Eine Ameise auf der Seidenstraße

Während ich an einem arabischen Text von Djibrīl ibn Nūḥ al-Anbārī (9. Jahrhundert) arbeitete, wurde ich in einem Fragment nicht nur in die griechisch-römische Antike hineingezogen, sondern auch in die chinesische! Das einschlägige Fragment war eine Beschreibung des Laufs der Fixsterne und Planeten: 

  • Denke mal an die Sterne und den Unterschied in ihren Umlaufbahnen. Einige verlassen ihren Platz am Firmament nicht und bewegen sich nur als Gruppe, andere bewegen sich durch den ganzen Tierkreis und haben ihre eigenen Kreisbahnen. So hat jeder Stern der letzteren Art zwei verschiedene Umlaufbahnen: eine allgemeine zusammen mit dem Himmelsgewölbe nach Westen und die andere eine Eigenbewegung nach Osten. Die Alten haben einen so losen Stern mit einer Ameise verglichen, die auf einem Mühlstein krabbelt. Der Mühlstein beschreibt einen Kreis nach rechts und die Ameise bewegt sich nach links, so dass die Ameise in dieser Situation zwei verschiedene Bewegungen ausführt: eine unabhängige, geradeaus und die andere unfreiwillig, zusammen mit dem Mühlstein, der sie nach hinten zwingt.1

Wer sind diese „Alten“? Ich fing an, in antiken griechischen Texten zu stöbern und fand etwas über den Himmel als Mühlstein oder Rad. Auch zur entgegengesetzten Bewegung der Planeten war einiges zu finden. Aber woher kam die Ameise? Für einen Nicht-Altphilologe ist es oft schwierig, den Weg in den altgriechischen Texten zu finden. Deshalb freute es mich, dass Dr. Stefan Hagel aus Wien mich auf einige griechische Texte aufmerksam machte, in denen die Ameise vorkommt und von denen ein Fragment von Kleomedes wohl das wichtigste ist. Über ihn ist wenig bekannt, aber er zitiert viel von Posidonius, der von ± 135–51 v. Chr. lebte und auch als Hersteller einer Planetenmaschine bekannt war. Der Mechanismus von Antikythera,2 ein astronomischer Rechenmaschine, die u.a. die Position von Sonne, Mond, Fixsternen und Planeten berechnen konnte, datiert ebenfalls aus dieser Zeit. In Kleomedes‘ Caelestia (Über die Kreisbewegungen von Himmelskörpern) steht Folgendes:

  • Der Himmel, der sich oberhalb der Luft und der Erde herumdreht und diese seine dem Wohl und der Erhaltung der ganzen Welt angepaßte Bewegung vollzieht, muß notwendigerweise bei dieser Bewegung auch alle Gestirne, die er einschließt, mitführen. Von diesen vollführen nun einige die einfachste Bewegung, indem sie lediglich von der Weltkugel mit herumgedreht werden und immer die gleiche Stellung am Himmel einnehmen. Andere Sterne aber werden zwar auch mit dem Himmelsgewölbe herumgeführt, weil sie an ihm haften, sie haben aber außerdem auch noch eine Eigenbewegung, kraft deren sie ihre Stellung am Himmel verändern. Diese ihre Eigenbewegung ist langsamer als die Bewegung des Himmelsgewölbes. Sie ist auch der Bewegung des Himmelsgewölbes entgegengesetzt, nämlich von Westen nach Osten gerichtet.
    Jene Sterne heißen Fixsterne, diese Wandelsterne, da sie an anderen und anderen Stellen des Himmels gesehen werden. Die Fixsterne können wir vergleichen mit den Reisenden auf einem Schiff, welche währen der Fahrt auf ihren Plätzen bleiben, die Wandelsterne aber können wir mit Menschen vergleichen, die auf dem Schiff während der Fahrt vom Vorderdeck zum Hinterdeck gehen, während diese Bewegung langsamer ist als die Bewegung des Schiffes. Wir könnten sie auch mit Ameisen vergleichen, die auf einer@ sich herumdrehenden Töpferscheibe sich in einem der Drehung des Rades entgegengesetzten Sinne bewegen.

Mühlstein oder Töpferscheibe? Sie kommen beide vor. In der antiken griechischen Philosophie wird der Kosmos manchmal mit einem sich drehenden Mühlstein (Anaximenes) und manchmal mit einem Rad, τροχός, verglichen, das auch eine Töpferscheibe sein kann (Anaximander). Dies wird auch bei Theodoretus von Cyrrhus (± 393–458) erwähnt.4

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In der Zwischenzeit hatte ich auch Google für meine Suche verwendet, und dort erschien ein ähnlicher Text, der sogar die Ameise enthält. Er wurde verfasst von Luo Xia Hóng (ca. 130–70 v. Chr.):

  • Sowohl Sonne als Mond bewegen sich nach rechts und zur gleicher Zeit müssen sie den Himmeln folgen, die nach links drehen. Obwohl sich sowohl die Sonne als auch der Mond in Wirklichkeit nach Osten bewegen, werden sie [durch die Drehung der Himmel] mitgeschleppt, so dass sie im Westen unterzugehen scheinen. Dies ist analog zu einer Ameise, die auf einem Mühlstein krabbelt. Während sich der Mühlstein nach links [im Uhrzeigersinn] dreht, versucht die Ameise, nach rechts [im Gegenuhrzeigersinn] zu bewegen. Aber die Drehung des Mühlsteins ist viel schneller als die Bewegung der Ameise. Wir sehen dann, dass die Ameise gezwungen wird, der Bewegung des Mühlsteins zu folgen und sich anscheinend nach links [im Uhrzeigersinn] bewegt. 5

