Die Koptin Mariya

Die Koptin Māriya war laut Überlieferung eine Sklavin, die der Muqauqis, ein Herrscher im christlichen Ägypten, 629 zusammen mit ihrer Schwester Sīrīn dem Propheten Mohammed schenkte. Die „Geschenksendung“ enthielt des Weiteren Gold und Textilien, die Mauleselstute Duldul und einen Esel namens ‘Ufair oder Ya‘fūr.1 Māriya wurde die Mutter Ibrāhīms, ein Sohn des Propheten Mohammed. Ibrāhīm starb, noch bevor seine Stillzeit zu Ende war.

Aber diese koptische Sklavin war keine historische Figur und demnach auch ihr Sohn nicht. An mindestens drei Stellen taucht ein christliches Frauengespann Māriya-Schirin auf; aber nicht in Ägypten, sondern in Persien:
1. In der Chuzestan Chronik, abgefasst um etwa 660 von einem syrisch-aramäischen Christen aus dem südpersischen Ḫūzistān, heißt es:

  • Īshō‘yahb wurde respektvoll behandelt von dem König [Khosrau] selbst und von seinen beiden christlichen Frauen Šīrīn der Aramäerin und Maria der Römerin.2

2. In der Chronik von Siirt (10. Jh.) ist das 18. Kapitel dem persischen Herrscher Khosrau II. Parwīz (reg. 590–628) gewidmet. Dort lesen wir:

  • […] aus Dankbarkeit Mauricius gegenüber befahl Khosrau, Kirchen wiederaufzubauen und die Christen in Ehren zu halten. Er baute selbst zwei Kirchen für Maria (Maryam) und eine große Kirche und eine Burg im Land von Beth Laschpar für seine Frau Schirin (Shīrīn) die Aramäerin.3

3. Nach einem Bericht bei dem Chronisten at-Tabarī soll der römische Kaiser Mauricius (reg. 582–602) seinem persischen Amtskollegen Khosrau II. „eine geliebte Tochter von ihm, die Maryam (Maria) hieß,“ zur Frau gegeben haben.4 Dass dieser bereits eine christliche Frau namens Schirin hatte, ist aus der Literatur mehrfach bekannt.

Mit dieser Maria scheint also eine christliche Römerin gemeint zu sein, die es nach Persien verschlug. Sie zusammen mit Schirin nach Ägypten und von dort wiederum nach Medina  zu verschleppen ist eine Freiheit, die sich der islamische Erzähler genommen hat. Auch bei ihm wird eine Maria von einer hochherrschaftlichen Person an eine andere, nämlich Mohammed, „verschenkt“.  Der Name Schirin ist übrigens in Persien, nicht in Ägypten zu Hause. 

