Das islamische Bilderverbot

Sie sind wieder da: geköpfte Schaufensterpuppen in afghanischen Bekleidungsgeschäften (Abb.1). Aber nicht nur Frauenbilder schänden die an die Macht zurückgekehrten Taliban. Auch bei Männerbildern werden die Köpfe entfernt oder geschwärzt, etwa auf Werbeplakaten für Bodybuilding-Studios. Körperlichkeit an sich ist offenbar kein Problem, denn bis auf einen winzigen Slip sind solche Männer nackt – nur die Köpfe fehlen und somit das Leben.

Die Taliban wollen damit die strikte Einhaltung des vermeintlichen islamischen Bilderverbots demonstrieren.. Tatsächlich gab es in islamischen Umgebungen von alters her Vorbehalte gegen die Darstellung beseelter Lebewesen, insbesondere von Menschen. In sunnitischen Moscheen gelten solche Darstellungen bis heute als unerwünscht, und Porträts des Propheten Mohammed und seiner Gefährten sind auch außerhalb der Moschee problematisch, aber nicht ganz unmöglich. Die generelle Abneigung gegen alles Bildliche, sofern sie jemals existiert hat, ist nach der Erfindung der Fotografie jedoch fast widerstandslos abgeschafft worden; sogar die frommsten Prediger lassen sich ablichten (Abb. 2).  

Im Koran gibt es auch kein solches allgemeines Verbot. Zwar wettert die Schrift gegen Götzenbilder (tamāthīl), aber das ist noch kein generelles Bilderverbot. Gab es im 7. Jahrhundert überhaupt noch Götzenbilder? → Hawting ist der Meinung, dass es mit dem Heidentum in 5. Jahrhundert wohl getan war und → Crone hat gezeigt, dass Götzenbilder im Koran nur in historischen Kontexten vorkommen, zum Beispiel in den Erzählungen über Ibrāhīms Kampf gegen die Götzen.

Hadithe sind diejenigen Texte, in denen Bilder (ṣūra/ṣuwar/taṣāwīr, auch tamāthīl) verpönt werden, freilich oft nur bedingt. Eine Übersicht aller Texte zum Thema in vielen Hadith-Sammlungen bietet → Van Reenen, The ‚Bilderverbot‘. Er hat nicht weniger als 325 Hadithe zum Thema gesammelt und beispielhaft klassifiziert und analysiert. Darunter sind aber viele Dubletten und Varianten – letztlich handelt es sich um wenige Basistexte. Nachfolgend einige Beispiele, die ich jeweils in der kürzesten Fassung zitiere:

  • Der Prophet hat gesagt: Engel betreten kein Haus, in dem sich ein Hund oder eine bildliche Darstellung befindet.1

Die Erwähnung des Hundes macht deutlich, um was es hier geht: So ein Haus ist unrein, ungeeignet für das Gebet..

  • Aischa erzählte: Eines Tages, als ich einen Vorhang mit Darstellungen von Lebewesen (tamāthīl) vor eine Nische aufgehängt hatte, kehrte der Prophet von einer Reise zurück. Als er ihn sah, zerriss er ihn und sagte: „Diejenigen, die am Tag des Gerichts die schwerste Strafe bekommen, sind diejenigen die Gottes Schöpfung nachahmen!“ Wir machten daraus ein (oder zwei) Kissen.2

So musste das Gebet nicht vor solchen Abbildungen verrichtet werden und man konnte seine Verachtung dafür ausdrücken indem man sich darauf setzte.

  • Ich habe Mohammed sagen hören: Wer in dieser Welt ein Bild (ṣūra) macht, den wird am Jüngsten Tag beauftragt, ihm Leben einzuhauchen, und das wird er nicht können.3

Gemäß dem Koranver 59:24 ist nur Gott muṣawwir, also „derjenige, der ein Bild (ṣura) macht“. Auch hier ist der Punkt, dass der Mensch sich nicht anmaßen sollte, Gottes Schöpferkraft nachzueifern.
In einigen Hadithen wird auch berichte, dass der Prophet Bilder, die sich auf und in der Ka‘ba befanden, vernichten ließ. Manchen Texten zufolge durfte jedoch eine Madonna mit Kind verschont bleiben.4

Unter den ersten Kalifen gab es das Bilderverbot offensichtlich noch nicht. Münzen lügen nicht: Im westlichen Teil des arabischen Reiches wurden weiterhin römische Münzen mit Kaiserbild verwendet, manchmal sogar mit drei Kaisern. In Persien gab es persische Münzen mit Kaiserbild und auf dem Revers einem Feueraltar mit zwei Priestern. Bei Nachprägungen wurden Kreuze entfernt und islamische Formeln hinzugefügt, aber die Kaiserbilder wurden nicht entfernt. Kalif ‘Abd al-Malik (reg. 685–705) ließ als erster muslimischer Herrscher sich selbst auf seinen Münzen darstellen, mit Schwert und Peitsche, damit jeder wüsste, was für eine Art Herrscher er sei (Abb. 3). 696 ließ er aber Golddinare nur mit Texten prägen: Sie enthielten einen Koranvers, das Glaubensbekenntnis und eine Jahreszahl (Abb. 4). Woher dieser Sinneswandel kam ist unklar — war der Kalif vielleicht verärgert, weil der römische Kaiser Justinian II (reg. 685–695, 705–711) Münzen prägen ließ mit seinem eigenen Bildnis auf der einen und Jesus Christus mit dem Kreuz auf der anderen Seite (Abb. 5)? Und hatte Justinian das wirklich getan mit der Absicht, seinen arabischen Rivalen zu ärgern? Vielleicht spielte es mit, aber der Kaiser wird seine eigenen Gründe gehabt haben, sei es innenpolitische oder persönliche. Auch der Kalif kann seine eigenen Gründe gehabt haben für seine neue Münze: Die passte natürlich gut zu der Islamisierung, die er gerade in seinem Reich durchführte.

Viele der Hadithe entstanden in der Mitte des 8. Jahrhunderts, also in der heißen Phase des christlichen Bilderstreits. Aber die Bildlosigkeit des Islams ist älter. Sowohl im Felsendom in Jerusalem (692) als auch in der Großen Moschee von Damaskus (708–715) fehlen Abbildungen von Menschen oder Tieren gänzlich. Was hätte man auch abbilden können? Für die starken Symbolbilder des Christentums (Kreuz, Fisch, Gottesmutter, Apostel) hatte der Islam keine Entsprechungen.

Ob und wie das islamische Bilderverbot mit dem Bilderstreit in der oströmischen Staatskirche in Verbindung steht, bleibt unklar. Streitpunkt für die Kirche war die Frage, ob und wie die Verehrung von Ikonen in Gotteshäusern zulässig sei. Gar nicht, sagte Kaiser Leo III im Jahre 726. Der Staatsapparat und die Armee folgten ihm, während die Mönche und die einfachen Gläubigen die Verehrung der Ikonen verteidigten und weiterhin praktizierten. Der bekannte Kirchenvater Johannes von Damaskus (ca. 675–750), der in der Nähe von Jerusalem lebte, also mitten im arabischen Reich, verfasste drei Traktate zur Verteidigung der Ikonenverehrung.

Kaiser Leo ließ inzwischen Münzen mit nur Text prägen, was vermuten lässt, dass er ‘Abd al-Malik nacheiferte (Abb. 6). War das islamische Bilderverbot der Anlass für den christlichen Bilderstreit oder war es doch eher umgekehrt? So genau weiß es niemand, aber es ist klar, dass im Islam das Bilderverbot kein so wichtiges Thema war, während der christliche Bilderstreit dreißig Jahre lang die Gemüter erhitzte und im neunten Jahrhundert noch einmal aufflammte. Im Christentum haben am Ende die Ikonen gesiegt; im Islam eben nicht. 

Das Bilderverbot galt jedoch nur im religiösen Kontext und wurde nicht einmal von allen Schriftgelehrten vertreten. In den Jagdschlössern der Umayyaden-Kalifen befanden sich profane Bilder und Statuen, sogar von nackten und halbnackten Frauen (Abb. 7–8), und sie dürften auch sonst nicht gefehlt haben. Vereinfachend kann man sagen, dass an der Wand hängende oder hochstehende Bilder verboten sind, weil dann die Gefahr der Anbetung besteht; dass Bilder an öffentlichen Plätzen, wo gebetet wird, nicht erwünscht sind, da sie diese verunreinigen; und dass man an Gottes Stelle nichts schaffen wollen dürfe – was besonders die Bildhauerkunst verhinderte. Im privaten Bereich hingegen waren Abbildungen von Lebewesen normal.

Die Kirchen haben die bildenden Künste im Laufe der Jahrhunderte stark gefördert, aber die Moschee hatte keine solche Funktion. Auch die Fürstenhöfe bestellten keine großen bildlichen Werke. Soweit ein Mäzenatentum existierte, förderte es Architektur und Arabesken; ansonsten nur kleinformatige Arbeiten. Es gibt traditionell viele Tier- und Menschenbilder als Dekoration auf Geschirr, als Illustrationen in Biologie- und Geschichtsbüchern, auf Textilien und Papier, Porträts und Gruppenszenen, sogar mit dem Propheten (Abb. 9–11), unzählige Miniaturen in Büchern, Puppen für das Puppentheater und „Volkskunst“‘: Groschendrucke und Wandmalereien von der Pilgerreise nach Mekka. Je später, desto mehr bildende Kunst es gab, so scheint es; aber es kann auch sein, dass viel verloren gegangen ist. In späteren Jahrhunderten entstanden auch einzelne Malereien, vor allem in der Türkei, in Persien und Indien (Abb. 12–15).

Im 19. Jahrhundert ermöglichten die Lithographie und die Fotografie die Verbreitung von Bildern in großem Umfang. Die ältesten Fotos aus Konstantinopel und Kairo datieren von etwa 1850; die ersten Porträtfotos von der Arabischen Halbinsel von 1861. Von da an wollten alle geknipst werden und das Bilderverbot verschwand. Natürlich war es nötig, dies religiös zu begründen, aber das erwies sich als relativ leicht: Bei diesen neuen Bildern läge ja jeder Gedanke an Verehrung fern und etwas kreieren taten die Fotografen ohnehin nicht, wo die Kamera das eigentliche Werk tat und das Abgebildete nur „wiedergab“. Das Fernsehen nahm die letzten Hemmungen weg. Nur in schwer islamistischen Kreisen wird es noch durchgesetzt: bis vor kurzem bei extremen Wahhabis und jetzt wieder bei den Taliban.

ANMERKUNGEN
1. Bukhārī, Libās 88: قال النبي ص لا تدخل الملائكة بيتا فيه كلب ولا تصاوير (varianten: صور ، تماثيل )
2 Bukhārī, Libās 91: […] وعن عائشة ر قالت: قدم رسول الله ص من سفر وقد سترت بقرام لي على سهوة لي فيه تماثيل فلما رآه رسول الله ص هتكه وقال: أشد الناس عذابًا يوم القيامة الذين يضاهون بخلق الله. قالت: فجعلناه وسادة أو وسادتين.
3. Bukhārī, Libās 97: سمعت محمدا ص يقول : من صوّر صورة في الدنيا كُلّف يوم القيامة أن ينفخ فيها الروح وليس بنافخ.
4. Al-Azraqī, Akhbār Makka wa-mā djāʾa fīhā min al-āthār, Hrsg. Rushdī aṣ-Ṣāliḥ Malḥas, 2 dln., Madrid 1965, 165: لما كان يوم فتح مكة دخل رسول الله ص … وأمر بطمس تلك الصور فطمست. قال: ووضع كفيه على صورة عيسى بن مريم وأمه عليهما السلام. وقال: امحوا جميع الصور الا ما تحت يدي، فرفع يديه عن عيسى بن مريم وأمه Auch S. 168–169.