Obwohl es im chinesischen Text nicht um Planeten geht, ist die Ähnlichkeit mit dem griechischen Text viel zu groß, um zufällig zu sein. Das Rad und die Flöte dürften an mehreren Orten in der alten Welt unabhängig von einander erfunden worden sein, aber bei einem so spezifischen Text ist das nicht denkbar: Der kann nur überliefert worden sein. Es muss also mehr als nur Handelskontakte zwischen der griechisch-römischen Welt und dem alten China gegeben haben. Auch dazu konnte Dr. Hagel etwas sagen, aber Patrick Huang aus London hat hier ebenfalls geholfen. Sie erwähnten den intellektuellen Austausch zwischen dem Hof ​​des chinesischen Kaisers Hàn Wǔdì (156–87 v. Chr.) und dem hellenistischen Griechisch-Baktrischem Reich zur Zeit des oben genannten Astronomen Luo Xia Hóng. Zur gleichen Zeit war der Handelsverkehr auf der Seidenstraße gut angelaufen, nach Erkundungsreisen und zwei Militärexpeditionen von chinesischer Seite, und es wurde nicht nur Seide transportiert. Zumindest nach Persien und Indien wurde auch chinesische Wissenschaft exportiert, das war schon früher bekannt.

Natürlich gab es nicht nur die drei hier zitierten Texte. Es muss alle möglichen Bearbeitungen und Zwischenversionen gegeben haben. Aber diese entgegengesetzten Bewegungen, eine erzwungene und eine „freiwillige“, sowie das kleine Detail über die Ameise, kommen immer wieder vor.

Wer war der erste mit dieser Ameise? Hat sich das Tierchen von West nach Ost oder umgekehrt bewegt? Das ist noch nicht klar.

ANMERKUNGEN
1. Djibril ibn Nūḥ, Al-Iʿtibār:

فكِّر في النجوم واختلاف سيرها. ففرقة منها لا تريم مراكزها من الفلك ولا تسير الاّ مجتمعة، وفرقة مطلقة تتنقل في البروج وتفترق في مسيرها. فكل واحد منها يسير مسيرين مختلفين: أحدهما عام مع الفلك نحو المغرب والآخر خاص لنفسه نحو المشرق. وقد شبه الأولون هذه المطلقة بنملة تدب على رحى. فالرحى تدور ذات اليمين والنملة تدور ذات اليسار، فان النملة على تلك الحال تتحرّك حركتين مختلفتين: احداهما بنفسها متوجّهة أمامها والأخرى مستكرهة مع الرحى تجذبها الى خلفها.

2. Ich danke Hans Rottier, der mich auf diesen Mechanismus hingewiesen hat.
3. Sowohl Dr. Hagel als die Kleomedes-Übersetzer Bowen en Todd verweisen noch auf andere griechischen Texte in denen die Ameise vorkommt.
Die deutsche Übersetzung ist von → Czwalina. Sein „tönernes Rad“ für κεραμεικός τροχός habe ich durch „Töpferscheibe“ ersetzt. Präziser ist die englische Übersetzung von → Bowen und Todd:
II, 1: As the heavens revolve in a circle above the air and the Earth, and effect this motion as providential for the preservation and continuing stability of the whole cosmos, they also necessarily carry round all the heavenly bodies that they encompass. Of these, then, some have as their motion the simplest kind, since they are revolved by the heavens, and always occupy the same places in the heavens. But others move both with the motion that necessarily accompanies the heavens (they are carried round by them because they are encompassed), and with still another motion based on choice through which they occupy different parts of the heavens at different times. This second motion of theirs is slower than the motion of the cosmos, and they also seem to go in the opposite direction to the heavens, since they move from west to east. 
12: The first [set of bodies] is called “fixed,” but the second “planets,” since these appear at different times in different parts of the heavens. The fixed bodies might be likened to passengers who are borne along by a ship, yet remain in their assigned places in relation to the overall space. The planets, by contrast, are like passengers who move in an opposite direction to the ship (toward the stern from positions at the prow) with a relatively slower motion. They could also be likened to ants creeping on the basis of choice on a potter’s wheel in a motion opposite to [that of ] the wheel. 
Das griechische Original: Cleomedes, Caelestia 28.18-30.15/ii, 1-20:: Ὁ τοίνυν οὐρανός, κύκλῳ εἰλούμενος ὑπὲρ τὸν ἀέρα καὶ τὴν γῆν καὶ ταύτην τὴν κίνησιν προνοητικὴν οὖσαν ἐπὶ σωτηρίᾳ καὶ διαμονῇ τῶν ὅλων ποιούμενος, ἀναγκαίως καὶ πάντα τὰ ἐμπεριεχόμενα αὐτῷ τῶν ἄστρων περιάγει. τούτων τοίνυν τὰ μὲν ἁπλουστάτην ἔχει τὴν κίνησιν, ὑπὸ τοῦ κόσμου στρεφόμενα καὶ διὰ παντὸς τοὺς αὐτοὺς τόπους τοῦ οὐρανοῦ κατέχοντα· τὰ δὲ κινεῖται μὲν καὶ τὴν σὺν τῷ κόσμῳ κίνησιν ἀναγκαίως, περιαγόμενά γε ὑπ᾿ αὐτοῦ διὰ τὴν ἐμπεριοχήν, κινεῖται δὲ καὶ ἑτέραν προαιρετικήν, καθ᾿ ἣν [καὶ] ἄλλοτε ἄλλα μέρη τοῦ οὐρανοῦ καταλαμβάνει. αὕτη δὲ ἡ κίνησις αὐτῶν σχολαιοτέρα ἐστὶ τῆς τοῦ κόσμου κινήσεως· δοκεῖ δὲ καὶ τὴν ἐναντίαν κινεῖσθαι τῷ οὐρανῷ, ὡς ἀπὸ τῆς δύσεως ἐπὶ τὴν ἀνατολὴν φερόμενα. τὰ μὲν οὖν πρῶτα αὐτῶν καλεῖται ἀπλανῆ, ταῦτα δὲ πλανώμενα, ἐπειδὴ ἄλλοτε ἐν ἄλλοις μέρεσι τοῦ κόσμου φαντάζεται. τὰ μὲν οὖν ἀπλανῆ ἀπεικάσειεν ἄν τις ἐπιβάταις ἐπὶ νεὼς φερομένοις, ἐν τόποις οἰκείοις κατὰ χώραν μένουσι, τὰ δὲ πλανώμενα τὴν ἐναντίαν τῇ νηῒ φερομένοις ἀνθρώποις ὡς ἐπὶ τὴν πρύμναν ἀπὸ τῶν κατὰ τὴν πρώραν τόπων, ταύτης τῆς κινήσεως σχολαιοτέρας γινομένης. εἰκασθείη δ᾿ ἂν καὶ μύρμηξιν ἐπὶ κεραμεικοῦ τροχοῦ τὴν ἐναντίαν τῷ τροχῷ προαιρετικῶς ἕρπουσιν.
4. Diels/Kranz, Fragmente i, 93: καὶ οἱ μὲν μυλοειδῶς, οἱ δὲ τροχοῦ δίκην περιδινεισθαι, sc. τὸν κόσμον. Theodoretus, Graec. aff. cur. iv, 16 (Scholten)@.
5. Ho Peng Yoke, Li, Qi and Shu, 127: ‘Both the sun and the moon move towards the right, and at the same time they have to follow the heavens, which rotate towards the left. Hence, although in reality both the sun and the moon are moving eastwards, they are being dragged along by (the rotation of the heavens) so that they appear to set in the west. This is analogous to an ant crawling on a mill-stone, such that while the millstone is rotating towards the left (clockwise), the ant is attempting to move to the right (anti-clockwise). But the rotation of the mill-stone is much faster than the motion of the ant. It can be seen that the ant is compelled to follow the motion of the mill-stone, and that apparently it is moving towards the left (clockwise).’
Meine obige Übersetzung ist aus diesem Englisch. Patrick Huang sandte mir den chinesischen Text, den ich selbst nicht lesen kann. Einer von Ihnen vielleicht?