Wenngleich nichtexistent, hat Māriya ihre Spuren in Texten hinterlassen, die als Quellen für die Scharia dienen sollten, und das gleich mehrfach. Der Prophet nahm sie an und zeigte so, dass man ein Geschenk von Christen akzeptieren darf. Er hatte erlaubten Sex mit ihr als Sklavin. Ihre Schwester Schirin reichte er dagegen weiter; man darf ja nicht mit zwei Schwestern zur selben Zeit verkehren. Und indem Māriya Mohammed einen Sohn gebar, wurde sie ein Beispiel für eine umm walad. Der frühe Tod ihres Sohnes bot dem Propheten Gelegenheit, ein Vorbild für gemäßigte Trauerbräuche zu stellen.
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Geschenke
Laut Überlieferung empfing Mohammed Geschenke von christlichen Herrschern: vom Negus von Abyssinien, vom Muqauqis von Alexandrien, vom römischen Kaiser, aber auch von Dihya al-Kalbī, einem Muslim, der des öfteren in diplomatischer Mission im Römerreich unterwegs gewesen sein soll. In den Texten wird die folgende Formel verwendet: ahdā fulān lin-nabī, „XY schenkte dem Propheten“ oder passiv: uhdiya lin-nabī, „dem Propheten wurde … geschenkt“. Warum wird uns von diesen Geschenken erzählt? Die Berichte wollen erst mal zeigen, dass Mohammed derart auf Augenhöhe mit den Herrschern der Welt verkehrte, dass sie ihm Geschenke sandten.5
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Christliche Herkunft
Offensichtlich durfte man Geschenke von Christen annehmen, denn der Prophet hatte das auch getan. Aber durfte man sie auch verwenden? Geschenkt wurde dem Propheten laut Hadithen u.a. Folgendes: Schuhe, ein Siegelring, Sklavinnen, Reittiere, Textilien und ein schicker Pelzmantel. Der Prophet nahm das meiste problemlos in Gebrauch; somit war dies auch den Muslimen erlaubt. Nur wenn ein Geschenk zu extravagant war oder anderweitig den späteren islamischen Regeln nicht entsprach, kommentierte der Prophet es abwertend, reichte es weiter oder ließ es umfunktionieren oder zerschneiden. Der Pelzmantel mit Brokat aus Konstantinopel war für den Gebrauch entschieden zu extravagant; das Prachtstück wurde in geschickter Weise dem Negus von Abyssinien weiter verschenkt.6 Gewänder aus Seidenbrokat wurden verpönt: die Servietten im Paradies seien noch besser als diese.7 Sie  konnten zerrissen werden und als Kopftuch8 oder als Unterhemd wieder verwendet werden.9 Koptische Textilien mit Abbildungen von Lebewesen konnten zu Sitzkissen verarbeitet werden – so dass mit dem Allerwertesten Verachtung für die Abbildungen ausgedruckt werden konnte.10 Aber ein Paar einfache schwarze11 Schuhe zog der Prophet an und er zeigte zur gleichen Zeit, dass das obligatorische Waschen der Füße für die rituelle Waschung auch über die geschlossenen Schuhe erfolgen konnte.12 Christliche Sklavinnen anzunehmen oder zu besitzen und für sich arbeiten zu lassen war offenbar völlig unproblematisch.
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Die Sklavin
Manche modernen Muslime schämen sich rückwirkend der Sklaverei und reden von Māriya als hätte Mohammed sie geheiratet. Aber bis auf eine oder zwei Ausnahmen sagen alle alten Quellen, sie sei eine Sklavin gewesen. Wie hätte man sie und ihre Schwester auch sonst verschenken können? Māriya kommt in den Listen der Prophetengattinen nicht vor — dafür aber in einer Liste von Mohammeds Konkubinen.13 Sie soll nicht bei den anderen Frauen gewohnt haben und sie erhielt nicht später den Titel „Mutter der Gläubigen“ wie die Gattinnen.
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Sex mit Sklavinnen
In der Antike war es selbstverständlich, dass ein Mann mit seinen Sklavinnen Sex haben konnte. Auch im Koran wird das als normal betrachtet: der Ausdruck für Sklavin ist: „was deine/eure rechte Hand besitzt“. Nach islamischem Recht darf ein Muslim vier Ehefrauen haben, wenn er sie unterhalten kann. Darüber hinaus darf er mit einer unbeschränkten Menge Sklavinnen (Nebenfrauen, arab. surrīya, Pl. sarārī) sexuellen Umgang haben – wenn er sie bezahlen kann.14 Auch beim Verkehr mit Sklavinnen sollte Mohammed das Vorbild abgegeben haben, und hier war Māriya als Beispiel einsetzbar. Die bloße Annahme einer wertvollen Sklavin als Geschenk aus dem Ausland setzt eigentlich schon Geschlechtsverkehr voraus. Zum Melken, Sammeln von Holz und Putzen waren bestimmt genügend andere vorhanden.
Die Juristen spürten aber das Bedürfnis, den Verkehr des Propheten mit einer Sklavin zu thematisieren, und das geschah u.a. in einer Anlass zur Offenbarung-Erzählung zum Koranvers 66:1:

  • […] Zaid ibn Aslam erzählte mir, dass der Prophet Sex hatte mit [Māriya,] der Mutter von Ibrāhīm in der Wohnung einer seiner Frauen.
    Dann sagte diese: „Was, Prophet! In meiner Wohnung und auf meinem Bett?“
    Darauf erklärte er [Māriya] für sich verboten [ḥarām]. Sie sagte: „Wie kannst Du für dich verboten erklären, was erlaubt ist?“
    Aber er schwor bei Gott, dass er keinen Sex mehr mit ihr haben würde.
    Darauf offenbarte Gott: Prophet! Warum erklärst du denn im Bestreben, deine Gattinnen zufriedenzustellen, für verboten, was Gott dir erlaubt hat?
    Zaid sagte noch: „Du bist für mich verboten“ sind [also] leere Worte“.15

