Die Bestrafung im Grab

Der Koran kennt Bestrafung im Jenseits, aber nicht die Bestrafung der Toten in ihrem Grab (‘adhāb al-qabr), an die viele Muslime trotzdem gerne glauben. Sie ist vor allem ein Thema des Hadiths; dorthin wird sie wohl aus der vorislamischen Zeit hinübergerettet worden sein.1 Bis zum *Jüngsten Tage liegen die Körper der Verstorbenen von ihren Seelen getrennt in ihrem Grab. In dem sog. „Zwischenzustand“ (barzakh) bestehen sie in irgendeiner Weise weiter und sie können Druck, Schmerz oder Freude empfinden. Der Koran spielt nur kurz darauf an, aber Hadithe und volkstümliche Texte besprechen es ausführlich.2

Wer wird bestraft? Im Prinzip alle Verstorbenen, außer gewissen Kategorien von Menschen, die nach ihrem Tod eine Sonderbehandlung erhalten. Die Märtyrer, die für Gottes Sache auf dem Schlachtfeld umgekommen sind, sind „nicht tot. Nein, sie sind lebendig, und ihnen wird bei ihrem Herrn Lebensunterhalt gegeben“ (Koran 3:169). Laut einem Hadith kommen Propheten, Märtyrer und unschuldige Kinder sofort nach ihrem Tod ins Paradies.3 Ein anderer Hadith erwähnt zehn Personen, unter ihnen den Propheten Muḥammad und die ersten vier Kalifen, die „bereits im Paradies sind“.4

Was passiert? Die meisten Menschen werden aber in ihrem Grabe einer Befragung (musā’ala) unterzogen, die eine schmerzhafte Bestrafung zur Folge haben kann. Der Tote wird gebeten in seinem Grab aufrecht zu sitzen und von seinem Glauben und seinen Taten Rechenschaft abzulegen. Wenn er gute Taten getan hat, werden diese für ihn antworten. Wenn das Ergebnis der Befragung zufriedenstellend ist, wird das Grab geräumiger gemacht, so dass sein Körper Erleichterung spürt. Andernfalls wird er gefoltert, indem sein Grab zusammengedrückt wird; überdies kann er geschlagen, ausgepeitscht oder durch eine feurige Schlange gebissen werden. Zu seiner Schande wird sein Unglauben allgemein bekannt gemacht.5

Wer bestraft? Darüber sind die Quellen nicht einstimmig. Es kann ein Unbekannter sein oder ein Engel, der manchmal Rūmān genannt wird, oder zwei Engel, die entweder namenlos bleiben oder in einigen Texten Munkar and Nakīr heißen,6 oder es können sogar vier Engel sein.7

In der Koranauslegung (tafsīr). Wenn der Koran von einem wichtigen Thema nicht spricht, versuchen die Ausleger trotzdem in mehreren Versen Anspielungen darauf zu entdecken. Das ist auch hier geschehen. So wird z.B. in Koran 9:101 von den Heuchlern gesagt: „Wir werden sie zweimal bestrafen.“ Das könnte einmal in dieser Welt sein und einmal im Grab.8 Für den frühen Koranausleger *Muqātil ibn Sulaimān (gest. 767)9 ist die erste Bestrafung der Tod, während die zweite im Grab vollzogen wird: „Im Augenblick des Sterbens schlagen die Engel ihnen ins Gesicht und auf den Rücken, und Munkar und Nakīr tun dies im Grab.“ Zum Koranvers 40:11: „Sie sagen: Unser Herr, Du hast uns zweimal sterben lassen und zweimal lebendig gemacht, hat at-Tabarī (gest. 923) unter den ihm bekannten Auslegungen auch diese bewahrt: „Sie starben in dieser Welt und wurden im Grab auferweckt; dann wurden sie befragt oder zu Rede gestellt; dann starben sie in ihrem Grab und wurden im Jenseits nochmals auferweckt.“10 Es gibt noch viel mehr Koranauslegungen, die zeigen, dass die Bestrafung im Grab im frühen Islam ein wichtiges Thema war.

Auch in der Theologie war das der Fall. Al-Ash‘arī,11 die *Khāridjiten und die Muʿtaziliten verneinten den Realitätsgehalt der Bestrafung im Grabe. Dirār ibn ‘Amr (± 728-96) tat das sehr ausdrücklich, weil er von Hadithen nicht viel hielt.12 Die meisten alten Muslime glaubten aber, dass es diese Bestrafung wirklich gebe. Verschiedene Glaubensbekenntnisse (‘aqā’id) von Gläubigen, die sich an Hadith und Sunna halten wollten,13 drängten auf die Anerkennung der Realität der Bestrafung im Grabe.14 Das ist selbstverständlich in einem Milieu, in dem alle Texte über das Leben nach dem Tod wortwörtlich genommen werden. Sollten zum Beispiel Paradies und Hölle nicht wirklich existieren, sondern bloß Metaphern sein, warum sollte man dann noch den göttlichen Geboten gehorchen? Und wenn man Paradies und Hölle wörtlich nimmt, ist es nur ein kleiner Schritt, das auch mit der Bestrafung im Grab zu tun.