又《周髀》家云:「天圓如張蓋,地方如棋局。#天旁轉如推磨而左行,日月右行,隨天左轉,故日月實東行,而天牽之以西沒。譬之於蟻行磨石之上,磨左旋而蟻右去,磨疾而蟻遲,故不得不隨磨以左迴焉#。天形南高而北下,日出高,故見;日入下,故不見。天之居如倚蓋,故極在人北,是其證也。極在天之中,而今在人北,所以知天之形如倚蓋也。日朝出陽中,暮入陰中,陰氣暗冥,故沒不見也。夏時陽氣多,陰氣少,陽氣光明,與日同輝,故日出即見,無蔽之者,故夏日長也。冬天陰氣多,陽氣少,陰氣暗冥,掩日之光,雖出猶隱不見,故冬日短也。」

BIBLIOGRAPHIE
– Hermann Diels en Walther Kranz (Hrsg., Übers.), Fragmente der Vorsokratiker, Griechisch und Deutsch, 3 Bde., Zürich/Hildesheim 1951–52 (Nachdruck 1989-90).
– Djibril ibn Nūḥ al-Anbārī, Kitāb al-iʿtibār fī al-malakūt: ich arbeite an einer Ausgabe aus den Handschriften.
– Kleomedes: Cleomedes, Caelestia (Μετέωρα), die Teubner-Ausgabe von 1990 steht mir momentan nicht zur Verfügung.
– Kleomedes, Die Kreisbewegung der Gestirne, Übers. Arthur Czwalina, Leizpig 1927.
Cleomedes‘ Lectures on Astronomy. A Translation of The heavens. With an Introduction and Commentary by Alan C. Bowen and Robert B. Todd, Berkely/Los Angeles/London (University of California Press) 2004.
– Ho Peng Yoke, Li, Qi and Shu. An Introduction to Science and Civilization in China, Mineola NY (Dover) 1985.

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Geschlechter und Neigungen im vormodernen Nahen Osten –3

Orientierungen
Den Sammelbegriff „Homosexualität“, der für alle Formen von Sexualleben zwischen Personen desselben Geschlechts verwendet wird, gab es in der arabischen Welt nicht. Existiert er jetzt? In Wörterbüchern Europäisch-Arabisch wird er oft mit liwāṭ übersetzt, aber das ist etwas anderes. Offenbar muss es heutzutage mithlīya djinsīya heissen, aber das ist ein merkwürdiger Modernismus; wie viele Menschen verstehen was damit gemeint ist? Viel häufiger hört man den stark abwertenden Terminus shudhūdh oder shudhūdh djinsī, „Perversion,“ der seit ca. 1940 gängig ist.