BIBLIOGRAFIE
– Patricia Crone, „The Religion of the Qurʾānic Pagans: God and the Lesser Deities,“ Arabica 57 (2010), 151–200.
– G. R Hawting, The Idea of Idolatry and the Emergence of Islam. From Polemic to History, Cambridge 1999.
– Silvia Naef, BIlder und Bilderverbot im Islam, München 2007. Das französische Original: Y a-t-il une «question de l’image» en Islam?, Paris 2004.
– Daan van Reenen, „The Bilderverbot, a new Survey,” Der Islam 67(1), (1990), 27–77.

Zurück zum Inhalt

Erzwungene Entkleidung in Iran

🇬🇧 🇳🇱 Die Neigung von Behörden, sich mit Frauenkleidung einzulassen, ist allgemein bekannt. Meist geht es darum, mehr vom weiblichen Körper zu bedecken, aber manchmal soll es auch weniger sein. Lange vor den Burka- und Burkiniregeln in Westeuropa dekretierte der iranische Kaiser Reza Schah 1936, dass Frauen ihren Tschador ablegen und sich westlich kleiden sollten. Und nicht nur das; sie sollten sich auch ungezwungen mit fremden Männern unterhalten. Bei Feiern und öffentlichen Veranstaltungen mussten Beamte mit ihren Damen in formeller westlicher Kleidung erscheinen um anderen ein Vorbild zu sein. Das wurde beaufsichtigt und bei Versäumnis konnten Sanktionen aufgelegt werden. Auf Festen durften Frauen nicht auf der einen und Männer auf der anderen Seite sitzen und Frauen sollten nicht nur mit ihren eigenen Ehemännern reden. Auf der Straße kontrollierte die Polizei und scheute nicht, Frauen gewaltsam ihres Tschadors zu rauben. Das waren natürlich männliche Polizeibeamte; weibliche gab es noch nicht. Als Frauen zu langen Kleidern und Kopftüchern griffen, wurden auch die verboten.
.
Modernistische Kreise freuten sich über die Entschleierung und im Norden Irans, der von Russland beeinflusst wurde, wurde sie leicht akzeptiert. Für die konservativen Bevölkerungsschichten war die Umsetzung dieser Dekrete jedoch eine Katastrophe. Frauen wagten sich nicht mehr auf die Straße, und wenn sie es trotzdem taten, würden sie von den Jungen aus der Nachbarschaft beschimpft oder belästigt. Anscheinend hatte niemand an die Konsequenzen der neuen Regelungen gedacht. Im Süden flohen Frauen in den Irak, andere entschieden sich, ganz zu Hause zu bleiben. Aber damals hatten die Häuser kein Bad, die Menschen gingen zum öffentlichen Badehaus und das war jetzt nicht mehr möglich. Immer nur eine Katzenwäsche zu Hause ist nicht angenehm; außerdem ist Baden oft auch eine religiöse Pflicht. Die Polizei kannte die Bedürfnisse der Frauen und patrouillierte deshalb gerne bei den Badehäusern, wo sie vielleicht eine verschleierte Frau erwischen konnten. Der Schriftsteller Reza Baraheni (1935 —) erzählte, dass sein Vater seine Frau und seine Mutter in einem Sack zum Badehaus zu tragen pflegte. Eines Tages wurde ein Polizist misstrauisch und fragte, was in diesen Säcken stecke. Pistazien, antwortete er. Der Polizist wollte es überprüfen und griff in den Sack. Die Mutter war kitzlig, konnte ihr Lachen nicht halten und beide wurden bestraft. Baraheni ist Schriftsteller, also könnte die Geschichte sehr wohl Fiktion sein — aber es ist ein schönes Motiv.
.
Auf den Festen war es auch nicht wirklich lustig. In den zugigen, ungeheizten Sälen froren die Frauen in ihren ärmellosen, dekolletierten Kleidern. Deshalb trugen sie darüber zum Beispiel einen schweren Wintermantel. Manchmal wollte ein Mann seiner Frau all dies nicht antun. Dann heiratete er für die Dauer der Veranstaltung eine Frau, der es alles egal war; vielleicht eine Prostituierte. Eine Ehe auf Zeit, auch für wenige Stunden, ist eine Möglichkeit, die das iranische Recht (noch immer) bietet. Auf diese Weise konnte er mit einer Gattin erscheinen, während seine eigentliche Frau zu Hause saß.
.
Prostituierte waren übrigens die einzigen Frauen, die sich vollständig verhüllen durften, ja sogar mussten. So versuchte die Regierung den Menschen einzuprägen, wie verachtenswert der Schleier war.
.
Das Schleierverbot führte auch zu diplomatischen Spannungen mit Großbritannien, das das Recht der Damen aus Britisch Indien verteidigte, Iran verschleiert zu besuchen.
.
1941 trat Reza Schah unter britisch-russischem Druck zurück und alles wurde wieder normal.

BIBLIOGRAFIE
H.E. Chehabi, „The banning of the veil and its consequences,“ in: Stephanie Cronin (Hg.), The making of modern Iran. State and society under Riza Shah, 1921–1941, London/New York 2003, 193–210.

Zurück zum Inhalt.

Ansteckung: Widersprach sich der Prophet? – Fortsetzung

🇳🇱 Wie dargelegt auf S. 1 gefiel mir der Artikel von Butt & Shah zur Ansteckung im Hadith des Propheten ganz und gar nicht. Wie lese ich dann die von ihnen behandelten Texte?
.
Meine Voraussetzungen bei der Lektüre von Hadithen sind folgende:
1. Die Aussagen des Propheten und Berichte über seine Verrichtungen stammen gemeinhin nicht von ihm, sondern von Gläubigen, die mindestens ein halbes, aber meistens ein oder zwei Jahrhunderte später lebten. Bestimmt gibt es auch Aussagen, die tatsächlich vom Propheten stammen, aber welche das sind, ist nicht herauszufinden und ich lasse mich davon nicht um den Schlaf bringen.
2. Die dem Propheten zugeschriebenen Aussagen enthalten Widersprüche. Die sollten nicht weggeschafft, sondern vielmehr geschätzt werden, weil sie zeigen, über welche Themen und Probleme die Gläubigen in den ersten Jahrhunderten des Islam diskutierten und wie sich ihre Diskussionen entwickelten.
2. Die islamische Hadithwissenschaft (‘ilm al-ridjāl), die ihre Blütezeit hatte zwischen ca. 770 und 1500, war damals sehr beeindruckend, aber heute nicht länger überzeugend. Die Behauptungen in den Quellen sind leicht zu entkräften, die Isnāde sind oft nachweisbar fiktiv.
.
Die Zielsetzungen von Butt & Shah sind offenbar: festzustellen welche Hadithe korrekt überliefert sind und somit von Gläubigen als Grundlage für ihr Leben und Denken zu akzeptieren sind. Des Weiteren für die Zweifler nachzuweisen, dass der Prophet sich nicht widersprach. Und in diesem spezifischem Fall: nachzuweisen, dass es zwar Ansteckung gibt, aber dass die von Gott kontrolliert und gesteuert wird..
Mein Ziel ist vielmehr, für mein eigenes Vergnügen eine Anzahl spannende und manchmal raffinierte Texte in ihrem Zusammenhang zu lesen und nebenbei anhand der geführten Diskussionen die Entwicklung des Islams zu verfolgen. Keine Religion, keine Theologie, sondern Religionsgeschichte und -phänomenologie.
.
Die meisten Hadithe, die Butt & Shah behandeln, habe ich neu übersetzt. Überdies habe ich noch einige Parallele und Varianten dazu gesammelt. Ideal wäre es, alle Hadithe zum Thema zu sammeln und mit einander zu vergleichen. Das wäre mir jetzt zu viel Arbeit, aber einige Hadithe drum herum lesen hilft bereits um besser zu verstehen was Sache ist.

Es gibt keine Ansteckung 

Essen mit Aussätzigen
Wenn es keine Ansteckung gibt, muss man Körperkontakt nicht fürchten. Ein Hadith erzählt, dass der Prophet mit einem Aussätzigen aß:

  • T1. Der Prophet nahm einmal die Hand eines Aussätzigen und tauchte die zusammen mit der seinigen in die Schüssel. Er sagte: „Iss in Vertrauen auf Gott und setze deine Hoffnung auf Ihn!“1

Butt & Shah haben noch einige Texte gefunden, die erzählen, wie bekannte Gefährten des Propheten ausdrücklich mit Aussätzigen aßen. Manchmal wurde sogar extra eine Mahlzeit mit ihnen organisiert.2 Auch Abū Bakr soll mit Aussätzigen gegessen haben.3 Abū Bakrs Tochter Aischa, die Frau des Propheten, trieb es arg bunt: sie soll einen aussätzigen Sklaven gehabt haben, der von ihrem Teller aß, aus ihrem Becher trank und oft auf ihrer Schlafmatte schlief—wobei sie sich um Ansteckung selbstverständlich nicht scherte.4
.
Die generelle Verneinung: „Es gibt keine Ansteckung.“
Die Existenz einer Sache kann im Arabischen verneint werden durch die Negation , gefolgt durch ein Substantiv im Akkusativ. Lā ilāha, „Es gibt keinen Gott, lā adwā, „Es gibt keine Ansteckung. Eine Ausnahme kann mit Hilfe des Wörtchen illā, „außer“ formuliert werden, gefolgt durch das Ausgenommene, z.B.: Lā ilāha illā allāh, „Es gibt keinen Gott außer Allāh. Shah & Butt zitieren Autoren, die bei der Aussage „Es gibt keine Ansteckungdas Ausgenommene nur hinzudenken, und zwar: „Es gibt keine Ansteckung außer durch Aussatz, bars und andere Krankheiten.“ Dieses „Hinzudenken“ akzeptiere ich nicht. Das Ausgenommene soll in der Aussage explizit genannt werden, sonst gilt es nicht.

Es gibt einige Hadithe, in denen die Aussage lā ‘adwā separat vorkommt. Es kommt z.B. ein Bettler zum Propheten und der jagt ihn nicht weg, sondern gibt ihm etwas, wobei er sagt: „Es gibt keine Ansteckung“.5 Ein anderer Text handelt vom Kauf einer Anzahl Kamele, die sich als räudig herausstellen; eine der Parteien zitiert dann dasselbe Prophetenwort.6
Aber viel öfter wird die Ansteckung in einer Auflistung von drei oder vier Sachen geleugnet.

  • T2. Der Prophet hat gesagt: „Es gibt keine Ansteckung, keine Vogelschau und keinen Wüstendämon.“7
    T3. Der Prophet hat gesagt: „Es gibt keine Ansteckung, keine Vogelschau, keinen Seelenvogel und keinen Wurm in Bauch.“ 8
    T4. Der Prophet hat gesagt: „Es gibt keine Ansteckung, keinen Seelenvogel, kein Unwetter verursacht durch einen Stern und keinen Wurm in Bauch.“9

Was wird hier alles verneint?
Vogelschau, ṭiyara, die Deutung der göttlichen Zeichen anhand des Vogelflugs.
Ein Wüstendämon, ghūl, so glaubte man, belästigte und bedrohte Reisende in der Wüste; er konnte unterschiedliche Gestalten annehmen.
Der Seelenvogel, hāmma, war die Eule, in der man glaubte, dass die Seele eines Verstorbenen wohnte. Nein, sagt ein anderer Hadith: wenn man eine Eule schreien hört, ist das kein Mensch, sondern nur ein Tier.
Der ṣafar war ein bösartiger Wurm im Bauch. Dass es auch einen Monat gibt, der Ṣafar heißt, ist hier nicht relevant.
Der naw’ war ein Unwetter, von dem man glaubte, dass es durch den Aufgang eines bestimmten Sterns verursacht wurde.
Es sind alles Sachen und Glaubensvorstellungen aus vorislamischer Zeit, die durch den Islam abgeschafft oder verblasst sind. Indem man Ansteckung in solche Auflistungen platzierte, wollte man glaubwürdig machen, dass auch (der Glauben an) Ansteckung ein rückständiger Aberglauben sei und nicht länger zeitgemäß. Hier waren raffinierte Theologen am Werk! In Wirklichkeit ist die Debatte über die Ansteckung deutlich islamisch. Sie ist ein Teil einer großen Diskussion; s. dazu unten.