ANMERKUNGEN
1. Zwei Hadithe zur Bestrafung im Grabe:
Qatāda überliefert von Anas ibn Malik: Der Prophet hat gesagt: Wenn ein Toter in sein Grab gelegt worden ist und die Trauergemeinde sich entfernt hat, hört er das Gedröhn ihrer Sandalen. Dann kommen zwei Engel zu ihm, die ihn aufsitzen lassen und ihn fragen: „Was hast du immer über den Mann, über Muḥammad gesagt?“ Ein Gläubiger sagt dann: „Ich bezeuge, dass er der Knecht und der Gesandte Gottes ist.“ Dann wird zu ihm gesagt: „Schau, dort ist dein Platz in der Hölle, aber für dich hat Gott ihn mit einem Platz im Paradies vertauscht,“ und er wird beide Plätze sehen können. (Muslim, Ṣaḥīḥ, Ǧanna 70)

حدثنا عبد بن حميد. حدثنا يونس بن محمد. حدثنا شيبان بن عبدالرحمن عن قتادة. حدثنا أنس بن مالك قال: قال نبي الله ص „إن العبد إذا وضع في قبره، وتولى عنه أصحابه، إنه ليسمع قرع نعالهم“ قال „يأتيه ملكان فيقعدانه فيقولان له: ما كنت تقول في هذا الرجل؟“ قال „فأما المؤمن فيقول: أشهد أنه عبد الله ورسوله“ قال „فيقال له: انظر إلى مقعدك من النار. قد أبدلك الله به مقعدا من الجنة“ قال نبي الله ص „فيراهما جميعا“.

Von Ibn ‘Abbās: Der Prophet kam an einer der Mauern in Medina oder Mekka vorbei und hörte dort die Stimmen zweier Menschen, die in ihrem Grab bestraft wurden. Der Prophet sagte: „Sie werden bestraft, aber nicht wegen einer großen Sünde. Nein, der eine hat sein Geschlechtsteil nicht von den letzten Urintropfen gereinigt; der andere ist mit Verleumdungen herumgegangen.“ Darauf rief er um einen Palmzweig, zerbrach ihn in zwei Teile und legte auf jedes der beiden Gräber ein Stück. Als man ihn fragte, weshalb er das getan habe, sagte er: „Vielleicht wird ihr Schicksal etwas erleichtert, solange die Zweige nicht verdorrt sind.“ (Buḫārī, Ṣaḥīḥ, Wuḍūʾ 55) (@Text stimmt nicht ganz überein@)

حدثنا محمد بن المثنى قال: حدثنا محمد بن خازم قال: حدثنا الأعمش، عن مجاهد، عن طاوس، عن ابن عباس قال: مر النبي ص بقبرين، فقال: (إنهما ليعذبان، وما يعذبان في كبير، أما أحدهما فكان لا يستتر من البول، وأما الآخر فكان يمشي بالنميمة). ثم أخذ جريدة رطبة، فشقها نصفين، فغرز في كل قبر واحدة. قالوا: يا رسول الله، لم فعلت هذا؟ قال: (لعله يخفف عنهما ما لم ييبسا).

2. Wensinck, Handbook s.v. „Graves“; Smith/Haddad, Understanding 31–61; Van Ess, Theologie iv, 521–8.
3. Abū Dāwūd, Sunan, Ǧihād, 25; Ibn Ḥanbal, Musnad v, 58 u.a.
Ich fragte den Propheten: „Wer ist im Paradies?“ Er antwortete: „Der Prophet ist im Paradies, die Märtyrer sind im Paradies, [verstorbene] Säuglinge sind im Paradies und lebendig beerdigte Mädchen sind im Paradies.“  حدثنا مسدد، ثنا يزيد بن زريع، ثنا عوف، قال: حدثتنا حسناء بنت معاوية الصريميّة قالت: ثنا عمي قال: قلت للنبي ص: من في الجنة؟ قال: النبيُّ في الجنة، والشهيد في الجنة، والمولود في الجنة، والوئيد في الجنة.
4. Abū Dāwūd, Sunan, Sunna 8/4649; Ibn Ḥanbal, Musnad i, 187–8. Für sonstige privilegierte Kategorien s. Wensinck, Handbook, s.v. „Graves: who is free from the trial“.
Der Prophet, Abū Bakr, ‘Umar, ‘Uthmān, ‘Alī, Ṭalḥa, az-Zubayr, Sa‘d ibn Mālik, ‘Abd ar-Raḥmān ibn ‘Awf, Sa‘īd ibn Zaid.