Ein lūṭī ist ein Mann, der einen Jungen oder einen anderen Mann anal penetriert. Das kann er aus Lust tun oder um den anderen zu erniedrigen, zu bestrafen oder um ihm seine Dominanz zu zeigen—oder aus mehrfachen Impulsen. Die anale Penetration heißt liwāṭ.
Ein ma’būn ist ein Junge oder Mann, der sich anal penetrieren lässt, aus Lust, aus Kalkül, unter Zwang oder aus mehrfachen Impulsen. Das Verlangen penetriert zu werden heißt ubna. Liwāṭ ist eine Handlung, die man verrichten kann oder nicht; ubna ist ein Verlangen, das einem Menschen innewohnen kann und das man ausleben kann oder nicht. Die Handlung war dem islamischen Recht zufolge (sharī‘a) eine Straftat, die aber in der Praxis selten bestraft wurde. Das Verlangen zu haben war keine Straftat, aber Menschen, die ubna hatten, wurden schon oft verachtet, wenn sie ihre Neigung auslebten.
Inzwischen wird allmählich klar sein, warum der Begriff Homosexualität im Arabischen nicht vorkam. Während im Westen—oder wenigstens in der dominanten protestantischen Welt—die Orientierung auf dasselbe Geschlecht bestimmend war, waren im Nahen Osten die Penetration und das Aktiv- oder Passivsein das Wichtige, während Kosen und Schmusen, Knutschen, Herumtollen und andere Verrichtungen, die im Westen „sexuelle Handlungen“ genannt werden, außer Betracht blieben: Die sind ja weder liwāṭ noch ubna und kaum erwähnenswert. Was man nicht benennt, kann auch nicht tadelnswert sein.
Im heutigen Nahen Osten wird oft heftig gegen Homosexualität gewettert. Das ist ein Erbe westlicher ethischer und juristischer Auffassungen, aber auch eine Abneigung gegen das Importprodukt Homosexualität, das ja ein alles explizit machender Lifestyle aus dem Westen ist. Darum gab → el-Rouayheb seinem Buch den Titel: Before homosexuality, will sagen: vor deren Import. Dieselbe Leute, die dagegen wettern, können falls erwünscht ihre traditionellen Verhaltensweisen einfach fortsetzen—was ihnen dann aus dem Westen den Vorwurf der Heuchelei einbringt. Ich hab allerdings den Eindruck—mehr ist es nicht—, dass heutzutage unter arabischen jungen Männern doch weniger geknutscht und Händchen gehalten wird als während meines Studienjahrs in Kairo (1971–72). Wenn das stimmt, ist auch das eine Folge westlicher Einflüsse—die Aufklärung, Sie wissen schon, und das amerikanische Macho-Ideal: Wettbewerb und Kämpfen sind Pflicht, schmusen darf nicht sein. Schade für die Jungs, denn sie haben ohnehin so wenig. Mit Mädchen dürfen sie ja noch immer nichts.
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Im alten Nahen Osten gab es von alters her viel Pädophilie. Wo bei uns nur eine Minderheit der Männer daran interessiert ist, war man drüben fast einstimmig der Meinung, dass junge Jungen, kurz vor oder bereits in der Pubertät, sehr sexy sind und oft noch verführerischer als junge Frauen. Es gibt Unmengen von Gedichten, die die Schönheit eines solchen Jungen feiern, noch ohne Bartwuchs oder mit dem ersten Flaumhaar auf den Backen. Es gibt auch jede Menge Berichte und Selbstzeugnisse von durchaus ehrwürdigen Männern, die den Umgang mit solchen Jungen suchten und leidenschaftlich in sie verliebt waren. Sie zu penetrieren wurde entschieden abgelehnt, sowohl ethisch wie auch juristisch, aber sie voller Bewunderung anzuschauen, sie in Gedichten zu beschreiben und mit ihnen zu flirten war nach Auffassung der meisten Juristen erlaubt und das taten tatsächlich viele Männer. Natürlich gab es eine Grauzone und gesündigt wurde sicherlich auch, aber im Prinzip blieb diese Pädophilie keusch. Das erinnert an die Liebe für den Wein, die viele Dichter empfinden— unter ihnen z.B. Khomeini, der Führer der islamischen Revolution in Iran. Sie schrieben Bände voller Verse über Wein, Rausch und Betrunkenheit ohne in Wirklichkeit je einen Tropfen zu trinken.

In Afghanistan heißt Päderastie bacha bāzī. Erwachsene Männer, z.B. Milizenführer, nehmen sich noch immer junge Lustknaben, die sie auch als Prostituierte oder Tanzjungen einsetzen—wo man sonst lieber Tanzmädchen hätte. Eine jahrhundertealte Gewohnheit, die schwer auszurotten ist. Unter den Taliban stand darauf die Todesstrafe; aber was ist, wenn die Führungskräfte selbst mitmachen? Auch hierbei ist es sehr wahrscheinlich, dass das Phänomen durch die Modernisierung der Gesellschaft verschwinden wird. Früher kam es in ganz Mittelasien vor, aber im neunzehnten Jahrhundert würde es in den russisch besetzten Ländern bereits verboten und verschwand.
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Konnten erwachsene Männer einander auch lieben? Aber natürlich; man pflegte warme, innige Kontakte mit männlichen Freunden; auch weil ein Mann mit seiner Ehefrau nicht befreundet sein und bei ihr seine Emotionen nicht loswerden konnte. Hatten sie auch Sex miteinander? Meistens nicht, nehme ich mal an, aber wenn doch, wird es auch kein Problem gewesen sein.

Jetzt müsste ich natürlich etwas über lesbische Liebe in der alten Zeit schreiben, aber darüber weiß ich nichts und es gibt ganz wenig Literatur; deshalb schweige ich lieber noch. Demnächst erscheint eine Studie zu diesem Thema; mal abwarten, was die zu bieten hat.

Gehört zu: Geschlechter und Neigungen –1: Die Mädchen-Jungs des 8. Jahrhunderts. Die bache posh in Afghanistan
Geschlechter und Neigungen – 2a: Die Effeminierten im alten Medina
Geschlechter und Neigungen – 2b: Die Effeminierten im Hadith des Propheten
Geschlechter und Neigungen – 2c: Die khanīth, weibliche Männer in Oman
Geschlechter und Neigungen im vormodernen Nahen Osten – 3

BIBLIOGRAFIE
– G.H.A. Juynboll, ‘Siḥāḳ,’ in EI2. (Zur lesbischen Liebe).
– Khaled el-Rouayheb, Before Homosexuality in the Arab-Islamic World, Chicago 2005.
– Ewald Wagner, Abū Nuwās. Eine Studie zur arabischen Literatur der frühen ‘Abbāsidenzeit, Wiesbaden 1965.