Ansteckung gibt es durchaus

In einigen Hadithen lässt man den Propheten oder einen seiner Gefährten Distanz zu Aussätzigen wahren, offenbar wegen der Ansteckungsgefahr.

Abstand halten von Aussätzigen

  • T5. ‘Umar sagte zu Mu‘ayqīb al-Dausī: „Komm näher, aber wenn es jemand anders als du gewesen wäre, hätte er eine Speerlänge von mir entfernt sitzen müssen.“ Er war aussätzig.10

Schaut nicht lange auf Aussätzige
Einen Aussätzigen sehen ist nicht immer vermeidbar, aber man soll schnell den Blick abwenden. Aus Rücksicht auf den Kranken? Wohl eher aus Angst vor dem bösen Auge. Eine bekannte Aussage des Prophet is ja: „Das böse Auge gibt es wirklich.“

  • T6. Der Prophet hat gesagt: „Schaut nicht lange auf Aussätzige!“ 11
    T7. Der Prophet hat gesagt: „Schaut nicht lange auf Aussätzige und wenn ihr mit ihnen spricht, lasst dann eine Speerlänge Abstand zwischen euch und ihnen.“ 12

Die beschleunigte Treuegelübde
Der Prophet empfing Delegationen aus den arabischen Stämmen, die zu ihm kamen um ihm Treue zu geloben. In einer Delegation soll ein Aussätzige gewesen sein, den der Prophet ungerne in seiner Nähe hatte. 

  • T8. In der Delegation der Thaqīf war ein Aussätziger. Der Prophet sandte ihm folgende Botschaft: „Geh zurück; wir haben deinen Treueid hiermit angenommen.“ 13

Fliehe vor einem Aussätzigen
Für regelrechte Panik wird manchmal auch Raum gelassen:

  • T9. Ich haben den Propheten sagen hören: „Fliehe vor einem Aussätzigen wie vor einem Löwen!“ 14

Räude
Auch bei Tieren ist Ansteckung bekannt:

  • T10. Der Prophet hat gesagt: „Gesunde und kranke Tiere soll man nicht zusammen trinken lassen.“ 15

Es gibt keine Ansteckung, oder doch, oder doch nicht

Oft ist zu beobachten, dass ein Hadith einen früheren Hadith wieder aufnimmt, aber um einiges beschneidet oder umändert, oder dass etwas hinzugefügt wird.16 Manche Texte wollen z.B. die Abschaffung der Vogelschau etwas nuancieren:

  • T11. Der Prophet hat gesagt: „Es gibt keine Ansteckung und keine Vogelschau, aber eine günstige Vorhersage/ein gutes Wort habe ich gerne.“ 17

Oder man rettete mittels eines Hadith eine vorislamische Überzeugung hinüber in die Zukunft.

  • T12. Der Prophet hat gesagt: „Es gibt keine Ansteckung und keine Vogelschau, aber das böse Auge gibt es wirklich.“ 18

Oder man nuanciert in die andere Richtung: In manchen Bereichen sind düstere Vorhersagen durchaus berechtigt:

  • T13. Der Prophet hat gesagt: „Es gibt keine Ansteckung und keine Vogelschau, aber böses Glück kommt bei drei Sachen vor: die Frau, das Haus und das Reittier.“ 19

Beim Thema Ansteckung ist noch etwas anderes los. Hier findet mittels Hadithe eine heftige Diskussion statt: Es gibt sowohl Pro-Hadithe wie auch Kontra-Hadithe.
Es gibt hier aber auch Hadithe, in denen die Diskussion innerhalb eines Hadiths stattfindet, indem er seine eigenen Hauptaussage kannibalisiert, zu leugnen versucht oder den Tenor umdreht. Einen existierenden Hadith konnte man nicht ignorieren: er war ja ein Wort des Propheten. Man behält ihn also bei, aber fügt etwas hinzu oder bastelt daran herum. Beim Thema Ansteckung ist das des Öfteren gemacht worden, z. B. in:

  • T14. Abū Huraira: Der Prophet hat gesagt: „Es gibt keine Ansteckung und keine Vogelschau, keinen Seelenvogel und keinen Wurm im Bauch, aber vor einem Aussätzigen sollst du fliehen wie vor einem Löwe!“ 20

Den ersten Teil des Hadith war bereits vorbeigekommen in T2–T4, aber der hinzugefügte Satz dreht den Tenor um: Keine Ansteckung, aber siehe zu, dass du davon kommst! So einen Text hatte Ibn Qutaiba vielleicht im Kopf, als er versuchte darzulegen, dass Ansteckung keine Ansteckung ist.21

An T3 ist eine kleine Diskussion hinzugefügt, wobei die Theologie in zweiter Instanz die realistische Sichtweise einfach einverleibt:

  • T15. Abū Huraira: Der Prophet hat gesagt: „Es gibt keine Ansteckung, keine Vogelschau, keinen Wurm im Bauch und keinen Seelenvogel.“ Es stand ein Beduine auf, der fragte: „Wie ist es denn mit Kamelen, die im Sand so prächtig aussehen wie Gazellen, und wenn ein räudiges Kamel dazu kommt, bekommen sie auch die Räude?“ Darauf sagte der Prophet: „Aber wer hat dann das erste angesteckt?“ 22

Im folgenden Text findet die Diskussion nicht im Text des Hadiths statt, sondern im isnād, so dass der Prophet außen vor bleibt:

  • T16. Abū Salama ibn ‘Abd al-Rahman ibn ‘Auf: Der Prophet hat gesagt: „Es gibt keine Ansteckung,“ aber er überliefert auch: Der Prophet hat gesagt: „Gesunde und kranke Tiere soll man nicht zusammen trinken lassen.“
    Abū Salama sagte: Abū Huraira hat uns beide Hadithe vom Propheten überliefert. Später hat er uns aber verschwiegen, dass der Prophet gesagt hat: „Es gibt keine Ansteckung“ und er blieb bei: „Gesunde und kranke Tiere soll man nicht zusammen trinken lassen.“
    Al-Hārith ibn Abī Dhubāb—das ist der Neffe Abū Hurairas—sagte: Ich habe dich schon noch einen anderen Hadith überliefern hören, Abū Huraira, aber den verschweigst du jetzt! Du hast auch erzählt, dass der Prophet gesagt hat: „Es gibt keine Ansteckung!“ Aber Abū Huraira weigerte sich das zuzugeben und sagte: „… nicht zusammen trinken lassen“.
    Al-Hārith drängte so lange, bis Abū Huraira sich erboste, Äthiopisch zu brabbeln anfing und sagte: Weißt du, was ich sage? Ich sage: Auf gar keinen Fall!
    Abū Salama hat gesagt: Bei meinem Leben, Abū Huraira hatte uns sehr wohl überliefert, dass der Prophet gesagt hat: „Es gibt keine Ansteckung!“ Ich weiß nicht, ob Abū Huraira dies vergessen hatte oder ob der eine Hadith den anderen abgeschafft hat.23

Ansteckung und Theologie

Die obigen Hadithe sind nach ihrem Tenor geordnet worden. Ein Datierungsversuch mit Hilfe der isnāde habe ich unterlassen. Trotzdem widerspiegelt diese Ordnung, wie ich hoffe, ihre Entstehungsgeschichte.
Dass bestimmte Krankheiten durch Ansteckung übertragen werden, war seit Menschengedenken bekannt. Bereits im Alten Testament werden Aussätzige aus der Gemeinschaft ausgestoßen. Im 6. und 7. Jahrhundert wütete die Pest im Nahen Osten. Wie diese Krankheit genau übertragen wird, wusste man nicht, aber dass sie ansteckend ist, wusste man durchaus! Viehzüchter beobachteten überdies, dass räudige Tiere gesunde Tiere anstecken.
Ansteckung wäre vielleicht nie Gesprächsthema geworden, wenn nicht Theologen deren Existenz geleugnet hätten. Dem Leugnern zufolge ist es Gott, der in jedem Einzelfall bestimmt, ob jemand krank wird oder nicht. Mit Schwangerschaft ist das genau so: Coitus interruptus ist nicht nötig, denn es ist Gott, der bestimmt, ob eine Frau schwanger wird oder nicht.23
Diejenigen, die die Ansteckung anerkannten, mussten sich darauf zur Wehr setzen. Das Phänomen wurde Gegenstand einer kleinen, aber ziemlich erhitzten Debatte zwischen Leugner und Realisten, die durch Hadithe und in Hadithen ausgetragen wurde. Beide Parteien schrieben ja ihre Auffassung dem Propheten zu.
Die Debatte war Teil der viel umfassenderen Diskussion zum freien Willen und dem Ratschluss Gottes, die von ca. 690–800 die Gemüter der islamischen Theologen beschäftigt hat. Es ist nicht die einzige Debatte, die man in der Hadithliteratur entdecken kann.