حدثنا حفص بن عمر النمري، ثنا شعبة، عن الحر بن الصيَّاح، عن عبد الرحمن بن الأخنسأنه كان في المسجد فذكر رجلٌ عليّاً عليه السلام، فقام سعيد بن زيد فقال: أشهد على رسول اللّه ص أني سمعته وهو يقول: „عشرةٌ في الجنة: النبيُّ في الجنة، وأبو بكرٍ في الجنة، وعمر في الجنة، وعثمان في الجنة، وعليٌّ في الجنة، وطلحة في الجنة، والزبير بن العوام في الجنة، وسعد بن مالك في الجنة، وعبد الرحمن بن عوفٍ في الجنة“ ولو شئت لسميت العاشر، قال: فقالوا: من هو؟ فسكت، قال: فقالوا: من هو؟ فقال: هو سعيد بن زيد.

5. Aḥwāl al-qiyāma 39–41; Übers. 69–73; Smith/Haddad, Understanding of death 41–50; Van Ess, Theologie iv, 528–34; Wensinck/Tritton, ‘Adhāb al-ḳabr.
6. Bereits bei Muqātil ibn Sulaimān, Tafsīr ii, 193, 405–6, pace Wensinck, Munkar wa-Nakīr; idem, Creed 117–9, 163–5.
7. Van Ess, Theologie, iv, 528, 531.
8. ‘Abd ar-Razzāq, Tafsīr i, 253; aṭ-Ṭabarī, Tafsīr xiv, 444; Zamaḫšarī, Kaššāf ii, 211.
9. Muqātil ibn Sulaimān, Tafsīr ii, 193.
10. At-Tabarī, Tafsīr xxiv, 31.
11. Al-Ash‘arī, Maqālāt 430.
12. Van Ess, Theologie iii, 52, iv, 529.
13. Im etwas schwierig datierbaren Glaubensbekenntnis Fiqh akbar, das wohl zu Unrecht Abū Ḥanīfa zugeschrieben worden ist, lautet der zehnte Artikel: „Wer sagt: ,Die Bestrafung im Grabe erkenne ich nicht an,‘ gehört zur Sekte der Ǧahmiten, die ins Verderben geht,“ und dies ist längst nicht der einzige Text.
14. Wensinck/Tritton, ‘Aḏāb al-ḳabr; Wensinck, Creed, Index unter „punishment“.

BIBLIOGRAPHIE
Primär:
‘Abd ar-Razzāq aṣ-Ṣanʿānī, Tafsīr, Hg. Qalʿaǧī, 2 Bde., Beirut 1991; Aḥwāl al-qiyāma, Hg. und übers. M. Wolff, Muhammedanische Eschatologie, Leipzig 1872; Al-Ash‘arī, Kitāb al-maqālāt al-islāmīyīn wa-ḫtilāf al-muṣallīn, Hg. H. Ritter, Wiesbaden 19803; Tafsīr Muqātil b. Sulaymān, Hg. ‘Abdallāh Maḥmūd Shiḥāta, 5 Bde. Kairo 1979-89; aṭ-Ṭabarī, Tafsīr, Hg. Šākir (sura 1–12), hg. Cairo 1323–9 (sura 13–114); Zamaḫšarī, Kaššāf, Hg. M. Ṣ. Qamḥāwī, 4 Bde., Cairo (al-Bābī al-Ḥalabī) 1972, und die üblichen Hadithsammlungen.

Sekundär:
R. Eklund, Life between death and resurrection according to Islam, Uppsala 1941; Joseph van Ess, Theologie und Gesellschaft im 2. und 3. Jahrhundert Hidschra, 6 Bde., Berlin 1991–95, iv, 521–34; R. J. McCarthy, The theology of al-Ash‘arī, Beirut 1953; W. Raven, „Reward and punishment,“ in EQ; J. Smith and Y. Haddad, The Islamic Understanding of Death and Resurrection, Albany 1981, 31–61; A.J. Wensinck, „Munkar wa-Nakīr“ in EI2; idem, The Muslim Creed, Cambridge 1932, index; A.J. Wensinck und A.S. Tritton, „‘Adhāb al-ḳabr“ in EI2, und die üblichen Hilfsmittel zur Erschließung des Hadiths.