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Geschlechter und Neigungen im vormodernen Nahen Osten – 1

Die Bugis auf Sulawesi kennen fünf Geschlechter und die Navajo-Indianer ebenfalls: männliche Männer, weibliche Männer, weibliche Frauen, männliche Frauen; bei den Navajo der Hermaphrodit, der Mann und Frau ist und bei den Bugis der bissu, eine Art Heiligmensch, der weder Mann noch Frau ist.
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Lawrence Durrell schrieb über Alexandrien in Justine: „There are more than five sexes, and only demotic Greek seems to distinguish between them.“ Das Letztere glaube ich nicht; das Arabische kann auch einiges, aber in der Tat, von alters her gab es im Nahen Osten erheblich mehr Geschlechter als im langweiligen Westen, der bis vor kurzem nur Männchen und Weibchen (an)erkannte und wo die Entdeckung anderer Möglichkeiten vor allem Mühsal mit sich bringt. Die Muslime nahmen das weniger schwer. Eine OP zur Geschlechtsänderung war in Casablanca oder Teheran früher möglich als bei uns.
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Neuerdings schießen auch bei uns die Geschlechter und Gender wie Pilze aus dem Boden. Wir haben jetzt LGBTQ… und noch mehr Buchstaben; von den letzten weiß ich nicht mal, wofür sie stehen. Ist es angenehm mit so einem Buchstabe etikettiert zu werden? Die indonesische Aktivistin Tiara Tiar Bahtiar schrieb ein Buch mit dem Titel Namaku bukan waria – panggil aku manusia, „Ich heiße nicht Transgender, nenne mich Mensch.“ Aber offensichtlich gibt es auch Menschen, die für sich auf so einem Buchstaben bestehen. Ohne Identität scheint heutzutage nichts zu gehen.
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Es gibt Geschlechter und Gender, aber auch sexuelle Orientierungen; überdies gibt es noch die Möglichkeit der Travestie. Insgesamt ist eine große Anzahl Spielkombinationen möglich.
Über die Geschlechter und Neigungen im vormodernen Nahen Osten kann ich viel weniger sagen als ich möchte, denn in den arabischen Quellen, die ich mir vorstellen kann (Poesie, Geschichtswerke) bin ich nicht weit vorgedrungen; sie sind unermesslich ausgedehnt und oft unerschlossen. Eine Sache kann schon im Voraus gesagt werden: man scherte sich früher nicht um Identität. Der modern-westliche Gedanke: „Wenn du etwas bist, bist du das für immer, es ist dein wahres Wesen,“ existierte im alten Nahen Osten nicht. Menschen konnten sich durchaus verändern—manchmal auf Zeit, manchmal für immer.

Pseudo-Jungen 
Die ghulāmīya oder radjulīya, Mädchen, die sich wie ein Junge kleiden und verhalten, wurden durch die Mutter des Kalifen al-Amīn (reg. 809–813) gefördert. Als al-Amīn in seiner Jugend wenig Interesse am weiblichen Geschlecht zeigte, wollte seine Mutter das stimulieren, indem sie solche Mädchen bei Hof einführte: kurzes Haar, kurze Tuniken, ein Gürtel um die Taille.
Was für Mädchen waren das? Die Mutter eines Prinzen konnte natürlich Sklavinnen befehlen, sich als Jungen zu verhalten, auch wenn sie von sich aus dazu nicht geneigt waren. Aber bei der Auswahl wird sie wohl darauf geachtet haben, welche Mädchen die Rolle überzeugend spielen konnten.1
Kurz darauf wurden die ghulāmiyāt auch in der Stadt beliebt, zum Beispiel als Bedienung in den Kneipen.
 Der Dichter Abū Nuwās bekam seinen Wein gerne „aus der Hand einer mit einer Scheide in der Kleidung eines mit einem Penis. Sie hat zwei Arten von Liebhabern: Päderasten und Hurer.“2 Er beschreibt die Mädchen auch, z.B. so: „Hier hast du Gestalten, weiblich im Benehmen, aber in der Kleidung der Männer, | mit bloßen Händen und Füßen, ohne Schmuck an den Ohren und um den Hals. | Sie sind schlank wie Zügel, Schwertgehänge und Gurte, |haben aber füllige Hintern in den Tuniken und Dolche an den Taillen, | ihre Locken sind skorpionartig gekrümmt und die Schnurrbärte sind aus Parfüm.“3 

