenn sie nicht durchführbar waren oder wenn das die Stimmung im Volk hob. Auch seine wechselhafte Haltung der sunnitischen Mehrheit gegenüber wird so verständlich: in schwierigen Zeiten konnte er keine unzufriedene Massen Sunniten gebrauchen. Was reine Willkür zu sein schien, war eine pragmatische Strategie des Machterhalts.
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Eine generelle Christenverfolgung gab es nicht: Einen Tag nach der Zerstörung einer Kirche konnte ein Christ zu Minister ernannt werden. Al-Hākim konnte nicht allzu streng sein mit den Christen: Er brauchte sie ja für die Staatsverwaltung. Gelegentliche Plünderung von Kirchen und Klöstern erfolgte, wenn die Staatskasse leer war. Aus dem gleichen Grund konfiszierte er auch die Erbschaften der hingerichteten Funktionäre und das Vermögen seiner Mutter.
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Sogar die Gewohnheit des Kalifen, ganz bescheiden auf einem Esel zu reiten steht in einer Tradition: So verhält sich nämlich ein Messias (siehe hier oder zenith 4/2014).
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Für al-Hākim wird das Regieren nicht immer leicht gewesen sein. Soldaten maghribinischer und türkischer Herkunft kämpften ständig um die Macht und mussten in Schach gehalten werden. Als geistiger Führer oder gar der Messias der Schiiten (den Drusen zufolge sogar Gott selber!) herrschte er über ein Reich, das hauptsächlich von Sunniten und Christen bewohnt war. Das hätte eigentlich gereicht zum Verrücktwerden; um so mehr, weil er durch seine griechisch-orthodoxe Mutter selbst eine gehörige christliche Komponente hatte.
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Kurzum: al-Hākim war verhaltensauffällig, aber nicht total behämmert. Allerdings ein sehr strenger und unberechenbarer Herrscher, der viel mehr Hinrichtungen auf dem Buckel hatte als zu der Zeit üblich war. Volksnah, aber gerade dem Hof und den höheren Beamten gegenüber sehr misstrauisch.

Alt Hist
Nun ist die Nuancierung bestehender Auffassungen eine Sache; es gibt aber auch propagandistische Geschichtsschreibung, die das Bild einer Person gänzlich revidieren kann. Stalin, zum Beispiel war, nachdem russische Historiker und Medien die Fakten neu gemischt hatten, ein Spitzenmanager, ein netter Kerl, unter dessen Regierung das Leben in der Sowjet-Union, wie er selber sagte, „besser, fröhlicher geworden ist“.
Zu al-Hākim findet man solche „Geschichtsschreibung“ unter anderem in der Encyclopaedia Iranica. Die ist ein meistens vorzügliches englischsprachiges Nachschlagewerk, das alle Themen zu Iran und zum schiitischen Islam behandelt.1 Den Artikel „Hākem be-Amr-Allah“ aber kann man nur parteiisch nennen. Nichts als Lob dort für diesen Kalifen, der sein Reich so schön zusammenhielt und sogar noch zu vergrößern wusste, der sich um die Sittlichkeit seiner Untertanen kümmerte und die Wissenschaft förderte. Kein Wort zu der Zerstörung von Kirchen, den Hinrichtungen, den Dekreten, der Vergöttlichung oder etwaigen Geistesstörungen. Der Mord an seinem Vormund Bargawan heißt dort zum Beispiel: „the latter’s removal“ (Hervorhebung von mir). Dass al-Hākim einen so schlechten Ruf hatte, liegt dem Autor zufolge nur an der feindseligen Haltung christlicher und sunnitischer Historiker.2 Der Autor ist Farhad Daftary, ein führender Ismailit, also von derselben Glaubensrichtung wie der Kalif.