Diakritische Zeichen: aḏāb al-qabr, barzaḫ, aṭ-Ṭabarī, Al-Ashʿarī, Ḫāriǧiten, Ḍirār ibn ʿAmr, ʿaqāʾid

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Ibn Ishaqs Prophetenbiographie

Vielerorts wird gemeint, dass Ibn Hishām (gest. ± 830) der wichtigste Biograph Mohammeds gewesen sei. Das ist nicht richtig; er war nur Bearbeiter und Herausgeber des früheren Werks von Muhammad ibn Ishāq (704–767).1 Diesen kann man tatsächlich als den wichtigsten Verfasser von siraLiteratur betrachten. Er hatte sich früh auf Erzählungen und Geschichtsschreibung spezialisiert, aber auch im Hadith kannte er sich aus. Sein wichtigster Lehrmeister war al-Zuhrī, und mehrere Verwandte des ältesten Biographen, Urwa ibn az-Zubair, waren seine Informanten.
Nicht alle Gelehrten in Medina wussten Ibn Ishāqs Arbeit zu schätzen. Er lebte in einer Zeit, in der die Produkte der Erzähler nicht länger in Gunst standen und allmählich nur noch Hadithe mit zuverlässigen Überliefererketten gefragt waren. Nach einem Konflikt mit Mālik ibn Anas, dem größten Rechtsgelehrten in Medina, verließ er seine Vaterstadt und zog in den Irak. Dort bat ihn der Abbasidenkalif al-Mansūr (reg. 754–75)  ein umfassendes Geschichtswerk zu schreiben, das die Zeit von der Schöpfung bis zu dessen eigenen Zeit abdecken sollte. Die Materialien, die Ibn Ishāq zuvor gesammelt und seinen Schülern diktiert hatte, nehmen in diesem Werk eine zentrale Stelle ein.

Sein großes Werk bestand aus drei Teilen. Im ersten, al-Mubtada’ („Am Anfang“) behandelte er die Schöpfung der Welt, die Propheten von Adam bis Jesus und die Araber in vorislamischer Zeit. Der zweite Teil, al-Mab‘ath („Die Sendung“), beschrieb das Leben Mohammeds bis zu seiner Emigration nach Medina. Der dritte Teil, al-Maghāzī („Kriegszüge“), handelte von der Tätigkeit Mohammeds in Medina; ein hinzugefügter vierter Teil von seinen Nachfolgern, den Kalifen. Anders als seine Vorgänger sammelte Ibn Ishāq nicht nur Material. Er komponierte ein Werk mit einer Struktur, und ordnete seinen Stoff bald chronologisch, bald thematisch. Offensichtlich gab es nur ein Exemplar des riesigen Werks, in der Hofbibliothek des neu gegründeten Bagdads. Ibn Ishāq „veröffentlichte“ daraus, indem er seinen Schülern Teile diktierte, die sie wortgetreu niederschrieben.
Das Buch selbst gibt es nicht mehr, aber große Bruchstücke, vor allem aus den ersten drei Teilen, sind in zahlreichen Abschriften, Zusammenfassungen und Zitaten von Kompilatoren bewahrt geblieben, die wiederum die Abschriften der ersten Schüler weiterreichten.2 Drei Herausgeber von Ibn Ishāqs Werk sind hier erwähnenswert, weil sie große Teile seiner Texte überliefert haben.

1. Der bekannteste ist in der Tat ‘Abd al-Malik ibn Hishām,1 dessen tausendseitige Auswahl aus Ibn Ishāqs Werk der erste sīra-Text war, der fortan in gleichbleibender Form überliefert wurde. Neben dem Leben Mohammed behandelt er noch das alte Arabien: die Christen und Juden dort, und die Ka‘ba, aber nicht die früheren Propheten. In ausführlichen Anmerkungen erklärte er schwierige Begriffe und fügte er Erzählungen, Poesie und genealogisches Material hinzu. Ibn Hishām nahm keine Texte auf, die er theologisch unkorrekt befand und schnitt Sätze weg, wo er dies nötig erachtete.