Jenny → Nordberg hat ein interessantes Buch über Mädchen in Afghanistan geschrieben, die aus praktischen Gründen einige Jahre als Jungen auftreten. Sie behandelt unsere Zeit, aber die Gesellschaft in Afghanistan ist noch ziemlich vormodern. Solche Mädchen werden als Jungen gekleidet und behandelt und sie verhalten sich entsprechend: Sie klettern auf Bäume, spielen Fußball und schlagen sich.4 Meist sind es die Eltern, die auf die Idee kommen, eine Tochter zu einem Sohn umzugestalten; manchmal ist es ein Molla. Es ist nämlich für eine afghanische Familie eine große Schande, keinen Sohn zu haben. Überdies ist Mädchen fast nichts erlaubt, so dass eine Familie ohne Sohn nicht gut funktionieren kann. Dazu kommt noch ein magisches Motiv: Man glaubt gerne, dass, wenn man einmal so einen Jungen im Haus hat, das nächstgeborene Kind ein richtiger Sohn sein wird.
Die Mädchen finden es meistens in Ordnung. Als Jungen haben sie ja viel mehr Freiheit, sie können in die Schule gehen, sie laufen breitbeinig und mit frechem Blick auf der Straße, sie können Vater helfen im Laden, bei den Jungen und Männern sitzen und haben auch zu Hause eine privilegierte Position: Ihr Vater redet mit ihnen und nimmt sie ernst.
Solche Mädchen heißen dort bacha posh, bei uns tomboy, garçonne, erkek fatmafatāt mustardjila; im Deutschen gibt es wohl kein eindeutiges Wort—oder kennen Sie eins? Die Umgestaltung wird oft vollzogen, wenn das Mädchen drei oder vier Jahre alt ist; manchmal auch schon bei der Geburt. Im Idealfall werden diese Jungen lange vor der Pubertät wieder in Mädchen zurückverwandelt, so dass sie noch ausreichend Zeit haben, als weiblich geltende Tätigkeiten wie kochen, nähen, waschen, putzen und dergleichen zu erlernen. Nordberg hat ehemalige tomboys interviewt. Zurückblickend auf ihre Zeit als Junge denken diese darüber meist positiv: Es war ja eine einmalige Gelegenheit, mal außer Haus zu kommen und als Junge bekamen sie die Möglichkeit, die Welt kennen zu lernen und Selbstvertrauen aufzubauen. Schwierig war es aber für Mädchen, die noch bis in die Pubertät Junge blieben oder sogar den Übergang erst mit siebzehn machten. Das wurde manchmal richtig problematisch: Sie konnten weder kochen noch nähen, sie wussten nicht mal, wie sie sich schminken sollten und schafften es nicht, mit kleinen Schritten und niedergeschlagenem Blick zu gehen. Und vor allem: Sie hatten gar keine Lust, das freie Leben von Studium oder Arbeit aufzugeben um so ein unterwürfiges Geschöpf zu werden, von dem nur die Gebärmutter geschätzt wird—wenn diese Jungen gebärt, versteht sich. Auch solche Frauen hat Nordberg interviewt. Eine war dabei, die selbst schon längst Mutter war, aber die praktischen Aspekte des Frau-Seins noch immer nicht ganz beherrschte. Warum nicht? Weil sie sich als Mann fühlte und einer war! Sie hatte sich so in die Männerrolle eingelebt, dass sie wirklich einer geworden war—zwar ohne Penis, aber mit eingefallenen Brüsten und oft ausbleibender Menstruation.
Nordberg erzählt von einem afghanischen Mädchen, das mit fünfzehn noch bacha posh war und überhaupt keine Lust hatte, sich die Frauenrolle zu übernehmen. Einmal machte sie eine Runde auf einem gemieteten Motorrad, als ein Junge ihr zurief: „Wir wissen schon, dass du ein Mädchen bist!“ Aber das war nicht schlimm: Er war ein Freund, der sie auch schützte, wenn andere Jungen ihr an die Wäsche gehen wollten. Dass manche Jungen eigentlich Mädchen waren, wusste man wohl doch, aber das wurde mehr oder weniger vertuscht und toleriert.

Von zwei Extremfällen berichtet Nordberg noch: eine bacha posh, die Mann blieb, in eine street gang aufgenommen war und sich an Straßenkämpfen mit anderen Banden beteiligte; und eine andere, die eine Militärausbildung absolviert hatte. Sie war von den Amerikanern zum Elitesoldaten und Scharfschützen ausgebildet worden und arbeitete danach im aktiven Dienst bei der Polizei. In ihrem Pass stand ein weiblicher Name, aber sie verhielt sich wie ein Mann und stand ihren männlichen Kollegen in Sachen Körperbau, Muskulatur und Machoverhalten in nichts nach. Solche Frauen hofften, dass sie bald zu alt zum Heiraten sein würden; nicht mit ihnen!
Unsere tomboys sind das aus persönlicher Neigung; in Afghanistan werden sie meist von außen in die Rolle gezwungen, aber sie kultivieren die Neigung, indem sie mit tiefer Stimme reden, die anderen Jungen nachahmen und lernen sich selbstverständlich unter ihnen zu bewegen. Das soziale Geschlecht ist auch ein Geschlecht, das wird bei uns manchmal vergessen. Gefangen im falschen Körper? Das bedeutet im frauenverachtenden Afghanistan doch etwas anderes als bei uns. Eigentlich stecken dort alle Mädchen in einem falschen, denn unfreien Körper. Mann sein ist das Ideal. Zu denken gibt, dass bei diesen Frauen der Körper dem Geist gefolgt war und sich auch wirklich in einen männlichen Körper verwandelt hatte—natürlich nicht ganz, aber ziemlich weitgehend
. Und das ohne Operation oder Hormonspritzen, denn die bekamen sie nicht. Wenn das in Afghanistan möglich ist, geht das auch bei uns. Legen sich nicht viele Menschen auf eine Identität fest, während sie auch, vorübergehend oder für immer, eine andere haben könnten? Und wozu braucht man überhaupt eine Identität?
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Auch in Albanien leben noch ältere Männer, die als Mädchen geboren und aus denselben Gründen wie in Afghanistan von ihren Eltern zu Jungen ernannt wurden: die „geschworenen Jungfrauen“ (burrnesha). Sie sind ihr ganzes Leben Mann geblieben und mussten schwören, sich jeder sexuellen Tätigkeit zu enthalten.
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Wer meinen sollte, dass dies alles mit dem Islam zu tun hat, liegt falsch. Sowohl die normativen Quellentexte, als auch die Scharia-Gelehrten lehnen es ab, dass jemand sich als zu einem anderen als seinem biologischen Geschlecht gehörig verhält. Die Umwandlung ergibt sich in Gesellschaften, die eine starke Geschlechtertrennung praktizieren, und die existierten schon lange vor dem Islam, auch außerhalb des Nahen Ostens. Bei näherer Betrachtung gab es recht viele Länder, in denen Frauen den Schritt zur Geschlechtsumwandlung machen mussten oder wollten um ihre Chancen zu verbessern; Westeuropa bis ins 19. Jahrhundert nicht ausgenommen. In Albanien nahm seit dem Einzug der Moderne die Anzahl burrneshas ab. Die Notlösung, die der Geschlechtswechsel gewesen war, war dort nicht länger erforderlich.

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Männliche Frauen
Frauen, die einfach keine Lust hatten auf die traditionelle unterwürfige Frauenrolle, gab es natürlich auch:

Hind bint Nu‘mān, „die erste arabische Lesbierin“ (6. Jht.), fand Gefallen am Erniedrigen ihres jeweiligen Ehegatten.