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Wenn die Sklavin ein Kind bekommt
Nach islamischem Recht wird eine umm walad — eine Sklavin, die ihrem Herrn ein Kind gebärt — nach dessen Tod frei, wie eine dem Kalifen ‘Umar zugeschriebene Aussage bezeugt:

  • „Ihr Kind hat sie [eine umm walad] in Freiheit gesetzt – selbst wenn sie eine Fehlgeburt hatte.“ 16

wie auch dieser Hadith des Propheten:

  • Der Prophet sagte über eine umm walad: „Ihr Kind hat sie in Freiheit gesetzt. Ihre Wartezeit beträgt so viel wie die Wartezeit einer freien Frau.“ 17

Etwas später wurde Māriya zur Konkretisierung eingesetzt:

  • […] von Ibn ‘Abbās: In Gegenwart des Propheten wurde von der Mutter Ibrāhīms geredet. Dann sagte er: „Ihr Sohn hat sie in Freiheit gesetzt.” 18

In der islamischen Rechtspraxis wurde die Sklavin mit Kind erst  beim Ableben ihres Herrn frei; im Hadith hört es sich dagegen so an, als würde die Freilassung noch zu Lebzeiten ihres Herrn (wenn auch ggf. nach einer Wartezeit) wirksam. Das wurde ein Diskussionsthema, das hier aber nicht besprochen werden muss.
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Kein Sex mit zwei Schwestern
Māriya und ihre Schwester Sīrīn dienten als Präzedenzfall für die Regel, dass man nicht mit zwei Schwestern in derselben Zeitspanne Sex haben darf. Der Prophet soll die schöne Māriya  zur Konkubine genommen haben (tasarrā bihā), während er Sīrīn an Hassān ibn Thābit weiter verschenkte: eine normale Vorgehensweise mit unpassenden Geschenken (s. oben). Diese soll dem Ḥassān seinen Sohn ‘Abd al-Rahmān geboren haben.19
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Normen für Trauer
Durch den Tod von Māriyas Sohn Ibrāhīm konnten gewisse Trauersitten zu sunna des Propheten werden. Über Ibrāhīm steht hier bereits ein separater Artikel.

Sie werden es schon bemerkt haben: Die Interessen der Juristen dominieren die Texte, nicht das Biographische und Historische. Māriya verdankt ihre literarische Existenz und ihren Sklavenstatus der Tatsache, dass sie als Präzedenzfall bei Scharia-Fragen so brauchbar war. Natürlich gibt es auch Menschen, die genau den Wohnort der Māriya, ihr Todesdatum, das ihres Sohnes und die genaue Lage seines Grabes kennen. Sogar das Original von dem Brief des Propheten an den Muqauqis ist bewahrt geblieben; alles für diejenigen, die an solche Dingen glauben.

Auch veröffentlicht in zenith, Mai/Juni 2013, S. 110–111 und in zenith online.

BIBLIOGRAPHIE
– Kaj Öhrnberg, „Māriya al-qibtiyya unveiled,“ Studia Orientalia (Helsinki) 14 (1984), 297–303.
– N.N., „Maria al-Qibtiyya,“ in der deutschen Wikipedia. Ein gut informierter Artikel, der aber im Glauben an der Historizität  gefangen bleibt.
– F. Buhl, „Māriya,“ in EI2. Idem.