2. Der Iraner at-Tabarī (gest. 923)4 hat in seinem riesigen Geschichtswerk Ta’rīkh al-rusul wal-mulūk beträchtliche Teile von Ibn Ishāqs Werk überliefert. Für dessen ersten Teil, das Kitāb al-Mubtada’, ist at-Tabarī sogar die wichtigste Quelle.5 Der Teil über Mohammed ist eine Rezension, die sehr verwandt ist mit der des Ibn Hishām.6 Zwei auffällige Texte, die Ibn Hishām nicht aufgenommen hatte, sind hier bewahrt worden: einer über Mohammeds Vorhaben, Selbstmord zu begehen7 und die Erzählung von den *Teufelsversen.8 Der Anfang des Ta’rīkh bietet Weltgeschichte. Das Leben Mohammeds bildet den Teil zwischen der Frühgeschichte (hier einschließlich der alten persischen Könige) und die Periode der Kalifen. Viel von Ibn Ishāqs sira-Material ist auch in at-Tabarīs Tafsīr auffindbar, aber dort muss es mühsam aus vielen Stellen zusammengelesen werden.9

3. Der am wenigsten bekannte Herausgeber von einem Teil des Werks ist Ahmad ibn ‘Abd al-Djabbār al-‘Utāridī (794-886).10 Er basierte seine Ausgabe auf die Überlieferung des Yūnus ibn  Bukair (gest. 815), eines Schülers Ibn Ishāqs.11 Was von seinem Text bewahrt geblieben ist, entspricht ungefähr einem Fünftel von Ibn Hishāms Rezension. Es wurde erst 1976 gedruckt und ist nicht übersetzt worden. Al-‘Utāridī überliefert manchmal Erzählstoff von Ibn Ishāq, den Ibn Hishām wohl aussortiert hätte. (@Beispiele sollen her.) Überdies fügt auch er Material hinzu, das überhaupt nicht auf Ibn Ishāq zurückgeht.12

ANMERKUNGEN
1. Über ihn: Schoeler, Charakter, 37–51; Newby, Making, 1–31; Duri, Rise, 32–7; Jones, Ibn Isḥāḳ.
2. Ein Überblick in A. Guillaume, The Life of Muhammad, xxx–xxxi.
3. Watt, Ibn Hishām; Schoeler, Charakter, 50–3.
4. C.E. Bosworth, „Al-Tabarī,“ in EI 2.
5. At-Tabarī, Ta’rīkh, i, 9–872 (Fragmente). Die Prophetenerzählungen stehen auch in Newby, Making.
6. ibid., i, 1073–1837.
7. ibid., i, 1147.
8. ibid., i, 1192–6.
9. Nützliche Hinweise jedoch in Newby, Making.
10. Sezgin, GAS, i, 146.
11. ibid., i, 289.
12. Siehe Muranyi, Riwāya. Beschreibung des Inhalts bereits in Guillaume, New light. Übersetzte Fragmente in Rubin, Eye, Index s.v. Yūnus b. Bukayr, und in Schoeler, Character, Index s.v. Yūnus und al-‘Utāridī.

Bibliographie
Primär:
– Ibn Ishāq: Das Leben Muhammed’s nach Muhammed Ibn Ishâk bearbeitet von Abd el-Malik Ibn Hischâm, ed. F. Wüstenfeld, Göttingen, 2 dln., 1858–60 [editio princeps des arabischen Texts]. Auch online vorhanden.
– idem: A. Guillaume, The Life of Muhammad. A translation of Isḥāq’s (sic!) Sīrat Rasūl Allāh, Oxford 1955 [auch wichtige Einleitung].
– idem: Das Leben des Propheten, übers. Gernot Rotter, Tübingen 1976,  4. Aufl. Kantern 2008 (Auswahl).
– idem, die Rezension des al-‘Utāridī: Sīrat Ibn Ishāq al-musammā bi-Kitāb al-mubtada’ wal-mab‘ath wal-maġāzī, hrsg. M. Hamīd Allāh, Rabat 1976, nachgedruckt Konya 1981 (eine andere Ausgabe: Ibn Ishāq, Kitāb as-Siyar wal-maġāzī, ed. S. Zakkār, Beirut 1978).
– At-Tabarī, [Ta’rīkh al-rusul wal-mulūk =] Annales, uitg. M.J. de Goeje et al., 14 Bde., Leiden 1879–1901. In dieser Ausgabe hier online (vollständig?); in einer no name Ausgabe hier
– idem, idem, englische Übersetzung: E. Yarshater (hrsg.), The history of al-Tabarī. An annotated translation, 39 Bde., Albany 1985–1999.
– idem, Djāmi‘ al-bayān fī tafsīr al-Qur’ān, versch. Ausgaben. Online hier.