Hind bint ‘Utba (7. Jht.), „die Leberesserin“, begnügte sich der Überlieferung zufolge nicht mit der traditionellen Frauenrolle auf dem Schlachtfeld, die darin bestand, die Männer zu ermutigen, Wasser heranzutragen und Verletzte zu versorgen. Sie schnitt den Körper des besiegten Helden Hamza auf und aß seine Leber roh.

2015 besprach ich hier Remke → Kruk, The Warrior Women of Islam. Dieses Buch handelt von alten arabischen Volkserzählungen über butch Frauen, die auf dem Schlachtfeld kämpften und sogar eigene Armeen anführten. Aber die Erzählungen sind Fiktion, Produkte männlicher Fantasie. Sie bezwecken ein männliches Publikum zu unterhalten und sind deshalb ungeeignet als Quelle für die Erforschung der gelebten Wirklichkeit. In ihrem ersten Kapitel berichtet die Autorin aber über ihre Suche nach Kämpferinnen, die wirklich gelebt haben. In den ersten Jahrhunderten des Islams, so scheint es, waren einige, aber nicht sehr viele Frauen wirklich militärisch aktiv; die betreffenden Berichte sind sehr knapp. Des Weiteren gibt es einige Erzählungen, die halblegendär sind oder auf den altgriechischen Mythos der Amazonen zurückzuführen sind. Im alten Nahen Osten real existiert hat dagegen Königin Zenobia (240-274), sie war wohl meist kriegerisch gesinnt und es gelang ihr, aus der syrischen Oase Palmyra heraus ein großes Reich aufzubauen, das einige Jahre eine Bedrohung für die Römer darstellte. Von ihr wird auch erzählt, dass sie als Mädchen ein tomboy war und mädchenhafte Tätigkeiten mied, sich stattdessen aber Ringkämpfe mit den Jungen lieferte und mit Pfeil und Bogen Jagd auf wilde Tiere machte.5

In der Hadith-Literatur wird eine gewisse Umm Ḥarām bint Milḥān erwähnt, die darauf bestand, an der Militärexpedition gegen Zypern im Jahr 649 teilzunehmen. Von ihren Kriegshandlungen ist nichts bekannt; ihre Militärlaufbahn endete unglücklich als sie nach wohlbehaltener Heimkehr von ihrem Reittier fiel und starb.6

In Ägypten thematisieren viele Witze und Cartoons mickerige Männchen, die ganz unter dem Pantoffel ihrer übermächtigen Gattin stehen. Das ist nur Phantasie; allerdings gibt es eine Minderheit von Paaren, bei denen das durchaus der Fall ist. Niemand wird z. B. die Dame vorne auf dem Foto für schüchtern oder unterwürfig halten. Ist der Mann im Hintergrund etwa ihr Ehemann? Wir wissen es nicht.
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In Ägypten waren (sind?) Frauen manchmal als Bauarbeiter tätig. Ich habe sie 1971 bei der Knochenarbeit beobachtet: mit Körben voller Steinen auf Gerüste klettern gesehen usw. Vielleicht hatten sie keinen Mann (mehr), der sich um das Familieneinkommen kümmerte, und mussten sie als Ernährerin auftreten? Aber mussten sie denn gerade diese Arbeit machen oder wollten sie es selbst? Hätten sie keine Näh- oder Bügelarbeit verrichten oder einen Windelservice anbieten können? Ich weiß nicht, wie sich das verhielt.

„Meine Mutter war ein richtiger Kerl,“ schrieb al-Māzinī ca. 1930, „sie …@TEXT NOCH SUCHEN@

Umm Kulthūm (± 1904–1975), die berühmte ägyptische Sängerin, die mit ihrer eindrucksvollen Stimme jahrzehntelang die arabische Welt in die Knie zwang, fiel schon früh durch ihr Gesangstalent auf. Ihr Vater hatte neben seiner Arbeit als Dorfimam eine Musikgruppe, mit der sie auftreten durfte, unter der Bedingung, dass sie sich als Junge kleidete und verhielt. Das ging lange Zeit gut, aber als sie immer sichtbarer Frau wurde und immer mehr Menschen „es“ wussten, befahl ihr Vater ihr, mit dem Singen aufzuhören und zu heiraten. Daraus wurde aber nichts und nach einer Pause sang sie weiter, in Kairo, ganz als Frau. In ihren späteren Jahren war ihre Stimme sehr tief, aber in ihrer Jugend noch nicht. Jede Gesangstimme wird im Alter tiefer, aber bei ihr war das extrem. War es ihr Wunsch, eine tiefe Altistin zu sein, war es etwas Männliches, das herauswollte? Sie hielt sich von der unter Künstlern üblichen Liederlichkeit fern. Dass sie keine Beziehungen zu Männern hatte,  wird oft ihrer frommen Gesinnung und ihrem noblen Charakter zugeschrieben; es kann aber auch sein, dass sie sich nicht zu ihnen hingezogen fühlte. Zumindest will ein Gerücht, dass sie beim Abfassen eines Vertrages für einen Auftritt außer Landes auf der Bereitstellung zweier junger Mädchen bestand.

Dies waren nur so ein Paar Eindrücke, die meisten aus Lektüre. Ich habe keinen Überblick über diese Phänomene in der ganzen arabischen oder islamischen Welt, bin auch kein Sozialwissenschaftler, wollte das aber doch mal aufschreiben, weil sonst jemand denken könnte, im Ausland müsse alles unbedingt genauso eingerichtet sein wie bei uns.

Sicherheitshalber sage ich es noch mal: Burschikose Mädchen und mannhafte Frauen müssen keineswegs lesbisch sein.