Volksepik
Es gibt noch eine Textgattung, die sich mit al-Ḥākim beschäftigt hat: die Volksepik.3 Fantastische, vielbändige Heldengeschichten über historische Personen oder wenigstens unter Verwendung ihrer Namen waren in der ganzen islamischen Welt weit verbreitet. Das Klientel dürfte solche Erzählungen oft für Geschichte gehalten haben. Postum erschien auch eine Sīrat al-Hākim, „Lebensgeschichte al-Hākims“. Den fiktiven Lebenslauf des Kalifen aus diesen 1600 Seiten zusammenzufassen wäre verlorene Liebesmüh. Aber wo war der Kalif letztendlich geblieben? Für die seriösen Historiker war er wohl ermordet worden; den Drusen zufolge war er verschwunden. Die Volkserzähler „wussten“ aber, dass er nicht auf, sondern in dem Berg Muqattab (eine Verballhornung von Muqattam) verschwunden war. Er war ja mit 360 Schätzen vertraut gemacht worden; nur zwei Schätze blieben ihm verwehrt, in einer Höhle im Berg. Sein Rivale ‘Abd al-‘Azīz, der aus magischen Büchern viel Wissen gesammelt hatte, führte ihn in das Höhlensystem, das randvoll mit Gold und Juwelen war, und er wusste ihn dort unten zurückzulassen. Selbst eilte er nach Kairo, um die Macht zu ergreifen und für die Bluttaten des Kalifen Rache zu üben.
Der Kalif war also tief im Berg eingeschlossen, aber für seine Ernährung war gesorgt. Jahre später fand seine Tochter ihn dort, als er gerade verstorben war.

 

ANMERKUNGEN
1. Die EIr wird von Gelehrten außerhalb Irans herausgegeben. Von der Islamischen Republik Iran ist sie unabhängig. Siehe auch hier.
2. „Ḥākem also concerned himself with the moral standards of his subjects; many of his numerous edicts (sejellāt) preserved in later sources are of an ethico-social nature. He was also prepared to mete out severe punishment to high officials of the state who were found guilty of malpractice. Anṭāki and the Sunni historiographers have generally painted a highly distorted and fanciful image of this caliph-imam, portraying him as a person of unbalanced character with strange and erratic habits. However, modern scholarship is beginning to produce a different account on the basis of Ḥākem’s own edicts and the circumstances of his reign. As a result, Ḥākem is emerging as a tactful leader who was popular with his subjects.“
3. Auch Volksroman genannt, Arabisch: sīra sha’bīya; man spricht vielleicht besser von epischen Erzähltexten. Zur Gattung s. → Heath, Sīra.

BIBLIOGRAPHIE
– Marius Canard, „al-Ḥākim bi-Amr Allāh,“ EI2.
– Farhad Daftary, „Ḥākem be-Amr-Allāh,“ Encyclopaedia Iranica, XI/6, blz. 572-573, online hier (zuletzt gesehen am 12. Mai 2017).
– Josef Van Ess, Chiliastische Erwartungen und die Versuchung der Göttlichkeit. Der Kalif al-Hakim (386-411 H.), Abhandlungen der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse, Jg. 1977, Abh. 2.
– Heinz Halm, Die Kalifen von Kairo. Die Fatimiden in Ägypten (973–1074), München 2003, S. 167–304.
– Heinz Halm, „Der Treuhänder Gottes. Die Edikte des Kalifen al-Ḥākim,“ Der Islam 63 (1986), 11–72.
– Peter Heath, „Sīra sha‘biyya,“ EI2.
– Antje Lenora, Der gefälschte Kalif. Eine Einführung in die Sīrat al-Ḥākim bi-Amrillāh, Diss. Halle/Saale 2011. Hier herunterzuladen.
– Claudia Ott, „Wo versteckt sich al-Ḥākim? Eine Spurensuche in der Sīrat al-Ḥākim bi-Amrillāh und ihrer Berliner Handschrift.“ In H. Biesterfeldt and V. Klemm (Hrsg.), Differenz und Dynamik im Islam. Festschrift für Heinz Halm zum 70. Geburtstag, Würzburg 2012, 399–410.

Diakritische Zeichen: Al-Ḥākim, Fāṭimiden, Yaḥyā al-Anṭākī, Barǧawān, siǧillāt, Fusṭāṭ, Muqaṭṭam, Muqaṭṭab

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Die erste arabische Kriegsmarine