ANMERKUNGEN
1. Ibn Sa‘d, At-Tabaqāt al-kubrā, hg. Iḥsān ‘Abbās, Beirut o.J., viii, 212. بعث المقوقس صاحب الاسكندرية الى رسول الله ص في سنة سبع من الهجرة بمارية وبأختها سيرين وألف مثقال ذهبًا وعشرين ثوبًا لينًا وبغلته الدلدل وحماره عفير ويقال يعقور […]. Der Muqauqis ist ein Fantasieherrscher aus Ägypten. In Wirklichkeit war das Land damals ein Teil des Römerreichs. Zu den Tieren s. H. Eisenstein, „Die Maultiere und Esel des Propheten,“ Der Islam, 62 (1985), 98–131. Von Duldul gibt es sogar etwas wie eine Biographie. Eisenstein scheint zu meinen, dass es die Tiere wirklich gegeben hätte.
2. „Die von Guidi herausgegebene syrische Chronik, übersetzt und commentiert von Prof. Dr. Th. Nöldeke,“ in Sitzungsberichte der kaiserlichen Akademie der Wissenschaften, phil.-hist. Kl. 128, 9, Wien 1893, S. 1–48; hier S. 10; Sebastian P. Brock, „Guidi’s Chronicle,“ in Encyclopaedia Iranica, online hier; Robert G. Hoyland, Seeing Islam as Others Saw it. A Survey and Evaluation of Christian, Jewish and Zoroastrian Writings on Early Islam, Princeton 1997, S. 182–89.
3. Histoire nestorienneChronique de Séert, II, 1, hg. & übers. Addai Scher, Paris 1911, Nachdr. 1950@check@, S. 467. (Patrologia Orientalis, vii, 2; Robert Hoyland, o.c., S. 443–6. Ist in diesem Text mit Maria nicht einfach die Mutter Gottes gemeint?
4. At-Tabarī, Ta’rīkh i, 994, 999: وزوّجه ابنة له كانت عزيزة عليه يقال لها مريم ; Kaj Öhrnberg, „Māriya al-qibtiyya unveiled,“ Studia orientalia (Helsinki), xi/14 (1984), 297–303, insbes. S. 298. S. auch C. Cannuyer, „Māriya, la concubine copte de Muḥammad, réalité ou mythe?“ in Acta Orientalia Belgica 21 (2008), 251–64.
5. Der Prophet soll ihnen seinerseits Briefe gesandt haben, in denen er sie zum Islam aufrief.
6. Abū Dāwūd, Libās 8.
7. Ahmad ibn Hanbal, Musnad iii, 229; vgl. Ibn Ishāq: Das Leben Muhammed’s nach Muhammed Ibn Ishâk bearbeitet von Abd el-Malik Ibn Hischâm, hg. F. Wüstenfeld, Göttingen 1858–60, S. 903.
8. Muslim, Libās 18; Abū Dāwūd, Libās 8.
9. Abū Dāwūd, Libās 35.
10. Bukhārī, Libās 91. […] وعن عائشة ر قالت: قدم رسول الله ص من سفر وقد سترت بقرام لي على سهوة لي فيه تماثيل فلما رآه رسول الله ص هتكه وقال: أشد الناس عذابًا يوم القيامة الذين يضاهئون بخلق الله. قالت فجعلناه وسادة أو وسادتين.
11. Rote Schuhe z.B. wären extravagant gewesen; Lane, Arabic Lexicon 770.
12. Koran 5:6; Ibn Abī Shaiba, Musannaf 1, 117; Abū Dāwūd, Tahāra 60, Tirmidhī, Adab 55, Ibn Mādja, Ṭahāra 84, Aḥmad ibn Ḥanbal, Musnad v, 352. Das Waschen bzw. Wischen der Füße/Schuhe (al-mash ‘alā al-ḫuffain) ist Gegenstand unglaublich ausführlicher Diskussionen gewesen, s. R. Strothmann, Der Kultus der Zaiditen, Straßburg 1912, 21–46; cf. Ch. Pellat, „Al-Mash ‘alā ’l-khuffayn,“ in EI2 und J. Schacht, The Origins of Muhammadan Jurisprudence, Oxford 1950, S. 263f.; Wim Raven, „Some early Islamic Texts on the Negus of Abyssinia,“ JSS 33 (1988), S. 197–218. Online hier.
13. At-Tabarī, Taʾrīkh i, 1778. Bei der Erwähnung ihres Todes nennt at-Tabarī (Taʾrīkh i, 2480) sie eine umm walad.
14. Heutzutage ist die Sklaverei zwar abgeschafft, aber streng-islamisch betrachtet kann sie nicht abgeschafft werden, weil sie in Koran und Hadith als selbstverständlich gilt. In Ländern, die sie erst spät abgeschafft haben (u.a. Saudi-Arabien 1962, Emiraten 1963, Mauretanien einige Male, letztlich 2007) existiert sie oft in der Praxis weiter.
15. حدثني محمد بن عبد الرحيم البرقي، قال: ثني ابن أبي مريم، قال: ثنا أبو غسان، قال: ثني زيد بن أسلم أن رسول الله ص أصاب أمَّ إبراهيم في بيت بعض نسائه قال: فقالت: أي رسول الله في بيتي وعلى فراشي؟، فجعلها عليه حراماً فقالت: يا رسول الله كيف تحرّم عليك الحلال؟، فحلف لها بالله لا يصيبها، فأنزل الله عزّ وجلّ: { يا أيُّها النَّبِيُّ لِمَ تُحَرّمُ ما أحَلَّ اللَّهُ لَكَ تَبْتَغِي مَرْضَاةَ أزْوَاجِكَ } قال: زيد: فقوله أنت عليّ حرام لغو.
Diese Version ist aus at-Tabarī, Tafsīr zu Koran 66:1, hier in der Übersetzung von Paret. Es gibt mehrere, auch ausführlichere Fassungen der Erzählung, mit oder ohne namentlicher Erwähnung der Māriya. Die peinlich überraschte Frau des Propheten soll Ḥafṣa bint ʿUmar gewesen sein.
16. Ibn Abī Shaiba (gest. 849), Musannaf, xi, 184/21894.@check@
17. ‘Abd ar-Razzāq as-San‘ānī (gest. 826),Muṣannaf, vii, 12937: عبد الرزاق عن الن عيينة عن أبي أنعم عن راشد بن الحارث عن ابن المسيّب أن النبي ص قال في أم الولد: أعتقها ولدها، فتعتدّ عدة الحرة.
18. Ibn Mādja (gest. 887), ʿItq, 2:‎ ‎حدثنا أحمد بن يوسف حدثنا أبو عاصم حدثنا أبو بكر يعني النهشلي عن الحسين بن عبد الله عن عكرمة عن ابن عباس قال: ذكرت أم إبراهيم عند رسول الله ص فقال: أعتقها ولدها.
19. At-Tabarī, Taʾrīkh i, 1528, 1591, 1781.