Sekundär:
– A.A. Duri, The rise of historical writing among the Arabs, hrsg. und übers. L.I. Conrad, Einl. F.M. Donner, Princeton 1983 (= überarbeitete Übers. von Baḥt fī naš’at ʿilm at-ta’rīḫ ‘inda al-‘arab, Beirut 1960).
– A. Guillaume, New light on the life of Muhammad, Manchester o. J. (JSS Monograph 1).
– J.M.B. Jones, ‘Ibn Isḥāḳ,’ in EI2.
– M. Muranyi, ‘Ibn Isḥāq’s Kitāb al-Maġāzī in der riwāya von Yūnus b. Bukair. Bemerkungen zur frühen Überlieferungsgeschichte,’ in JSAI 14 (1991), 214–75.
– G.D. Newby, The making of the last prophet. A reconstruction of the earliest biography of Muhammad, Columbia, SC 1989.
– A. Noth and L.I. Conrad, The early Arabic historical tradition. A source-critical study, Princeton 1994.
– W. Raven, ‘Sīra and the Qurʾān,’ in EQ.
– U. Rubin, The Eye of the Beholder. The life of Muḥammad as viewed by the early Muslims. A textual analysis, Princeton 1995.
– G. Schoeler, Charakter und Authentie der muslimischen Überlieferung über das Leben Mohammeds, Berlin 1996.
– F. Sezgin, Geschichte des arabischen Schrifttums, 9 vols., Leiden 1967–84.
– W.M. Watt, ‘Ibn Hishām,’ in EI2.
– W.M. Watt, ‘The reliability of Ibn Isḥāq’s sources,’ in T. Fahd (Hrsg.), La vie du prophète Mahomet. Colloque de Strasbourg (octobre 1980), Paris 1983, 31–43.

Diakritische Zeichen: Ibn Hišām, Muḥammad ibn Isḥāq, al-Manṣūr, al-Mabʿaṯ, al-Maġāzī, aṭ-Ṭabarī, Taʾrīḫ, Aḥmad ibn ʿAbd al-Ǧabbār al-ʿUṭāridī, Ǧāmiʿ

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Der Lohn der Märtyrer

🇳🇱 Junge islamische Märtyrer dürften sich am meisten auf das Paradies freuen wegen des Verkehrs mit den Huris. Eine weit verbreitete Überzeugung ist, dass jeder Märtyrer nach seinem Tod sofort in das Paradies kommt, wo zweiundsiebzig Jungfrauen ihn erwarten.
Maher Jarrar1 hat die Verbindung zwischen Märtyrertod und Huris erforscht in Texten von ‘Abdallāh ibn al-Mubārak (736–797),2 die größtenteils nicht mit einer korrekten Überlieferungskette (Isnad) auf den Propheten zurückgehen und daher für Muslime keine große Autorität besitzen. Trotzdem haben diese und ähnliche Texte durch die Jahrhunderte Männer von himmlischen Bräuten für tapfere Krieger träumen lassen, auch in Zeiten, als es gar keinen Krieg gab. In manchen dieser Texte äugeln die Huris bereits auf dem Schlachtfeld mit den Kämpfern.
Nicht auszuschließen ist jedoch, dass die Märtyrer nach ihrem Tod gerade in diesem Punkt schlecht wegkommen werden. Der Koran bleibt vage in Bezug auf das Wie und Wann der Belohnung für ihren kriegerischen Einsatz. An verschiedenen Stellen im Koran werden die Paradiesjungfern erwähnt, aber nicht speziell in Verbindung mit Märtyrern. Die Rede ist von einem gewaltigen Lohn, von Barmherzigkeit und Vergebung, und vom Paradies; die Märtyrer werden zu Gott versammelt werden (K. 3:158). Aber das alles wird auch den anderen Gläubigen zuteil. Das wirklich Besondere ist, dass die Märtyrer nicht tot sind:

  • Meine nicht, dass diejenigen, die für Gottes Sache gestorben sind, tot sind. Nein, sie sind lebendig, und ihnen wird bei ihrem Herrn Lebensunterhalt gegeben.“3

Die Auslegung und die Hadithe des Propheten zu diesem Thema sind nicht einstimmig. Der Gedanke, dass Märtyrer sofort nach ihrem Tode ins Paradies eintreten werden, ist alt, wie eine Passage bei Ibn Ishāq (704-767) beweist. Als die Muslime eines Tages das kostbare Gewand eines besiegten Kleinkönigs bestaunten, sagte der Prophet:

  • „Findet ihr das schön? Bei Ihm, in dessen Hand mein Leben ist: die Servietten von Sa‘d ibn Mu‘ādh im Paradies sind viel schöner!“ 4

Sa‘d war ein Märtyrer, denn er war kurz zuvor an einer Kriegsverletzung gestorben. Von Huris wird hier nicht gesprochen; Sa‘d sitzt offenbar an einem Festgelage. In der als kanonisch geltenden Hadithliteratur, die von allen frühen Texten außer dem Koran unter Muslimen das meiste Prestige hat, kommen diese zweiundsiebzig Huris nur einmal vor:

  • Der Prophet hat gesagt: „Ein Märtyrer hat sechs Verdienste bei Gott: Ihm wird beim ersten Blutschwall Vergebung gewährt, ihm wird sein Platz im Paradies gezeigt,5 er wird vor der Bestrafung im Grabe geschützt, er ist vor dem allergrößten Schrecken6 sicher, ihm wird die Krone der Würde aufgesetzt, deren Rubin prachtvoller ist als die ganze Welt und was darin ist, ihm werden zweiundsiebzig großäugige Huris geschenkt und er wird für siebzig Verwandten zum Fürsprecher gemacht.” 7

Der Augenblick, in dem die Märtyrer mit diesen Huris vereinigt werden sollen, bleibt unklar. Der Text ist ein sogenannter Sammelhadith: Hier wird eine Anzahl von Verdiensten der Märtyrer so summarisch aufgelistet, dass jeder einzelne an anderer Stelle wohl ausführlicher besprochen worden sein muss. In den kanonischen Hadithsammlungen hat das jedoch keine Spuren hinterlassen. Es gibt nur einen Hadith, der um 800 mit einem unvollständigen, um 850 auch mit einem vollständigen isnād überliefert wird: Als in Anwesenheit des Propheten einmal über Märtyrer geredet wurde, sagte er:

  • „Das Erdreich ist noch nicht trocken vom Blut eines Märtyrers, da kommen schon seine beide Gattinnen herbeigeeilt, wie Kamelstuten, die ihre Jungen in einem weiten Land verloren haben. Jede von beiden erscheint in einem Gewand, das prachtvoller ist als diese ganze Welt und was darin ist.“ 8

Hier werden also nur zwei Frauen erwähnt, die zwar sofort nach dem Martyrium zur Verfügung stehen, aber deren Verlangen nach den Märtyrern mit dem Mutterinstinkt (!) von Kamelstuten verglichen wird.

Mindestens so weit verbreitet wie die Hadithe bezüglich der sofortigen Aufnahme ins Paradies ist die Auffassung, dass die Märtyrer nach ihrem Tod nicht sofort dorthin gehen. „Die Märtyrer sind an der Bāriq,“ heißt es bei Ibn Ishāq, „ein Fluss beim Paradiestor, in einem grünen Rundzelt, und ihren Lebensunterhalt bekommen sie morgens und abends aus dem Paradies.“ 9 Dies scheint eine Art Warteraum für das jüngste Gericht zu sein. In dieser Vorstellung existiert das Paradies schon, aber es ist noch nicht zugänglich. Der Koranausleger at-Tabarī (839–923) weiß es genau:

  • Sie sind bei ihrem Herrn, sie werden ernährt mit den Früchten aus dem Paradies und sie riechen dessen Brise, aber sie sind nicht darin. Ihr Privileg in dem Zwischenzustand (barzakh) ist, dass sie ernährt werden mit Paradiesnahrung, die vor der Auferstehung niemand außer ihnen zu essen bekommt.

At-Tabarīs Auffassung wird durch den sogenannte „Vogelhadith“ gestützt. Dieser ist in zahlreichen Fassungen mit und ohne anerkannten Überlieferungskette überliefert worden. Eine kurze Fassung lautet:

  • Die Seelen der Märtyrer befinden sich in der Gestalt weißer Vögel, die sich von den Paradiesfrüchten ernähren.11

Und eine längere Fassung, die wahrscheinlich älter ist:

  • Der Prophet hat gesagt: „Als eure Brüder in Uhud gefallen waren, tat Gott ihre Seelen in das Innere grüner Vögel, die aus den Flüssen des Paradieses trinken, von seinen Früchten essen und nisten in goldenen Lampen im Schatten von Gottes Thron. Als sie den Wohlgeruch ihres Essens und ihrer Getränke rochen und die schöne Stätte ihrer Mittagsruhe gewahr wurden, sagten sie: ‘Ach, wenn doch unsere Brüder wüssten, was Gott uns getan hat, so dass sie den Dschihad nicht aufgeben und nicht vor dem Kampf zurückschrecken.‘ Dann sagte Gott: „Ich werde ihnen von euch berichten.“ Darauf offenbarte Er: „Meine nicht, dass diejenigen, die für Gottes Sache gestorben sind, tot sind“ … (folgt der Rest des Verses).12

Nach diesem Text suchen die Märtyrer in diesen Vögeln oder durch sie Nahrung im Paradies, wo sie sogar Siesta halten, aber sie wohnen dort nicht. Ihr Aufenthaltsort ist sehr nahe bei Gott; vielleicht ist es dort sogar besser als das Paradies. Huris gibt es an dem Ort bestimmt nicht, aber in ihrem Zustand hätten sie wohl kaum Bedürfnis danach.