ANMERKUNGEN
1. Abū Dāwūd, Ṭibb, 24/3925; Tirmidhī, Aṭ‘ima 19a; Ibn Mādja, Ṭibb 44/3542: أن رسول الله ص أخذ بيد مجذوم فوضعها معه في القصعة وقال: كل ثقةً بالله وتوكلا عليه.
2. Butt & Shah, Concept 62.
3. ‘Abd al-Razzāq al-Ṣan‘ānī, Muṣannaf 19509 عن معمر أن أبا بكر كان يأكل مع الأجذم.
4. Ṭabarī, Tahdhīb al-āthār, zitiert bei Butt & Shah, Concept 62-63.
5. ‘Abd ar-Razzāq aṣ-Ṣan‘ānī, Muṣannaf 19511: عبد الرزاق عن معمر قال: بلغني أن رجلا أجذم أتى النبي ص كأنه سائلا فلم يعجله و جهّزه النبي ص وقال: لا عدوى
6. Ḥumaydi, Musnad 706; Bukhārī, Buyū‘ 36; Aḥmad ibn Ḥanbal, Musnad ii, 455, 531.
7. Muslim, Salām 107–109, vgl. Aḥmad ibn Ḥanbal Musnad iii, 293, 312, 382: عن جابر قال: قال رسول الله ص: لا عدوى ولا طيرة ولا غول.
8. Ibn Mādja, Ṭibb 43/3539 .عن ابن عباس أن نبي الله ص قال: لا عدوى ولا طيرة ولا هامة ولا صفر In anderen Kombinationen: Bukhārī, Ṭibb 45; Aḥmad ibn Ḥanbal, Musnad ii, 450 u.a.
9. Muslim, Salām 106; Abū Dāwūd, Ṭibb 24/3912: أبي هريرة أن رسول الله ص قال: لا عدوى ولا هامة ولا نَوْء ولا صفر
10. ‘Abd ar-Razzāq aṣ-Ṣan‘ānī, Muṣannaf 19510: أن عمر بن الخطاب قال لمعيقيب الدوسي: ادنُ فلو كان غيرك ما قعد مني الا كقيد رمح، وكان أجذم.
11. Aḥmad ibn Ḥanbal, Musnad i, 233, Var. 299; Ibn Mādja, Ṭibb 44/3543:
سمعت ابن عباس يقول قال رسول الله ص: لا تديموا الى المجذومين النظر
12. Aḥmad ibn Ḥanbal, Musnad i, 78: حسين عن أبيه قال رسول الله ص: لا تديموا الى المجذومين النظر وإذا كلمتموهم فليكن بينكم وبينهم قيد رمح.
13. Ibn Mādja, Ṭibb 44/3544, Aḥmad ibn Ḥanbal, Musnad iv, 390 رجل من آل شريد يقال له عمرو عن أبيه قال : كان في وفد ثقيف رجل مجذوم، فأرسل إليه النبي ص: ارجع فقد بايعناك; Muslim, Salām 126: عمرو بن الشريد عن أبيه قال: كان في وفد ثقيف رجل مجذوم، فأرسل إليه النبي ص: بايعناك فارجع; Aḥmad ibn Ḥanbal, Musnad iv, 389: عمرو بن الشريد عن أبيه قال قدم على النبي ص رجل مجذوم من ثقيف ليبايعه فأتيت النبي ص فذكرت ذلك فقال ائته فأخبره أني قد بايعته فليرجع. Die Delegation empfang der Prophet kurz vor seinem Tod. Je später im Leben des Propheten eine Aussage oder Handlung von ihm platziert wird, um so weniger wahrscheinlich ist es, das er diese noch „abgeschafft“ (naskh) hätte, d.h. ungültig gemacht durch eine neue Aussage oder Handlung.
14. Aḥmad ibn Ḥanbal, Musnad ii, 443; Var. ‘Abd ar-Razzāq aṣ-Ṣan‘ānī, Muṣannaf 19508: سمعت رسول الله ص يقول: فر من المجذون فرارك من الأسد
15. Aḥmad ibn Ḥanbal, Musnad ii, 406, 434: قال رسول الله ص: لا يورد الممرض على المصح; Mālik, ‘Ayn 18 ابن عطية أن رسول الله ص قال: لا عدوى ولا هام ولا صفرولا يحُل المُمرض على المُصح وليحلُلْ المصح حيث شاء. فقالوا: يا رسول الله وما ذاك؟ فقال رسول الله ص: إنّه أدَّىل
16. Beispiele auch im Text über Frauen in der Moschee.
17. Muslim, Salām 111; Var. Bukhārī Ṭibb 43, 54; Aḥmad ibn Ḥanbal, Musnad iii, 130, 154, 173, 178, 251, 276, 278: قتادة عن أنس أن نبي الله ص قال: لا عدوى ولا طيرة ويعجبني الفأل الصالح
18. Aḥmad ibn Ḥanbal, Musnad ii, 222, 420, 487: . أبو هريرة قال رسول الله ص قال: لا عدوى ولا طيرة والعين حق
19. Aḥmad ibn Ḥanbal, Musnad ii, 153, 174, 180; Abū Dāwūd, Ṭibb 24/3921: عن عبد الله بن عمر أن رسول الله ص قال: لا عدوى ولا طيرة وأنما الشؤم في ثلاثة في المرأة والدار والدابة/الفرس.
20. Bukhārī, Ṭibb 19: .أبو هريرة قال رسول الله ص: لا عدوى ولا طيرة ولا هامة ولا صفر وفر من المجذوم كما تفر من الأسد
21. S. oben S. 1 und Butt/Shah, Concept 72–3.
22. Muslim, Salām 101, 102, 103; Bukhārī Ṭibb 25, 54; Aḥmad ibn Ḥanbal, Musnad ii, 267 أبو هريرة: قال رسول الله ص: لا عدوى ولا صفر ولا هامة فقال أعرابي: يا رسول الله فما بال الإبل تكون في الرمل كأنها الظباء فيجيء البعير الأجرب فيدخل فيها فيجربها كلها؟ قال: فمن أعدى الأول؟. Varianten Aḥmad ibn Ḥanbal, Musnad i, 269, 328; ii, 434; ‘Abd ar-Razzāq aṣ-Ṣan‘ānī, Muṣannaf 19507; Ibn Mādja, Ṭibb 10/86.
23. Muslim, Salām 104: وحدثني أبو الطاهر وحرملة وتقاربا في اللفظ قالا أخبرنا ابن وهب أخبرني يونس عن ابن شهاب أن أبا سلمة بن عبد الرحمن بن عوف حدثه أن رسول الله ص قال لا عدوى ويحدث أن رسول الله ص قال لا يورد ممرض على مصح قال أبو سلمة كان أبو هريرة يحدثهما كلتيهما عن رسول الله ص ثم صمت أبو هريرة بعد ذلك عن قوله لا عدوى وأقام على أن لا يورد ممرض على مصح. قال فقال الحارث بن أبي ذباب وهو ابن عم أبي هريرة قد كنت أسمعك يا أبا هريرة تحدثنا مع هذا الحديث حديثا آخر قد سكت عنه كنت تقول قال رسول الله ص لا عدوى فأبى أبو هريرة أن يعرف ذلك وقال لا يورد ممرض على مصح فما رآه الحارث في ذلك حتى غضب أبو هريرة فرطن بالحبشية فقال للحارث أتدري ماذا قلت قال لا قال أبو هريرة قلت أبيت قال أبو سلمة ولعمري لقد كان أبو هريرة يحدثنا أن رسول الله ص قال لا عدوى فلا أدري أنسي أبو هريرة أو نسخ أحد القولين الآخر. Auch Bukhārī, Ṭibb 53; Abū Dāwūd, Ṭibb 4/3910.
23. Einem Hadith zufolge fragte man einmal den Propheten, ob es erlaubt sei, den Coitus interruptus anzuwenden. Er antwortete: „Es schadet euch nicht, wenn ihr es sein lasst, denn jedes Lebewesen, von dem Gott die Erschaffung vorherbestimmt hat bis zum Tage der Auferstehung, wird geboren werden.“ So in Muslim, Nikāḥ 125: لا عليكم أن لا تفعلوا ما كتب الله خلق نسمة هي كائنة إلى يوم القيامة إلا ستكون.

Zurück zum Inhalt

Ansteckung, oder: Widersprach sich der Prophet? 

🇳🇱 Aus dem Internet wehte mir ein Artikel über Ansteckung im Hadith des Propheten zu.1 Er wurde von zwei pakistanischen Gelehrten verfasst und innerhalb der islamischen Hadithwissenschaft scheint mir das ein solider Artikel. An europäischen Universitäten könnte er als Beispiel benutzt werden um die islamische Wissenschaft kennen zu lernen. Mir selbst hat es mal wieder klar gemacht, warum islamische Wissenschaft mich so langweilt und ich nichts damit zu tun haben möchte.
.
Gibt es Ansteckung? In Hadithen des Propheten wird die Frage manchmal mit ja, manchmal mit nein beantwortet. Hatte der Prophet denn zwei Meinungen zum selben Thema oder hat er im Lauf seines Lebens drastisch die Meinung geändert?2 Die Zielsetzung der beiden Autoren steht gleich ganz vorne im Abstract: Both categories of ahādīth seem contrary to each other and demand a detailed insight into this matter in order to remove the apparent contradiction between them. Den ihres Erachtens scheinbaren Widerspruch wegschaffen, das ist ihr Ziel. Sie wollen nachweisen, dass die Aussagen des Propheten einander nicht widersprechen, und zwar mit Hilfe der jahrhundertealten Hadithwissenschaft. 

Ihre unausgesprochenen Voraussetzungen sind:
1. Korrekt überlieferte Hadithen gehen auf den Propheten zurück. Sie enthalten Aussagen, die er wirklich getan hat und die dort beschriebenen Handlungen hat er tatsächlich verrichtet. Korrekte Hadithe sind deshalb eine hervorragende historische Quelle.
2. Der Prophet hatte immer Recht und widersprach sich nie. Allerdings kann eine spätere Aussage von ihm eine frühere abschaffen. Nicht weil er sich geirrt hätte, aber die Umstände änderten sich, so dass manchmal eine neue Aussage nötig war.
3. Die jahrhundertealte Hadithwissenschaft (Blütezeit ca. 770–1500) gilt noch. Was die alten Bücher zu den Überlieferern mitteilen ist meist zuverlässig und die Methoden um die Korrektheit einer Überliefererkette festzustellen sind immer noch dieselben.
4. Eine Voraussetzung der Autoren zu diesem spezifischen Thema: Ja, Ansteckung existiert. Sie sind modern und lebenserfahren genug um das einzusehen und das taten sie
schon bevor sie diesen Artikel schrieben.
.
Jetzt zur Ansteckung. Die meisten Menschen wussten und wissen, dass es so etwas gibt, und es gibt Hadithe, in denen das vorausgesetzt wird. Aber es gibt auch eine Aussage des Propheten: „Lā ‘adwā, „Es gibt keine Ansteckung,“ und wir haben einen Bericht über den Propheten, in dem er mit einem Aussätzigen isst und seine Hand in dieselbe Schüssel taucht wie der—wodurch er gezeigt habe, dass keine Ansteckung zu befürchten sei. Mit diesem Widerspruch mussten die Autoren und die Muslime im Allgemeinen fertig werden.
Die Autoren haben eine Anzahl Hadithe zum Thema gesammelt. Ich übersetze hier ihre Übersetzungen aus dem Englischen. Meine eigenen Übersetzungen kommen auf S. 2.

  • T1: Der Prophet hat gesagt: „Es gibt keine ‘adwā (keine ansteckende Krankheit wird ohne Gottes Erlaubnis übertragen), keinen ṣafar (kein schlechtes Omen im Monat Ṣafar) und keine hāmma (kein schlechtes Omen in Zusammenhang mit einer Eule)“ Da stand ein Beduine auf und sagte: „Prophet, warum stehen denn die Kamele im Sand so prächtig da wie Gazellen und wieso werden sie, wenn ein räudiges Tier dazu kommt, alle räudig?“ Der Prophet antwortete: „Aber wer hat denn das erste angesteckt?“3
  • T2: Der Prophet nahm bei einem Essen die Hand eines Aussätzigen und tauchte die mit der Seinigen in die Schüssel. Er sagte: „Sag: Im Namen Gottes und in Vertrauen auf ihn!“ 4
  • T3: Der Prophet hat gesagt: „Es gibt keine ‘adwā (keine ansteckende Krankheit wird ohne Gottes Erlaubnis übertragen), keinen ṣafar (kein schlechtes Omen im Monat Ṣafar) und keine hāmma (kein schlechtes Omen in Zusammenhang mit einer Eule)“ und fliehe vor einem Aussätzigen, wie vor einem Löwen!“5 
  • T4: Der Prophet hat gesagt: „Schaut nicht ständig auf Aussätzige!“6
  • T5: Der Prophet hat gesagt: „Die Pest ist eine Katastrophe, die über die Kinder Israels gesandt wurde oder über Menschen, die vor euch lebten. Wenn ihr hört, dass in einem Gebiet die Pest herrscht, geht dann nicht dorthin. Aber wenn sie ausbricht in einem Gebiet, in dem ihr schon seid, flüchtet dann nicht vor ihr!“7 

Die beiden pakistanischen Autoren zitieren und kommentieren das, was sie in alten Kommentaren und anderen Quellen aus vielen Jahrhunderten zu diesen Hadithen fanden. Sie stellen fest, dass die alten Gelehrten zwei Methoden anwandten: tardjīḥ, das Gegeneinander-Abwägen von Hadithen, meist aufgrund der isnāde, und taṭbīq oder djam‘, von dem ich nicht genau weiß, was es ist, das aber das am meisten dem Harmonisieren oder dem Weginterpretieren ähnlich sieht.