640 eroberten die Araber die römische Provinz Ägypten, aber 646 wurde Alexandrien schon wieder durch eine römische Flotte zurückerobert. Die blieb nicht so lange, aber Mu‘āwiya, der kompetente Gouverneur von Syrien, der später Kalif wurde, erkannte plötzlich, wie leicht das neue arabische Reich vom Meer aus angegriffen werden konnte. Er überzeugte seinen etwas passiven Großonkel, den Kalifen ‘Uthmān, von der Notwendigkeit eine Flotte aufzubauen. Er bekam die Erlaubnis und zwang unzählige Schiffbauer in Syrien und Ägypten sich an die Arbeit zu machen. Nach drei Jahren lag eine Flotte von nicht weniger als 1700 Kriegsschiffen vor der syrischen Küste: „Man sah vor lauter Masten das Meer nicht mehr.“
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Jetzt sollte die Flotte natürlich ausprobiert werden. Im Frühling 649 brachte man 12.000 Soldaten an Bord und ein Teil der Flotte fuhr für einen Überfall auf die noch römische Insel Zypern aus. Die dortigen Bewohner ließen die Soldaten ungehindert von Bord gehen, weil sie meinten, es seien Römer. Sie konnten sich offensichtlich nicht vorstellen, dass es so etwas wie eine arabische Flotte geben konnte. Die Truppen konnten einfach in die Hauptstadt Constantia (griechisch Σαλαμίνα, Salamina; unweit vom heutigen Famagusta) einmarschieren, sie besetzen und plündern. Sehr große Mengen Gold und Silber und eine große Zahl von Sklaven und Sklavinnen wurden erbeutet. So wurden die Kosten des Flottenbaus weitgehend wettgemacht.

Das Fahren und Plündern verlief sehr angenehm. Mu‘āwiya nahm darauf Kurs auf Konstantinopel, aber seine Flotte wurde von den Römern vertrieben. Dann lieber nach Arwad, eine kleine Insel vor der syrischen Küste, die er aber wegen ihrer sehr starken Befestigungsanlagen nicht einnehmen konnte. Inzwischen wurde es Winter und die Flotte kehrte nach Syrien zurück, aber im Frühling 650 eroberte Mu‘āwiyas Flotte Arwad und schleifte die Festungen. Dann wurde Zypern noch mal überfallen, wo diesmal römische Soldaten lagerten. Diese spornten die Bewohner an durchzuhalten, aber beim Anblick der arabischen Flotte ergriffen die die Flucht und versuchten überall sich zu verstecken. Vergebens: Die Araber „zupften sie aus den Rissen im Boden wie Eier, die in einem Nest zurückgelassen waren.“ Abermals wurden große Mengen Edelmetall erbeutet und Zehntausende Sklaven—wenn diese Zahl nicht übertrieben ist. Constantia hat sich nie davon erholt.

654 segelte die von Abu al-A’war angeführte Flotte nach Konstantinopel, während gleichzeitig eine Armee unter Muʿāwiya über Land dorthin marschierte. Bei Phoenix (Φοῖνιξ, dem heutigen Finike bei Antalya) begegneten die Araber einer römischen Flotte, auf der Kaiser Constans II. und sein Bruder persönlich anwesend waren. Es kam zu einer Seeschlacht, der „Schlacht der Masten“ (ma‘rakat dhāt al-sawārī), die von den Arabern gewonnen wurde. Ihre Stärke scheint hauptsächlich in der Wendigkeit ihrer kleineren Angriffsschiffe gelegen zu haben. Der Kaiser musste als Soldat verkleidet um sein Leben fliehen. Dann weiter zum Hauptziel: Konstantinopel! Aber als die arabischen Schiffe sich schon fast vor der Stadt befanden, kam ein schwerer Sturm auf, der die gesamte Flotte, mitsamt Belagerungswaffen zerstörte. Die Hand Gottes, wie man in Konstantinopel fest glaubte. Mu’āwiya führte seine Truppen über Land zurück nach Hause. Es würde Jahrzehnte dauern, bis man es wagte, wieder Kurs auf Konstantinopel zu nehmen, aber selbst dann und in den folgenden Jahrhunderten war es nie möglich, diese Stadt vom Meer aus zu erobern. Trotzdem war die arabische Marine fortan eine beeindruckende Präsenz im östlichen Mittelmeerraum.

Die Schiffbauer und die Seeleute waren alle christliche Kopten und Syrer; die Soldaten waren Araber. Die Syrer wie auch die Ägypter waren seit Jahrhunderten mit dem Meer vertraut. Obwohl die Schifffahrt im Koran ein nicht unwichtiges Thema ist, scheuten die Muslime in Syrien sich aber vor dem Meer. Dass die Matrosen und Ruderer Christen waren, erwies sich noch 717 als ein Nachteil. Als die Flotte abermals Konstantinopel angreifen wollte, aber irgendwo am Bosporus überwintern musste, liefen viele von ihnen zu den Römern über, weil ihnen jetzt einfiel, dass sie als Christen eigentlich eher dem Römerreich angehörten. Der Kaiser dürfte sie bei ihrer Entscheidung unterstützt haben.