Wie wird es übrigens den Märtyrerinnen vergehen? Die Tschetschenische Terroristin, die 2002 im dem Moskauer Theater von der russischen Polizei getötet wurde, wird vielleicht da oben mit ihrem Gatten vereint, der ja auch getötet wurde. Aber unverheiratete palästinensische Mädchen, die sich und einige Mitmenschen „für Gottes Sache“ in die Luft jagen, worauf können die sich freuen? In einem mehrfach preisgekrönten Dokumentarfilm von Dan Setton und Helmar Büchel: In Gottes Namen: Die Rekruten des heiligen Krieges, wird kleinen pakistanischen Mädchen in der Schule erzählt, dass Märtyrerinnen ins Paradies kommen. Dazu wird jedoch nicht gesagt, wann das sein wird, und ebenso wenig, dass sie dorthin als normale Gläubige auch kommen würden. Eine ältere Frau im Film erwartet etwas ganz Konkretes: sie glaubt, dass die zweiundsiebzig Huris ihr im Haushalt helfen werden. Die Hadithe des Propheten haben weibliche Märtyrer einfach nicht vorgesehen. Auf dem Schlachtfeld sollen die Frauen Wasser reichen und die Verletzten versorgen. Von der Kriegsbeute bekommen sie auch nichts; bestenfalls eine kleine Aufmerksamkeit, wie die Sklaven auch.13

Der Lohn der Märtyrer ist also in den maßgebenden Texten des Islam nicht eindeutig festgelegt, und der der Märtyrerinnen noch weniger. Frauen halten sich vielleicht am besten an dem „Vogelhadith“, die ihnen wenigstens Rechtsgleichheit von Mann und Frau bietet.

ANMERKUNGEN
1. Maher Jarrar, „The martyrdom of passionate lovers. Holy war as a sacred wedding,“ in Angelika Neuwirth et al. (hrsg.), Myths, historical archetypes and symbolic figures in Arabic literature. Towards a new hermeneutic approach, Beirut 1999, 87–107.
2. ‘Abdallāh ibn al-Mubārak, Kitāb al-Djihād, Tunis 1972@, Dschidda o.J. und online.
3. K. 3:169; auch 2:154.
4. In: Das Leben Muhammed’s nach Muhammad Ibn Ishâk, bearbeitet von Abd el-Malik Ibn Hischâm, hg. Ferdinand Wüstenfeld, Göttingen 1858-60, S. 903. In der Übersetzung von Alfred Guillaume, The Life of Muḥammad, Oxford 1955, sind die Seitenzahlen dieser Ausgabe am Rande gedruckt.
5. Vgl. Koran 47:6, … in den Garten, den Er ihnen zu erkennen gegeben hat. Siehe auch die Paradiesbeschreibung hier.
6. Der jüngste Tag.
7. At-Tirmidhī (825–892), Fadāʾil al-djihād 25; vgl. Ahmad ibn Hanbal (780–855), Musnad iv, 131; Ibn Mādja (824–887), Djihād 16/2799.
8. ‘Abd ar-Razzāq as-San‘ānī, Musannaf, Beirut 1972, 19832, no. 9561 (‘Abd ar-Razzāq lebte von 744– 827; seine Traditionssamlung ist lange unbeachtet geblieben); Ahmad ibn Hanbal, Musnad ii, 297, 427; Ibn Mādja (824–887), Djihād 16/2798.
9. Ibn Ishāq, o. c. 605; bei Ahmad ibn Hanbal, Musnad i, 266 ist dies ein Hadith des Propheten.
10 At-Tabarī, Tafsīr zu Koran 2:154.
11. ‘Abd ar-Razzāq as-Sanʿānī, Musannaf no. 9553.
12. Ibn Ishāq, o. c. 604–5; Muqātil ibn Sulaimān (gest. 767), Tafsīr, Kairo 1979, i, 314; at-Tabarī, Tafsīr zu Koran 3:169; Abū Dāwūd, Djihād 25.
13. Muslim, al-Djihād was-siyar, 134–142.

Diakritische Zeichen: Ibn Isḥāq, Saʿd ibn Muʿāḏ, aṭ-Ṭabarī, barzaḫ, Uḥud, Ǧihād, at-Tirmiḏī, Faḍāʾil al-ǧihād, Aḥmad ibn Ḥanbal, Ibn Māǧa, aṣ-Ṣanʿānī, Muṣannaf, aṭ-Tabarī

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