Diakritische Zeichen: Īšōʿyahb, Šīrīn, aṭ-Ṭabarī, Taʾrīḫ, Diḥya, Ḥassān ibn Ṯābit, ʿAbd al-Rahmān, al-qibṭiyya, aṭ-Ṭabaqāt, Aḥmad ibn Ḥanbal, Ibn Isḥāq, Buḫārī, Ibn Abī Šaiba, Muṣannaf, Ṭahāra, Tirmiḏī, Ibn Māǧa, al-masḥ ʿalā al-ḫuffain, aṣ-Ṣanʿānī

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Fatwa (Kurzdefinition)

Eine Fatwa (fatwā, Pl. fatāwā فتوى، فتاوى) ist im sunnitischen Islam ein nicht verbindliches, gelehrtes Gutachten auf dem Gebiet der Scharia. Eine Fatwa wird von einem Mufti (muftī) abgegeben auf Verlangen von Richtern, Privatpersonen und manchmal auch von Behörden. Scharia ist islamisches Recht, aber auch mehr als Recht: das verlangte Gutachten kann deshalb auch auf dem Gebiet der Ethik, der guten Sitten und der Glaubenslehre liegen.

Wer sich nicht persönlich an einen Mufti (der jeweils erwünschten Rechtsschule) wenden mag, kann auch Fatwa-Sammlungen von bekannten Schariagelehrten aus früher oder neuerer Zeit lesen, oder sich eine Fatwa über Internet einholen, siehe z.B. das Portal www.cyberfatwa.de.

Seit der Rushdie-Affäre (1989) ist das Wort Fatwa auch in Deutschland verbreitet, wird aber oft falsch verstanden. In der Phrase: „eine Fatwa über jemanden verhängen“ hört es sich fast an wie ein Todesurteil. Aber ein Gerichtsurteil ist es nicht, geschweige denn ein Todesurteil. Eine Fatwa, in der jemands Blut für erlaubt erklärt wird, kann einen Scharia-Richter dazu bringen ein Todesurteil zu verhängen. Aber er kann die Fatwa auch ignorieren oder ergänzend andere einholen. Und wo gibt es überhaupt Scharia-Richter? Sunnitisches Strafrecht mitsamt Todesstrafe kommt nur in einigen wenigen Ländern vor, von denen Saudi-Arabien das wichtigste ist.