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EXKURS
Ein Hadith erzählt, dass eine Frau namens Umm Haram gerne als Soldat mit ihrem Mann mitgehen wollte, auf dieser Expedition gegen Zypern. Der Prophet erlaubte es ihr. Von ihren Kriegshandlungen ist nichts bekannt, aber sie fiel nach der Rückkehr in Syrien von ihrem Reittier, starb und wurde somit Märtyrerin. Zu ihrem Gedächtnis baute man 1816 eine Moschee bei ihrem Grab auf Zypern. Vor Ort meinte man wohl, sie sei auf Zypern umgekommen.

[…] von Anas ibn Mālik, von seiner Tante Umm Harām bint Milhān: Der Prophet schlief eines Tages in meiner Nähe und als er aufwachte, lächelte er. Ich fragte ihn, warum er lachte. Er antwortete: [Im Traum] sind mir Menschen aus meiner Gemeinde gezeigt worden, reitend auf dem grünen Meer  wie Könige auf ihren Thronen. Sie sagte: Bete zu Gott, dass er mich zu einer von ihnen macht! Darauf bat der Prophet für sie und schlief wieder ein; dasselbe geschah noch einmal. Er sagte: Du bist eine der Ersten.
[Und in der Tat,] sie ging an der Seite ihres Gatten ‘Ubāda ibn as-Sāmit mit auf den Raubzug, als die Muslime mit Mu‘āwiya zum ersten Mal das Meer befuhren. Als sie von dem Raubzug heimkehrten und in Syrien wieder an Land gingen, wurde ihr ein Tier zum Reiten gebracht, aber es warf sie ab und daran starb sie. Bukhārī, Djihād 8, var. Djihād 3, 17:

حَدَّثَنَا عَبْدُ اللَّهِ بْنُ يُوسُفَ قَالَ حَدَّثَنِي اللَّيْثُ حَدَّثَنَا يَحْيَى عَنْ مُحَمَّدِ بْنِ يَحْيَى بْنِ حَبَّانَ عَنْ أَنَسِ بْنِ مَالِكٍ عَنْ خَالَتِهِ أُمِّ حَرَامٍ بِنْتِ مِلْحَانَ قَالَتْ نَامَ النَّبِيُّ صَلَّى اللَّهُ عَلَيْهِ وَسَلَّمَ يَوْمًا قَرِيبًا مِنِّي ثُمَّ اسْتَيْقَظَ يَتَبَسَّمُ فَقُلْتُ مَا أَضْحَكَكَ قَالَ أُنَاسٌ مِنْ أُمَّتِي عُرِضُوا عَلَيَّ يَرْكَبُونَ هَذَا الْبَحْرَ الْأَخْضَرَ كَالْمُلُوكِ عَلَى الْأَسِرَّةِ قَالَتْ فَادْعُ اللَّهَ أَنْ يَجْعَلَنِي مِنْهُمْ فَدَعَا لَهَا ثُمَّ نَامَ الثَّانِيَةَ فَفَعَلَ مِثْلَهَا فَقَالَتْ مِثْلَ قَوْلِهَا فَأَجَابَهَا مِثْلَهَا فَقَالَتْ ادْعُ اللَّهَ أَنْ يَجْعَلَنِي مِنْهُمْ فَقَالَ أَنْتِ مِنْ الْأَوَّلِينَ فَخَرَجَتْ مَعَ زَوْجِهَا عُبَادَةَ بْنِ الصَّامِتِ غَازِيًا أَوَّلَ مَا رَكِبَ الْمُسْلِمُونَ الْبَحْرَ مَعَ مُعَاوِيَةَ فَلَمَّا انْصَرَفُوا مِنْ غَزْوِهِمْ قَافِلِينَ فَنَزَلُوا الشَّأْمَ فَقُرِّبَتْ إِلَيْهَا دَابَّةٌ لِتَرْكَبَهَا فَصَرَعَتْهَا فَمَاتَتْ.

BIBLIOGRAFIE
– Robert G. Hoyland, In God’s Path: The Arab Conquests and the Creation of an Islamic Empire, Oxford 2015, S. 90–3.
– Hugh Kennedy, The Great Arab Conquests. How the Spread of Islam Changed the World We Live In, London 2007, Kap.. 10.

Diakritische Zeichen: Muʿawiya, ʿUṯmān, Umm Ḥarām bint Milḥān, ʿUbāda ibn aṣ-Ṣāmit, al-Buḫārī, Ṣawārī

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