Leugnung der Ansteckung
Diejenigen, die Ansteckung leugnen, finden Unterstützung in der deutlichen Aussage des Propheten in T1: „Es gibt keine Ansteckung,“ und deren Bestätigung in einer Handlung von ihm in T2, wo er mit einem Aussätzigen isst—wenn Gefahr für Ansteckung bestanden hätte, hätte er das nicht getan. Es werden noch vier Texte zitiert, die erzählen, wie bekannte Gefährten des Propheten ausdrücklich mit Aussätzigen aßen und somit nach dessen Vorbild handelten. Manchmal sollen sie sogar regelrechte Abendessen mit Leprosen gegeben haben!8 Aischa, die Frau des Propheten, habe es auch bunt getrieben: Sie soll einen aussätzigen Sklaven gehabt haben, der aus ihrer Schüssel aß, aus ihrem Becher trank und oft auf ihrem Schlafplatz schlief—wobei sie sich um Ansteckung keine Sorgen machte, versteht sich.
Ein Text wie T4: „nicht ständig auf Aussätzige schauen,“ in dem Ansteckung vielleicht – aber nicht notwendigerweise – vorausgesetzt wird, wird von den Leugnern beseitigt, weil der isnād schwach ist. Dasselbe gilt für zwei nicht-prophetische Überlieferungen, die empfehlen zwischen sich und einem Aussätzigen eine, bzw. zwei Speerlängen Abstand zu wahren. Die Schwäche eines isnāds nachzuweisen ist eine klassische islamische Manier um einen unerwünschten Hadith zu beseitigen. Eine andere Methode ist einen Text als durch einen späteren Text abgeschafft (mansūkh) zu betrachten. Von T3: „Fliehe vor einem Aussätzigen…’ wird gesagt, dass er von T2, in dem der Prophet mit einem Aussätzigen isst, abgeschafft worden ist.
Die Gelehrten, die T3 nicht verwerfen, haben im Lauf der Jahrhunderte verschiedene andere Wege gefunden um ihn zu entschärfen. Sie sagen zum Beispiel: Man soll nicht aus Angst vor Ansteckung vor einem Aussätzigen fliehen, sondern um den armen Mann nicht zu verletzen. Dasselbe gilt beim Anschauen: Es geht nicht um Ansteckung, sondern um Diskretion, Rücksicht.
Oder wer meint, durch einen Aussätzigen Schaden zu erleiden, seinen Geruch oder seine Nähe nicht zu ertragen oder wer eine Abneigung gegen ihn spürt, der soll davonlaufen. Man bleibt ihm fern, wie man auch eine überhängende Mauer oder ein kaputtes Schiff meidet.
Oder ganz kompliziert: Man soll vor einem Aussätzigen flüchten, weil man sonst, wenn man krank wird, vielleicht denken könnte, dass es durch Ansteckung kommt—was der Prophet ausgeschlossen hat. Diese Begründung kommt häufig vor: bereits Abū ‘Ubayd (gest. 838) sagt, dass man gesunde Tiere nicht mit kranken Tieren trinken lassen soll, denn wenn sie dann krank werden, könnte man zu der Irrmeinung verführt werden, dass es Ansteckung gäbe. In Wirklichkeit werden die gesunden Tiere krank durch den Willen Gottes und durch nichts anderes.
Das ist tatsächlich der Grund, warum Ansteckung überhaupt geleugnet wird. Es ist immer von neuem ein göttlicher Ratschluss, der bestimmt, ob man krank wird oder nicht.

Anerkennung der Ansteckung
Auch diejenigen, die glaubten, dass es Ansteckung gibt, konnten nicht alle Hadithe einfach hinnehmen. Zwar verfügten sie, neben ihren eigenen Beobachtungen von Ansteckung, über einige mehrfach und korrekt überlieferte Hadithe (T3, T5 und vielleicht T4), die diese bestätigten, aber einige andere, die deutlich die Ansteckung leugnen, mussten sie unschädlich machen. T2, in dem der Prophet mit einem Aussätzigen isst, hielten sie für nicht korrekt überliefert; der schadete also nicht viel. Blieb noch die korrekt überlieferte und glasklare Aussage des Propheten: „Es gibt keine Ansteckung“ (T1/3), aber dafür fand man unterschiedliche Lösungen:
– Man entkräftet die Aussage, indem man etwas hinzudenkt: Natürlich gibt es Ansteckung; was der Prophet meinte ist: „Es gibt keine Ansteckung außer durch Aussatz, bars und andere Krankheiten.“ Deshalb soll man durchaus vor einem Aussätzigen fliehen.9
– Andere denken etwas anderes dazu: „Es gibt keine Ansteckung von Natur aus, mit anderen Worten: Es ist Gott, der entscheidet, ob Ansteckung erfolgt oder nicht. Als Beweis dafür konnte dienen, dass der Prophet ruhig seine Hand zusammen mit der eines Aussätzigen in die Schüssel tauchte. Ein gewisser al-Turbushtī, ein Gelehrter aus dem 13. Jahrhundert, fand diese Auffassung die beste, gerade weil sie Übereinstimmung zwischen Hadithen zu diesem Thema ermöglicht.10
– Noch andere Gelehrten meinten, dass die Aussage: „Es gibt keine Ansteckung“ nicht die Ansteckung selbst leugnen will, sondern den Glauben, dass es Ansteckung durch etwas anderes als Gott gibt.11 Die rhetorische Frage des Propheten in T1: „Aber wer hat denn das erste angesteckt?“ passt gut zu dieser Auffassung.
– Ibn Qutaiba (± 828–889) war ein Literat, kein Mediziner, aber er verstand weitgehend wie Ansteckung funktioniert: durch Berührung (mulāmasa) oder durch Tröpfcheninfektion durch die eingeatmete Luft (al-shamm al-rā’iḥa), vor allem über Mitbewohner (mukhālaṭa). Trotzdem hatte er kein Problem mit der Aussage „Es gibt keine Ansteckung (‘adwā),“ denn die von ihm beschriebenen Übertragungsarten von Krankheiten sind einfach keine ‘adwā. Was das denn ist, sagt er nicht; zumindest wird es aus dem pakistanischen Artikel nicht ersichtlich. Ibn Ḥadjar al-‘Asqalānī (1372–1449) folgt demselben Gedankengang, aber er sagt durchaus, was ‘adwā ist, nämlich eine Krankheit, die an einem bestimmten Ort grassiert, wie die Pest in T5. Von so einem Ort zu fliehen ist nicht erlaubt, weil man dann dem Ratschluss Gottes zu entkommen versucht.12

Ich habe nicht den ganzen langen Artikel der beiden Autoren hier zusammengefasst, sondern versucht das Wichtigste herauszuholen. In einigen Punkten habe ich sie einfach nicht verstanden. Lobenswert ist, dass die beiden Autoren energisch und akribisch viele Kommentartexte gesammelt haben. Was ich aber bedaure, ist, dass ihre Gedankengänge sich den jahrhundertealten Kommentaren fast kritiklos anschließen, obwohl diese nach heutigen Einsichten intellektuell nicht ausreichend sind.
Allen Respekt für einen Ibn Qutaiba, der im neunten Jahrhundert schon gut wusste, was Ansteckung ist, aber jammerschade, dass er sich dann winden musste um das Zitat des Propheten zu retten und letztendlich behauptet, dass Ansteckung keine Ansteckung ist. Ihm und seinen Nachfolgern kann ich es aber nicht übel nehmen: vor Jahrhunderten konnte und durfte man wohl nicht anders denken. Anders sollte das sein bei den beiden modernen pakistanischen Autoren, die wahrscheinlich doch mal ein Gymnasium von innen gesehen haben. Aber leider nehmen sie die uralten Argumentationen ernst, als würden sie von Propheten oder Heiligen stammen, und gründen darauf ihre Folgerung: „Keine ansteckende Krankheit wird ohne Gottes Erlaubnis übertragen.“ Das ist, was mich in solchen Arbeiten so langweilt. Man kann auch sagen: Ich schätze es nicht, dass sie Theologie betreiben statt Textwissenschaft. Zu kritisieren ist auch, dass sie ihre Schlussfolgerung in ihre Übersetzung eines Hadith einarbeiten; das ist Mogelei. Lā ‘adwā bedeutet: „Es gibt keine Ansteckung,“ und nicht: „no contagious disease is conveyed without Allāh’s permission.“ Bei der Wiedergabe eines Textes in einer anderen Sprache soll man übersetzen, nicht theologisieren.
.
Meine eigenen Voraussetzungen und meine Lesart dieser widersprüchlichen Texte werde ich auf S. 2 darlegen.

ANMERKUNGEN
1. Muhammad Qasim Butt und Muhammad Sultan Shah, „The Concept of Contagiousness in the Ahādīth,“ Pakistan Journal of Islamic Research, 19/1 (2018), 59–75. Im Netz sah ich es hier, das letzte Mal am 10. November 2018.  Eine pdf-Datei steht hier: Butt_Shah, Contagiousness in ahadith.
2. Und das ist erst ein Beispiel; es gibt etliche Themen, über die die Aussagen des Propheten widersprüchlich sind oder scheinen.
3. U.a. Bukhārī, Ṭibb 25; Muslim, Salām 101 und viele andere, mit unterschiedlichen Prophetengefährten als Überlieferer: قال رسول الله ص: لا عدوى ولا صفر ولا هامة فقال أعرابي: يا رسول الله فما بال الإبل تكون في الرمل كأنها الظباء فيجيء البعير الأجرب فيدخل فيها فيجربها كلها؟ قال: فمن أعدى الأول.
4. Abū Dāwūd, Ṭibb, 24/3925; Tirmidhī, Aṭ‘ima 19a e.a.: أن رسول الله ص أخذ بيد مجذوم فوضعها معه في القصعة وقال: كل ثقة بالله وتوكلا عليه
5. Bukhārī, Ṭibb 19:  قال رسول الله ص: لا عدوى ولا طيرة ولا هامة ولا صفر وفر من المجذوم كما تفر من الأسد.
6. Aḥmad ibn Ḥanbal, Musnad i, 233: قال رسول الله ص: لا تديموا الى المجذومين النظر 
7. Bukhārī, Anbiyā’ 54 (vgl. auch Muslim, Salām 100): … فقال أسامة قال رسول الله ص: الطاعون رجس أُرسل على طائفة من بني إسرائيل أو على من كان قبلكم فإذا سمعتم به بأرض فلا تقدموا عليه، وإذا وقع بأرض وأنتم بها فلا تخرجوا فرارًا منه. قال أبو النضر: لا يخرجكم الاّ فرارا منه  
8. Butt/Shah, Concept 62.
9. لا عدوى ألّا من الجُذام والبرس وغيرها . Was bars ist weiß ich nicht; es muss auch eine Krankheit sein. Butt/Shah, Concept 70. Gemeint ist vielleicht baraṣ, ein Name für Lepra.
10. لا تقع عدوى بطبعها. Butt/Shah, Concept 71.
11. Butt/Shah, Concept 72.
12. Butt/Shah, Concept 72–73.