Wird fortgesetzt:
Geschlechter und Neigungen – 2a: Die Effeminierten im alten Medina
Geschlechter und Neigungen – 2b: Die Effeminierten im Hadith des Propheten
Geschlechter und Neigungen – 2c: Die khanīth, weibliche Männer in Oman. Ṣafwān ibn al-Mu‘attall
Geschlechter und Neigungen im vormodernen Nahen Osten – 3 Sexuelle Orientierungen im vormodernen Nahen Osten

ANMERKUNGEN
1. Viel Erfolg hatte sie übrigens nicht mit ihrem Versuch. Als al-Amīn einmal Kalif war, dichtete ein anonymer Spottdichter über ihn und seinen Minister Faḍl: Es ist ein Wunder: Der Kalif | ist als Päderast aktiv, | der andere wird befriedigt | (was uns noch mehr verwundert) passiv!
2. Abū Nuwās, Dīwān I,@@; Übers. Wagner, Abū Nuwās 178من كَفّ ذات حِرّ في زيّ ذي ذكر لها محبّان لوطي وزنّاءُ
3. Abū Nuwās, Dīwān I, 174–5; Übers. Wagner, Abū Nuwās 177:
صوَر إليك مؤنّثاتُ الدلّ في زيّ الذكورِ
عُطُلُ الشَّوي ومواضعِ الأزرار منهل والنحورِ
أُرهِقن إرهاف الأعنّة والحمائل والسيورِ
وموفَّراتٍ في القراطق والخناجرُ في الخصورِ
أصداغُهنّ معقربات والشوارب من عبيرِ
4. Ich danke Prof. Remke Kruk, Leiden, die mich auf dieses Buch hingewiesen hat.
5. Kruk, Warrior Women, 17, 45. Eine wichtige Quelle ist Trebellius Pollio in der Historia Augusta, ein Autor, der bekannt ist für seine wenig wahrheitsgetreuen Beschreibungen und der vielleicht selbst nicht mal existiert hat. Aber um ein Reich aufzubauen und sich gegen römische Legionen durchzusetzen muss Zenobia doch wirklich einiges auf dem Kasten gehabt haben.
6. Buḫārī, Ǧihād 8, var. Ǧihād 3, 17: […] von Anas ibn Mālik, von seiner Tante Umm Ḥarām bint Milḥān: Der Prophet schlief eines Tages in meiner Nähe und als er aufwachte, lachte er. Ich fragte ihn, warum er lache. Er sagte: „[Im Traum] sind mir Menschen aus meiner Gemeinde gezeigt worden, während sie das grüne Meer befuhren wie Könige auf Thronen.“ Sie sagte: „Bete zu Gott, dass er mich eine von ihnen macht!“ Darauf schlief der Prophet wieder ein; dasselbe geschah noch einmal. Dann sagte er: „Du bist eine der Ersten.“ Sie begleitete ihren Gatten ‘Ubāda ibn al-Ṣāmit auf dem Kriegszug, als die Muslime mit Mu‘āwiya zum ersten Mal das Meer befuhren. Als sie vom Kriegszug zurückkehrten und wieder in Syrien landeten, wurde ihr ein Reittier gebracht, aber dieses warf sie ab und daran starb sie.

حَدَّثَنَا عَبْدُ اللَّهِ بْنُ يُوسُفَ قَالَ حَدَّثَنِي اللَّيْثُ حَدَّثَنَا يَحْيَى عَنْ مُحَمَّدِ بْنِ يَحْيَى بْنِ حَبَّانَ عَنْ أَنَسِ بْنِ مَالِكٍ عَنْ خَالَتِهِ أُمِّ حَرَامٍ بِنْتِ مِلْحَانَ قَالَتْ نَامَ النَّبِيُّ ص يَوْمًا قَرِيبًا مِنِّي ثُمَّ اسْتَيْقَظَ يَتَبَسَّمُ فَقُلْتُ مَا أَضْحَكَكَ قَالَ أُنَاسٌ مِنْ أُمَّتِي عُرِضُوا عَلَيَّ يَرْكَبُونَ هَذَا الْبَحْرَ الْأَخْضَرَ كَالْمُلُوكِ عَلَى الْأَسِرَّةِ قَالَتْ فَادْعُ اللَّهَ أَنْ يَجْعَلَنِي مِنْهُمْ فَدَعَا لَهَا ثُمَّ نَامَ الثَّانِيَةَ فَفَعَلَ مِثْلَهَا فَقَالَتْ مِثْلَ قَوْلِهَا فَأَجَابَهَا مِثْلَهَا فَقَالَتْ ادْعُ اللَّهَ أَنْ يَجْعَلَنِي مِنْهُمْ فَقَالَ أَنْتِ مِنْ الْأَوَّلِينَ فَخَرَجَتْ مَعَ زَوْجِهَا عُبَادَةَ بْنِ الصَّامِتِ غَازِيًا أَوَّلَ مَا رَكِبَ الْمُسْلِمُونَ الْبَحْرَ مَعَ مُعَاوِيَةَ فَلَمَّا انْصَرَفُوا مِنْ غَزْوِهِمْ قَافِلِينَ فَنَزَلُوا الشَّأْمَ فَقُرِّبَتْ إِلَيْهَا دَابَّةٌ لِتَرْكَبَهَا فَصَرَعَتْهَا فَمَاتَتْ.

BIBLIOGRAPHIE
– Abū Nuwās: Der Dīwān des Abū Nuwās, Teil I, Hg. Ewald Wagner, Wiesbaden 1958.
– Remke Kruk, The Warrior Women of Islam. Female empowerment in Arabic Popular Literature, Londen 2014.
– Adam Mez, Die Renaissance des Islâms, Heidelberg 1922.
– Jenny Nordberg, Afghanistans verborgene Töchter. Wenn Mädchen als Söhne aufwachsen, übers. von Gerlinde Schermer-Rauwolf, und Robert A. Weiß, Hamburg 2015; urspr. erschienen auf Englisch: The Underground Girls of Kabul, The Hidden Lives of Afghan Girls Disguised as Boys, 2014.
– Ewald Wagner, Abū Nuwās. Eine Studie zur arabischen Literatur der frühen ‘Abbāsidenzeit, Wiesbaden 1965.

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