Kurzdefinitionen: Anlässe der Offenbarung, Dhimmi, Hadith, Isnad, Isra’iliyat, Kalif, Koranauslegung, Muslim, Naskh, Prophetenerzählungen, Sabab an-nuzul, Scharia, Sira, Sunna, Tafsir, Taqiya,

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Der Mufti und die Wissenschaft

Islamische Rechtsgelehrte finden das islamische Recht in der Jurisprudenz, und wenn sie tiefer graben, leiten sie es aus dem Koran und dem Hadith des Propheten ab. Das ist ihr Job. Manche halten es darüber hinaus für nötig die Zielsetzungen der Scharia und die Gründe hinter den Rechtsregeln zu erforschen. Anders gesagt: sie wollen beweisen, dass Gott recht hatte, als er das eine oder andere Gebot oder Verbot verkündete. Dann hört man zum Beispiel, dass Schweinefleisch verboten sei, weil es Krankheitserreger enthalte, und Alkohol weil es Fehlverhalten verursache. 
Als ob Gott solche Hilfe brauchte; als ob Gottes Gründe die Menschen etwas angingen! Wer an Gott glaubt, hat doch an seinem Wort genug, oder etwa nicht? Richtig lächerlich werden diese Gelehrten, wenn sie sich bei ihrer Argumentation der Wissenschaft bedienen. Sie haben natürlich keine Ahnung, was das ist, denn sie haben nicht mal Abitur, geschweige denn eine wissenschaftliche Ausbildung. Aber ihr Publikum lacht sie nicht aus, denn das ist noch schlechter ausgebildet. So las ich in Erlaubtes und Verbotenes im Islam, ein Jugendwerk des berühmten Medienmuftis Yūsuf (Jusuf) al-Qaradāwī aus Qatar, eine „wissenschaftliche“ Untermauerung des islamischen Hundeverbots (ja, Hunde sind nach einigen Hadithen verpönt, außer Wach- und Jagdhunden). Als eine der Begründungen dieses Verbots führt er den „neuerdings entdeckten“ Hundebandwurm an. Durch Kontakt damit können beim Menschen entsetzliche Abszesse und unheilbare Entzündungen entstehen. Dann fährt er fort:

  • Professor Noeller hat durch post-mortem Untersuchungen an menschlichen Leichen in Deutschland festgestellt, dass die Rate der Infektion mit Hundewürmern mindestens ein Prozent beträgt. In manchen Gegenden wie Dalmatien, Island, Südost-Australien und Holland, wo Hunde als Zugtiere benutzt werden, ist die Rate bei Hunden 12 Prozent. In Island hat man gefunden, dass unter 43 Personen eine Person an Entzündungen durch diesen Wurm leidet. Rechnen wir hierzu noch das menschliche Leid, den Fleischverlust durch infiziertes Vieh und die dauernde Gefährdung der menschlichen Gesundheit durch diese Bandwürmer, dann können wir diesem Problem nicht weiter selbstgefällig gegenüber stehen.  (Übers. Ahmad von Denffer)

Dieser Fall ist leider kein Einzelfall; die „Wissenschaft,“ die von solchen Herren zitiert wird, sieht meistens so aus. Wer, was, wann, wo genau? Das wird nie erwähnt. Stark veraltetes Zeug (der Hund wird in Europa seit ca. 1940 nicht mehr als Zugtier benutzt); nie ein Quellennachweis; hirnrissige Aussagen, wobei nie auch nur ansatzweise versucht wird deren Richtigkeit nachzuprüfen. Schon deshalb sollte man Imame in Deutschland ausbilden. Ohne Abitur kein Theologiestudium. (In Iran ist das Niveau der Schriftgelehrten übrigens erheblich höher.)

Interessant ist noch, dass Qaradāwī in der deutschen Übersetzung Dr. Qaradawi heißt, offensichtlich ohne dass es eine akademische Promotion gegeben hat. Er ist genau so wenig Doktor wie Dr. Oetker, Dr. Best und Herr von und zu.