Zurück zum Inhalt

Orientalismus im Orient

🇳🇱 Orientalismus war eine Richtung in der Kunst, die vor allem im 19. Jahrhundert blüht und als Inspirationsquelle den Orient“ hatte: ein Gebiet, das an der türkischen Grenze anfing und irgendwo in Ostasien aufhörte: das geheimnisvolle Morgenland voller Schönheit, Farbenpracht, Reichtum, mit aller Grausamkeit und Sinnlichkeit, die man dort zu erkennen meinte oder sich wenigstens vorstellte.
Orientalistik ist das wissenschaftliche Studium von dem, was früher der „Orient“ hieß.
Verwirrung entstand, als 1978 das berühmt-berüchtigte Buch Orientalism von Edward Said erschien. Dieser Autor brachte die beiden Begriffe durcheinander. Das tat er absichtlich, denn er wollte das betonen, was beide Tätigkeiten seiner Meinung nach gemeinsam hatten, nämlich ein verzerrtes Bild des „Orients“ zu kreieren, mit der Absicht diesen zu unterwerfen und zu beherrschen. Dabei wollte er vor allem die Orientalistik diskreditieren.
Das Bild, das der Westen sich vom Orient bildete, wurde in der Kolonialzeit im Osten oft übernommen. Der Westen bestimmte ja, wie der Orient auszusehen und sich zu verhalten hatte. Dieser Umstand schafft böses Blut seit dem Erscheinen von Saids Buch, in dem das Phänomen zum ersten Mal angeprangert wurde. In Saudi-Arabien und dem Irak wurden Lehrstühle für „Orientalistik“ gegründet, deren Aktivitäten durch Hass oder Abneigung gegen die Orientalistik inspiriert wurden. Aber von ca. 1800 bis 1980 wurden die westlichen Orientbilder von den Untertanen im Orient noch untertänigst geschluckt und übernommen; es blieb ihnen wohl nichts anderes übrig. Sogar in religiösen Sachen ließ man sich einen Bären aufbinden: Die Gestaltung des heutigen Islams hat dem Westen einiges zu „verdanken“ (siehe z.B. hier und hier.)

Hier folgen einige Beispiele von Orient made in Europe:
.
Am Ende des 19. Jahrhunderts diktierten europäische Handelsunternehmen (Ziegler, Hotz), wie Perserteppiche auszusehen hatten. Nicht zu wild und dezent koloriert, nach europäischem Geschmack; mit Merinowolle aus Manchester und mit künstlichen Farbstoffen. Natürlich gehorchten die Teppichweber; das Weben war ja ihr Broterwerb.
===
Zwang gab es auch in Niederländisch-Indien. Die malaiische Sprache, zum Beispiel, kannten die Holländer natürlich besser als die Indonesier. Diese konnten sie aber noch lernen, etwa mit Hilfe der Bücher des Kantoor voor Volkslectuur (Büro für Volkslektüre; später Balai Poestaka/Pustaka; 1908–1942), das ab 1920 Indonesische Literatur herausbrachte, die als für die Eingeborenen angemessen beurteilt wurde.1
===
Die Sheikh Zayed Moschee in Abu Dhabi ist riesig: eine 75 Meter hohe Kuppel, Minarette von 107 Meter Höhe, Platz für 40.000 Gläubige und von allem viel zu viel. Das Gebäude verbreitet einerseits die Langeweile computergenerierter, steriler Massenware, andererseits erinnert es an eine orientalische Fantasie aus Tausendundeine Nacht.  Diese Moschee ist unverhohlen orientalistisch: ein orientalischer Traum. Die Perlenfischer am Golf hatten selbst keine Tradition großer Bauten. Sie heuerten also Architekten aus dem Ausland an,2 die für sie diesen Märchenpalast entwarfen, aus dem jeden Augenblick ein fliegender Teppich aufsteigen kann. Stilelemente von verschiedenen existierenden Bauten von Marokko bis Indien sind zu einem orientalischen Ganzen hoch zwei zusammengefügt worden. Offensichtlich hat der Bauherr es zufrieden abgenommen, obwohl neuerdings in den arabischen Ländern heftig auf den Orientalismus geschimpft wird.

===
Aber die ganze Tausendundeine Nacht ist eine überwiegend westliche Konstruktion, die nach einer Erfolgsgeschichte von zwei Jahrhunderten in Europa von dort aus ihren Weg in den Nahen Osten gefunden hat. Die Erzählungen wurden anfangs von gebildeten Arabern selten gelesen und nicht geschätzt. Nicht etwa, weil darin freimütig über Sex geredet wird, aber weil sie in einfacher („kindischer“) Sprache abgefasst worden seien und auch anderen literarischen Maßstäben nicht genügten. Sie gehörten zur Domäne der mündlichen Erzähler, die solche Texte in Heftchen aufbewahrten, sie auswendig lernten und durch das Land zogen um sie in Kaffeehäusern und auf Plätzen vorzutragen. Aber anderer Stoff war bei den Erzählern und ihren Zuhörern viel beliebter. Aus dem 19. Jahrhundert sind einige Theaterbearbeitungen von Erzählungen aus Tausendundeiner Nacht bekannt, aber Theater galt ebenfalls als etwas für die niederen Stände. Erst ab ca. 1900 begannen arabische Bildungsbürger diese Erzählungen zu schätzen, nachdem sie in Europa für gut befunden waren. Ab diesem Zeitpunkt standen Schriftsteller auf, die erklärten, dass Tausendundeine Nacht auf sie einen wichtigen Einfluss hatte: ‘Abd al-Qādir al-Māzinī, Mahmūd Taimūr, Taufīq al-Hakīm, Ṭāhā Husain und Nagib Mahfus, um nur einige zu nennen. Sie und noch etliche andere Schriftsteller reagierten auch auf die Erzählungen, indem sie eine bearbeiteten oder damit spielten oder Bücher schrieben wie Die Träume Shahrazads oder Die tausendzweite Nacht. Die erste arabische Dissertation über die Erzählungen erschien 1943: ein Beweis der Akzeptanz.
Dass moderne arabische Autoren auf ihr eigenes Erbe zurückgreifen, scheint jetzt ganz natürlich, aber es geschah, nachdem es jahrhundertelang vernachlässigt worden war und nachdem Europa sich seiner angenommen, begutachtet, durch die Mangel gedreht und neu zubereitet hatte.
Später gab es noch mehr europäischen Einfluss auf die Rezeption von Tausendundeine Nacht, wenn auch indirekt. Eine neue arabische Ausgabe wurde 1985 in Ägypten verboten, weil sie sittenwidrig sei, und das versucht man immer wieder. Die Erzählungen werden sittenwidrig genannt, weil sie
 gegen die Sitten der fundamentalistischen Muslime verstoßen, die sich inzwischen breit gemacht hatten und die ihre Prüderie zumindest zur Hälfte dem orientalistischen Europa und der Königin Viktoria verdanken; siehe hier.
===
Ein ähnlicher Fall ist meiner Meinung nach die Rezeption von Ibn Khaldūn: einer der berühmtesten alten Araber überhaupt, der jedoch von Europa aus in den Nahen Osten gelangt ist. Dazu in Zukunft mehr.

ANMERKUNGEN
1. Dazu dieses (Engl.).
2. Als Architekt wird Yousef Abdelky erwähnt, aber auch Mohammad Ali Al-Ameri; des Weiteren Firmen wie Spatium, Halcrow und Speirs und Major Associates.

Zurück zum Inhalt

Fünfzehn populäre Irrtümer zum Islam

🇳🇱 In der Anti-Islamhetze, die immer heftiger wird, werden enorme Mengen an Desinformation verbreitet. Angesichts des weltweiten Erstarkens rechtspopulistischer und faschistischer Strömungen schadet es vielleicht nicht, Ihnen einige Korrekturen für die dunklen Jahre mitzugeben.
Wer hier öfter liest, weiß, dass einige Themen schon ausführlicher behandelt wurden. Ich verweise mit Links auf die jeweiligen Webseiten.

„Der Islam sagt ….“
Der Islam ist weder eine Person noch eine Rechtsperson. Er kann nicht reden, er kann nicht handeln. Sätze wie: Der Islam ist kriegslüstern, der Islam ist Frieden, der Islam unterdrückt Frauen, der Islam ist ganz lieb zu Frauen, der Islam sagt … sind unsinnig.
Der Islam will/kann/verbietet/befiehlt nichts, ist weder Frieden noch Krieg; es sind immer Muslime, die etwas tun oder sein lassen. Von Ihnen gibt es mehr als eine Milliarde, die wollen oder tun nicht alle dasselbe.

„Der Islam ist keine Religion, sondern eine Ideologie.“
Wenn man den Islam zur Ideologie erklärt, könnte er vielleicht in manchen Umgebungen bekämpft oder gar verboten werden. Eine Religion zu verbieten ist schwieriger; die meisten Verfassungen enthalten ja einen Artikel über Religionsfreiheit.
Aber im Islam wird die Hauptrolle gespielt von einem Gott, der die Welt erschaffen hat und sie erhält, der von Ewigkeit an eine heilige Schrift bei sich hatte, die er seinen Propheten offenbart hat, und der am Ende der Zeiten die Menschheit richten wird.
Solch eine Weltanschauung nennt man generell Religion. Wenn der Islam keine Religion ist, sind Judentum und Christentum ebenfalls keine. Diejenigen, die rufen: „Der-Islam-ist-(nur)-eine-Ideologie!”, wollen meist Religionsfreiheit predigen für die beiden letztgenannten und Ideologieverbot für den Islam.

„Aber der Koran sagt doch …?“
Was steht im Koran? Wie alle heiligen Schriften „sagt“ der Koran ungefähr alles, aber auch sein Gegenteil. Er enthält Botschaften von Liebe und Hass, von Krieg und Frieden, von Unbarmherzigkeit und Erbarmen. Es hat also keinen Sinn, nach der Art von Jehovas Zeugen allerlei Debatten zu führen auf der Basis von einigen einseitig gewählten Koranversen.
Überdies steht ganz viel gar nicht im Koran. Das Buch enthält nur einen Teil der islamischen Glaubensüberzeugungen und des islamischen Rechts (Scharia).
Nicht im Koran stehen unter anderem: Scharia, Kalifat, die Bestrafung im Grab, Märtyrer gehen direkt ins Paradies, 72 Jungfrauen, Hunde und Katzen, das Bilderverbot, fünfmal am Tag beten, Steinigung. Interpretationsabhängig sind: die Bedeckung der Frau, das Alkoholverbot und vieles mehr.
Achtung: wenn etwas nicht im Koran steht, ist es deshalb nicht gleich unislamisch.

„Mohammed war …“
Tausende Textseiten berichten vom Handeln des Propheten Mohammeds, aber einen Wert als Quelle für wissenschaftliche Geschichtsschreibung haben nur die wenigsten. Mit Hilfe dieser Texte kann sich jeder und jede den Propheten basteln, der ihm oder ihr gefällt: ein strenger Richter, ein milder Richter, kriegslüstern, friedfertig, frauenfeindlich oder eben nicht, väterlich, gnadenlos, sittlich hochstehend oder vielmehr egozentrisch, ein Held, ein Kinderschänder, menschlich-allzu-menschlich, immer kompromissbereit oder vielmehr unbiegsam: Sie haben die Wahl!
Über den historischen Mohammed ist nur ganz wenig bekannt. Einige frühe Texte über ihn datieren auf sechzig (!) Jahre nach seinem Tod; die meisten sind erheblich jünger. So wissen wir z. B. überhaupt nicht, ob er tatsächlich ein kleines Mädchen heiratete. Dazu gibt es nur einen kurzen Text (mit einigen Varianten), der nicht so heilig ist, dass Muslime ihn unbedingt für wahr halten müssen—und Nichtmuslime ohnehin nicht. Ein anderes Beispiel: die Erzählungen über die Ausrottung jüdischer Stämme durch Mohammed sind schon 2008 als Fiktion entlarvt worden. 

„Der Koran ist das Werk Mohammeds.“
Keineswegs. Dass der Koran von Gott dem Propheten Mohammed in mehreren Lieferungen über zwölf, dreizehn Jahren offenbart wurde, ist nicht nachgewiesen. Aber dass er von Mohammed geschrieben wurde, wie man in Europa lange Zeit annahm, ebenfalls nicht. Ganz früher hieß es in Europa: der Koran könne nicht von Gott stammen, denn der ist der Gott der Bibel; Mohammed habe das Buch mit bösen Absichten selbst erfunden. Spätere Orientalisten meinten, dass Gott nicht existiere und dass also Mohammed der Verfasser sein müsse, weil er der Entstehung des Textes am nächsten war. Er habe den Koran selbst geschrieben, allerdings in Anlehnung an die jüdische und christliche Tradition.
Mit einer göttlichen Offenbarung können moderne Forscher nichts anfangen, aber mit der Autorschaft Mohammeds auch immer weniger. Die meisten von ihnen betrachten den Koran als einen anonymen Text oder vielmehr als eine Sammlung von Texten unterschiedlicher Gattungen, die möglicherweise aus verschiedenen Quellen stammen.
Die Sammlung dieser Texte in einem Buch fand zwischen ca. 650 und 700 statt. Ohne Zweifel waren davor schon Teile in Umlauf. Diese spielten bestimmt eine wichtige Rolle bei der schnellen gesellschaftlichen Wandlung in Arabien, bei der Vereinigung der arabischen Stämme und bei den enormen arabischen Eroberungen ab 632. Welche Rolle genau ist nicht bekannt.

„Der Islam ist im Mittelalter hängen geblieben.“
Der Nahe Osten hat nie ein Mittelalter gekannt. Als in Europa das frühe, angeblich „dunkle“ Mittelalter anfing, ging drüben die Antike einfach weiter. Es brach eine Blütezeit an, in der die islamische Welt Europa bei Weitem voraus war: in Industrie, Handel, Wirtschaft, Bankwesen, Wissenschaft, Medizin, Recht, Philosophie und sogar Theologie. Allerdings geriet die islamische Welt in späteren Jahrhunderten allmählich in Verfall, durch neue Handelsrouten (Amerika; Kap der Guten Hoffnung), durch veraltete Bewaffnung und überholten Schiffbau und durch koloniale Machtausübung aus Europa. Aber diese oder irgendeine frühere Zeit „mittelalterlich“ zu nennen wäre nicht richtig; der Begriff passt nur zur europäischen Geschichte—und vielleicht nicht einmal dazu.

„Der Islam ist eine Wüstenreligion.“
Das Ursprungsgebiet und die Westhälfte des Verbreitungsgebietes des Islams ist ein arider bzw. halb-arider Gürtel, in dem es tatsächlich viele Wüsten gibt. Aber dort wohnt niemand permanent; wohlweislich wohnt man in den fruchtbaren Gebieten, die es durchaus gibt: in den Flusstälern und –deltas, in Oasen und natürlich in Städten. Die nomadischen Wüstenbewohner, die Beduinen, waren von alters her meist wenig zu Religion geneigt; das wird schon im Koran beklagt.
Der Islam stammt zum Teil aus der Stadt Mekka, zum Teil aus der Oase Medina, hat um 700 in Syrien erst richtig Form bekommen und wurde ein Jahrhundert später im Irak noch mal gründlich umgearbeitet. Später bekam jede Periode und jede Gegend ihre eigene Gestaltung des Islams.

„Steinigen ist eine mittelalterliche Bestrafung“
Nein, Steinigen aufgrund eines Urteils nach einem Rechtsgang wird erst seit dem zwanzigsten Jahrhundert, vor allem seit 1979, in einigen Staaten praktiziert. Momentan ist die Zahl der Steinigungen wieder rückläufig, wahrscheinlich weil es sich als eine recht unpraktische Methode der Hinrichtung entpuppt hat. Vor dem zwanzigsten Jahrhundert wurde nicht gesteinigt, zumindest nicht aufgrund eines Urteils. Zwar wird die Steinigung im Fall der Unzucht in einigen alten Rechtsquellen unzweideutig empfohlen, aber die Rechtsgelehrten wussten die zu umgehen, mit Hilfe anderer Rechtsquellen und schlauer Rechtskniffe: Leben und leben lassen war immer das Hauptziel der Scharia. Die Forschung hat nur einen einzigen Steinigungsfall im Osmanischen Reich ans Licht gebracht, aus dem Jahr 1670. Der verantwortliche Richter wurde damals sofort abgesetzt; der Chronist, der von Fall berichtete, war empört. 

„Der Islam braucht eine Aufklärung.“
Manchmal wird behauptet, dass aus „dem Islam“ ohne einen Prozess der Aufklärung nie mehr etwas werden wird. Aber im neunzehnten Jahrhundert war die Aufklärung im Nahen Osten durchaus bekannt geworden. Die Einwohner des Osmanischen Reichs spürten, dass sie im Vergleich schwach waren, sowohl militärisch als auch kulturell. Um aufzuholen fingen sie an Europa nachzueifern. Aber auf Dauer stellte sich heraus, dass eben die Gradlinigkeit der Aufklärung, mit ihrer Unzweideutigkeit, ihrer klaren Sprache und ihren kodifizierten Gesetzen (Code Napoléon) die Muslime dazu gebracht hat, den flexiblen Umgang mit ihren alten Texten aufzugeben und sie fortan alle wortwörtlich zu nehmen, ohne ein Auge für alternative Interpretationen zu haben. Die Ambiguitätstoleranz, die von alters her ein Merkmal der islamischen Kultur war, ist in den vergangen zwei Jahrhunderten zum Großteil verloren gegangen. Der Nahe Osten wurde ein flaches und zweitrangiges Europa-Imitat.
Muslime haben die Aufklärung durchaus kennen gelernt, aber sie ist ihnen schlecht bekommen.

„Der Islam ist das Werk von Mohammed.“
Glauben Sie das wirklich? Der arme Mann wäre fassungslos gewesen, wenn er hätte sehen können, was Muslime nach seinem Tod daraus gemacht haben. Der Islam ist natürlich nicht fix und fertig aus dem Himmel gefallen, sondern er hat sich entwickelt. Mohammed hat nicht mehr erlebt, wie Araber sofort nach seinem Tod die halbe Welt eroberten und demzufolge schon bald die koranische Furcht vor dem Jüngsten Gericht vergaßen. Wie unterschiedliche Gruppen sich in Bürgerkriegen bekämpften, hat er ebenso wenig mitbekommen. Und wie der Kalif ‘Abd al-Malik ca. 695 seinen eigenen Islamentwurf in die Welt setzte, wobei er sich vom Christentum verabschiedete und die frühislamische Geschichte niederschreiben ließ. Und wie noch einmal hundert Jahre später die Schriftgelehrten (‘ulamā’) ihren Platz im Staat erkämpften, auf Kosten der Autorität des Kalifen. Auch von Schiiten und vom Aufstieg der Sufi-Mystik, die immerhin mehr als tausend Jahre das Bild des Islams prägte, hatte der Prophet nicht die leiseste Ahnung.

„Die Scharia ist das Gesetz des Islams.“
Nein, die Scharia ist islamisches Recht; das ist etwas anderes. Sie regelt alle Beziehungen zwischen Gott und Mensch und zwischen den Menschen untereinander; somit ist sie umfassender als europäisches Recht. Auch Glaubenslehre, Ethik und gute Manieren sind darunter begriffen.
Die Scharia ist kein Gesetz, nicht kodifiziert und sicherlich kein Buch, das jemand für die Ewigkeit niedergeschrieben hätte. Fragen wie: „Was sagt die Scharia zu …? Was steht in der Scharia? Wer hat die Scharia geschrieben?“ sind also sinnlos. Die Scharia sagt nichts, sondern muss in den Rechtsquellen gefunden werden, d.h. in Koran, Hadith und Jurisprudenz. Sie ist also dem Wandel unterworfen, wenn auch Rechtsgelehrte sich nur allzu oft mit dem begnügen, was ihre Kollegen vor Jahrhunderten schon gefunden haben. Das muss aber nicht so sein. Der Umfang, die große Verschiedenheit der Rechtsquellen und deren Offenheit für unterschiedliche Interpretationen machen Erneuerung möglich.
Die Frage, inwieweit man den Alten folgen muss oder die früher bereits gelösten Rechtsfragen noch mal aufs Neue aufrollen kann, ist seit mehr als einem Jahrhundert das wichtigste Diskussionsthema in der ganzen islamischen Welt. Die Diskussion wird aber abgebremst durch 1. das Auftreten von Salafisten, Wahhabiten, ISIS, u. dgl.; 2. die fortwährende Hetze durch deren Verbündete im Westen: die Islamhasser und Islamophoben.
Die Scharia war übrigens nie irgendwo das einzig geltende Recht. Dazu wäre sie auch ungeeignet.

„Eine Fatwa ist ein Todesurteil.“
Nö. Eine Fatwa ist im sunnitischen Islam ein nicht verbindliches, gelehrtes Gutachten auf dem Gebiet der Scharia. Eine Fatwa wird von einem Mufti abgegeben, auf Verlangen von Richtern, Privatpersonen und manchmal von Behörden. Der Empfänger kann die Fatwa außer Acht lassen, wenn er das wünscht. Scharia ist islamisches Recht, aber auch mehr als Recht: das verlangte Gutachten kann deshalb auch auf dem Gebiet der Ethik, der guten Sitten und der Glaubenslehre liegen.
Wer sich nicht persönlich an einen Mufti wenden mag, kann Fatwa-Sammlungen von bekannten Schariagelehrten aus früherer oder neuerer Zeit lesen, oder eine Fatwa über das Internet einholen, siehe z.B. dieses Portal.
Seit der Rushdie-Affäre (1989) ist das Wort Fatwa auch in Deutschland verbreitet, wird aber oft falsch verstanden. In der Phrase: „eine Fatwa über jemanden verhängen“ hört es sich fast an wie ein Todesurteil. Aber ein Gerichtsurteil ist es eben nicht, geschweige denn ein Todesurteil.

„Der Islam kennt keine Trennung von Kirche und Staat.“
Bei Mohammed selbst war der Staat noch wenig entwickelt, aber wahrscheinlich gab es solch eine Trennung tatsächlich nicht, und bei den ersten gewählten Kalifen (632-661) ebenfalls nicht.
Bei den Umaiyadenkalifen (661-750) gab es sie offensichtlich noch immer nicht. Ihre Sunna (= Verhalten, Brauch, gewohnte Handlungsweise) sollte man unbedingt befolgen; davon hing ja das Seelenheil ab. Über sie sangen die Dichter, dass sie Regen brachten, die Ernte gelingen ließen, Recht und Gerechtigkeit etablierten— alles in der besten altorientalischen Tradition des Gott-Königs.
Widerstand gegen die Umaiyadenkalifen kam ab ca. 700 u.a. von den „Menschen der Sunna und der Gemeinde,“ die die eigenmächtigen Sunnas der verhassten Kalifen durch die des Propheten ersetzen wollten. Anfangs wusste niemand, wie dessen Sunna aussah, aber daran wurde gearbeitet: im Lauf des Jahrhunderts wurden die Schriftgelehrten (‘ulamā’) immer mehr und die Anzahl der Überlieferungen „des Propheten“ (Hadithe) wuchs noch schneller, bis es eine prophetische Alternative gab für die Sunnas der Kalifen. Nach 750 spielten die ersten Abbasidenkalifen noch einige Zeit weiter Gott-König, aber ca. 850 mussten sie sich ergeben. Gegen die Sunna des Propheten, wie fiktiv auch immer, konnten sie nicht ankämpfen; die inzwischen überall vordringenden Schriftgelehrten übernahmen die geistliche Macht. Seitdem gibt es durchaus eine Trennung zwischen weltlicher und geistlicher Macht.
Außer bei den Schiiten, aber die hatten meistens gar keinen Staat, so dass man es nicht so merkte.

„Märtyrer bekommen im Paradies zweiundsiebzig Jungfrauen.“
Ach! Es gibt nur einen seltenen Hadith, in dem das beiläufig erwähnt wird. Etwas fester in der islamischen Tradition verankert ist dieser Hadith:
„Das Erdreich ist noch nicht trocken vom Blut eines Märtyrers, da kommen schon seine beiden Gattinnen herbeigeeilt, wie Kamelstuten, die ihre Jungen in einem weiten Land verloren haben…“
Hier werden nur zwei Frauen erwähnt, deren Verlangen nach den Märtyrern mit dem Mutterinstinkt (!) von Kamelstuten verglichen wird. Noch häufiger sind Texte wie diese:
Der Prophet hat gesagt: „Als eure Brüder in Uhud gefallen waren, tat Gott ihre Seelen in das Innere grüner Vögel, die aus den Flüssen des Paradieses trinken, von seinen Früchten essen und nisten in goldenen Lampen im Schatten von Gottes Thron…“
Diesem Text zufolge ist ihr Aufenthaltsort also sehr nahe bei Gott, aber Jungfrauen gibt es an dem Ort wohl nicht. In ihrem Zustand würden sie mit denen auch nichts anzufangen wissen.

„Der Islam ist gegen Schwule.“
Wer der Islam ist, weiß ich noch immer nicht. In Büchern islamischer Rechtsgelehrter werden auf jeden Fall homosexuelle Handlungen scharf verurteilt. Handlungen, wohlgemerkt. Homosexualität als Krankheit bzw. Orientierung sind europäische Einfälle aus dem neunzehnten und zwanzigsten Jahrhundert.
Im wirklichen Leben dagegen gab es in der islamischen Welt eine für Europäer unglaubliche Toleranz. Bis in die höchsten Kreise, bis an den Hof des Kalifen. Die strengen Bücher ließ man einfach geschlossen. Die umfangreiche arabische Liebespoesie handelte überwiegend von Männerliebe. Frauen gab es für die Ehe und die Fortpflanzung, tiefe Gefühle hatte man für Männer, Sex auch mit Jungen.
Im neunzehnten Jahrhundert änderte sich das, als man anfing den Westen zu imitieren. Das viktorianische England lehnte Homosexualität rigoros ab. Wo möglich setzten britische Behörden strenge Gesetze in Kraft, aber auch wo das nicht geschah, schlug die Haltung in Ablehnung um. Nach der Kolonialzeit fing man in den unabhängig gewordenen Staaten an die eigenen alten juristischen Texte wortwörtlich zu nehmen und sogar anzuwenden; Unzweideutigkeit war ja modern. Das führte fortan auch im islamischen Kulturkreis zu harten Strafen für Verhaltensweisen, die vor der Moderne jeder dort hingenommen hätte.
Es war einfach Pech für die islamische Welt, wie auch für Indien, China und Afrika, dass ausgerechnet das sexuell ungeschickte England und Europa den Ton angaben. Das hat tiefe Spuren hinterlassen.

Zurück zum Inhalt

Wie leicht wird man Scharia-Regeln los?

🇳🇱 In islamischen Umgebungen gab es von alters her relativ wenige Abbildungen von Menschen oder Tieren, und Standbilder noch weniger. Es gibt nämlich eine Anzahl Hadithe, in denen das Anfertigen solcher Bilder verboten oder zumindest die potentiellen Produzenten stark entmutigt werden. Seit dem Vordringen der Fotografie im Nahen Osten, also ab ca. 1860, wollte jeder fotografiert werden und das Verbot kippte. Fotos seien ja nichts anderes als Spiegelbilder, kopfüber projiziert auf der Rückseite eines Kästchens, so dachte man auf einmal darüber, und auch Standbilder könnten nicht schaden, so lange sie nur nicht angebetet würden. Und welcher Zeitgenosse würde das wollen, außer den komischen Christen mit ihren Ikonen und Heiligenbildern?
.
Nur noch Reste des Verbots sind übrig geblieben: keine Abbildungen des Propheten oder dessen Gefährten, keine Fotos an Orten, an denen das Gebet verrichtet wird.
.
Heutzutage gibt es im Nahen Osten eine Kunstszene genau wie bei uns mit allem was dazu gehört: Maler und Bildhauer, Grafiker, Fotografen, Museen, Galerien, Ausstellungen, Auktionen und kunsthistorische Ausbildungen, Graffiti und Installationen. Anfangs brachte diese Kunst nicht viel Bedeutendes hervor, aber neuerdings hat sie gehörig an Qualität aufgeholt.
.
Die Verführungen von Film und Fernsehen waren natürlich auch unwiderstehlich. Muftis erklärten das alles bei näherer Betrachtung für erlaubt. Die ersten Kinos datieren bereits von ca. 1900 und heutzutage sind die Schüssel auf den Dächern nicht mehr wegzudenken.
.
Nur in ganz strengen Umgebungen, wie bei den Wahhabiten und ihrem bewaffneten Arm Daesh („Islamischer Staat“), bei den Taliban und in traurigen Gebieten in Ost-Afrika werden die vermeintlichen(?) Gebote noch zum Großteil befolgt. Obwohl man natürlich nie weiß, ob dort nicht vielleicht doch nach dem Abendgebet blonde Mädels auf westlichen Pornoseiten angeschaut werden. Auch diese Verführung ist für viele unwiderstehlich.
.
Aber auch in Saudi-Arabien kippen manchmal die Regeln. Es war im Königreich zum Beispiel verboten, in der Öffentlichkeit Fotos zu machen. Als die Regierung 2006 beschloss, den Tourismus zu fördern, verschwand auch dieser Verbot ohne viel Aufhebens ( → Naef, Bilder 121–2).
.
In Saudi-Arabien müssen reisende Frauen von männlichen Verwandten begleitet werden. Aber Flugbegleiterinnen müssen das nicht, wohl aus praktischen Gründen. Ein ganz frommer Mann, der das anstößig fand und lauthals protestierte, wurde aus einem Flugzeug entfernt und abgeführt. Ein königsnaher Mufti erklärte danach, dass die Begleiterinnen im Flugzeug nicht begleitet werden müssten, aber durchaus am Flughafen von männlichen Verwandten abgeholt werden sollten. Dazu hier.
.
Iran produzierte von alters her beträchtliche Mengen Kaviar, die dem Land Millionen einbrachten. Der schiitischen Jurisprudenz zufolge war der Stör aber ḥarām, weil er keine Schuppen hat. Der Handel damit war demzufolge auch verboten, aber es wurden immer Wege gefunden, das Verbot zu umgehen. Im zweiten Jahr nach der islamischen Revolution wurden die Regeln verschärft und daher kam der Handel mit diesem im dekadenten Westen so begehrten Produkt zum Erliegen. Das führte aber zu finanziellen Einbußen. Schriftgelehrte und Biologen wurden konsultiert und siehe da: man entdeckte doch etwas Schuppenähnliches am Unterleib des Störs, der deshalb bei näherer Betrachtung durchaus erlaubt schien. Im vierten Jahr nach der Revolution, 1983, fand Khomeini persönlich die Zeit eine Fatwa abzufassen, die den Stör und seinen Kaviar für erlaubt erklärte. Wenn Sie Lust haben auf eine komplizierte, talmudisch anmutende Diskussion über die Zulässigkeit von Fischen mit oder ohne Schuppen, lesen Sie → Chihabi. Aber wir verstehen auch so, dass es vor allem die vielen zu verdienenden Dollars waren, die den Stör ḥalāl machten.
.
Kurzum: Wenn Muslimen danach ist, eine Scharia-Regel abzuschaffen, gelingt ihnen das schon; oft sogar in ziemlich unkomplizierter Weise.

BIBLIOGRAFIE:
– H.E. Chihabi, „How Caviar Turned Out to Be Halal,“ in Gastronomica, The Journal of Critical Food Studies, 7:2. Online hier.
– Sylvia Naef, Bilder und Bilderverbot im Islam, München 2007, oder das französische Original: Y a-t-il une «question de l’image» en Islam?, Paris 2004.

Zurück zum Inhalt

Wikipedia — Bamberger Islam-Enzyklopädie

Die Wikipedia ist im Allgemeinen nicht als wissenschaftliches Nachschlagewerk zu betrachten. Bei islamischen Themen gibt es große Qualitätsunterschiede. Manche Artikel sind hervorragend, andere sind unwissenschaftlich, sektiererisch oder missionierend.

Nun hat Prof. Patrick Franke in Bamberg eine Initiative namens Bamberger Islam-Enzyklopädie gestartet. Es geht ihm darum „ein neues umfassendes islambezogenes Nachschlagewerk in deutscher Sprache aufzubauen, das einerseits die Qualitätskriterien einer Fachenzyklopädie erfüllt, andererseits aber in die populäre Online-Enzyklopädie Wikipedia integriert ist und die einzigartigen technischen Möglichkeiten dieses Mediums nutzt.“

Zum Auftakt hat er seine eigenen Wikipedia-Artikel darin untergebracht, zweihundert an der Zahl. Er hofft, dass viele Fachkollegen ihm in dieser Initiative folgen werden.

Diese Islam-Enzyklopädie empfehle ich Ihnen sehr gerne. Sie finden dort also Wikipedia-Artikel, deren wissenschaftlicher Standard garantiert ist.

Dem neuen Projekt wünsche ich ein gutes Gelingen.

Zurück zum Inhalt

Was suchen Sie im Islam?

Diese als Blog vorprogrammierte Webseite bietet mir die Möglichkeit die Suchbegriffe zu sehen, durch welche die Leser hier landen. Dabei fällt auf, dass viele Menschen etwas „im Islam“ suchen. Im Islam, wo immer das auch sein mag, ist alles offensichtlich ganz anders als anderswo. Vor allen Haustiere sind das, denn die werden bei mir weitaus am meisten gesucht. An erster Stelle kamen die „Katzen im Islam“ und halb so oft die Hunde. Manchmal speziell „schwarze Hunde“—dazu gibt es tatsächlich einen Hadith.

Es ist bekannt, dass es Hunden und vor allem Katzen Wurst ist, ob sie „im Islam“ sind oder außerhalb—aber den Herrchen und Frauchen offensichtlich nicht. Einige Male wurde die Frage zugespitzt: sind sie erlaubt oder verboten? Einige Male wurde auch nach der Bedeutung der Katze bzw. des Hundes im Islam gesucht. Was damit gemeint ist, verstehe ich nicht.
Viel weniger häufig war die Suche nach „Schlangen im Islam“.

Sehr populär waren auch „Martyrer im Islam“ und „das Grab im Islam“, bzw. die „Bestrafung” oder „Befragung im Grab”.

Weniger oft wurde „Paradies” und/oder „Hölle im Islam” gesucht, noch seltener „platonische Liebe im Islam” und „Lachen im Islam”. Und weiter gar nichts. Niemand hat „die Frau im Islam“ gesucht. Vor dreißig Jahren wollte jede dritte Studentin dazu eine Hausarbeit schreiben, aber das Interesse an dem Thema hat sich offenbar erschöpft.

Viel seltener als „im Islam“ wurde etwas „im Koran“ gesucht. Die Suchbegriffe geordnet nach Häufigkeit: „Märtyrer“; die *„Jungfrauen für die Märtyrer“; „Ungläubige“; „Beschreibung Paradies und Hölle“; „das Gebet“, *„Katzen“; „das Grab und die *Bestrafung darin“; *„Haut abziehen“. Aber alles nur wenige Male. Die Themen mit Sternchen hat man übrigens vergebens gesucht; die stehen nicht im Koran.

Als lustigsten Suchbegriff überhaupt empfand ich „burka + hund“. Ich kann mir durchaus einen Mops mit Burka vorstellen, aber „im Islam“ ist der nicht vorgesehen.

Zurück zum Inhalt