Diakritische Zeichen: Qaraḍāwī

Siehe auch Leichtgläubig          Zurück zum Inhalt

Scharia (Kurzdefinition)

  • „Das weite Verständnis der Scharia umfasst die Gesamtheit aller religiösen und rechtlichen Normen, Mechanismen zur Normfindung und Interpretationsvorschriften des Islam, also etwa der Vorschriften über Gebete, Fasten, das Verbot bestimmter Speisen und Getränke wie Schweinefleisch und Alkoholisches und die Pilgerfahrt nach Mekka ebenso wie Vertrags-, Familien- und Erbrecht.“  (→ Rohe, Scharia, S. 9)

Im islamischen Sprachgebrauch ist Scharia also: die Regeln und Verordnungen, die das Leben der Muslime bestimmen, zum Großteil abgeleitet aus Koran und Hadith.
Die Scharia ist umfassender als europäische Rechtssysteme: Auch Glaubenslehre, Ethik und gute Manieren sind darunter begriffen. Sie ist eine Pflichtenlehre, die die Beziehung zwischen Mensch und Gott und zum Teil auch zwischen Mensch und Mensch regelt.

  • Im alten Arabisch bedeutete sharī‘a: „a watering place; a place to which men come to drink therefrom and to draw water“. Oder: „gaps, or breaches, in the banks of rivers or the like by which men or beasts come to water“ (Lane, Arabic-English Lexicon). Diese Bedeutung ist für „Scharia“ im Sinne von islamischem Recht nicht relevant. Warum immer wieder gesagt wird: Sharī‘a bedeutet „Weg“ ist mir ein Rätsel. Sogar → Calder, Sharī‘a, fällt darauf rein. Das verwandte shir‘a kann „Anfang eines Wegs“ bedeuten. Die Übersetzung „Weg zur Tränke“ scheint mir ein Bequemlichkeitskompromiss, um sowohl den „Weg“ wie auch die „Tränke“ hereinzubekommen. Dabei denkt man sich dann bestimmt etwas Erbauliches.

Die heutige Bedeutung des Wortes sharī‘a ist erst spat gängig geworden. Im ganzen „kanonischen“ Hadith kommt es nur einmal in relevanter Bedeutung vor; im Koran gar nicht. Das bedeutet: Es war im Frühislam nicht sehr verbreitet. Um 900 war es mit Sicherheit in Gebrauch; inwieweit die Juristen des 9. Jahrhunderts es verwendeten wäre mal nachzuprüfen.
Die Übersetzung „Islamisches Gesetz“ ist falsch. Sie stammt wohl aus dem englischen Islamic law. Das englische law umfasst sowohl Recht als auch Gesetz. Aber die Scharia ist kein Gesetz. Die Übersetzung: „islamisches Recht” ist besser, aber auch nur dann richtig, wenn man gerade von Recht redet. Am besten lässt man das Wort unübersetzt, in der längst eingedeutschten Form: Scharia.

Die Scharia ist kein Gesetz, nicht kodifiziert und sicherlich kein Buch, das jemand für die Ewigkeit niedergeschrieben hätte. Nicht etwas Greifbares, sondern ein Abstraktum. Fragen wie: „Was sagt die Scharia zu …? Was steht in der Scharia? Wer hat die Scharia geschrieben?“ sind also sinnlos. Die Scharia sagt nichts, sondern muss immer wieder in den Rechtsquellen gefunden werden, d.h. in Koran, Hadith und Jurisprudenz. Sie ist also dem Wandel unterworfen, wenn auch Rechtsgelehrte sich oft mit dem begnügen, was ihre Kollegen vor Jahrhunderten schon gefunden hatten. Das muss aber nicht so sein. Die Frage, inwieweit man den Alten folgen muss (taqlīd) oder die früher bereits gelösten Rechtsfragen noch mal aufs Neue aufrollen kann (idjtihād), ist seit mehr als einem Jahrhundert das wichtigste Diskussionsthema in der ganzen islamischen Welt.

LESEN
– Mathias Rohe, Das islamische Recht. Geschichte und Gegenwart, München 20092.
– Norman Calder, „Sharīʿa“ in EI2.
– Joseph Schacht, An Introduction to Islamic Law, Oxford 1964.
– Said Ramadan, Das islamische Recht. Theorie und Praxis, Wiesbaden 1980.

Kurzdefinitionen: Anlässe der Offenbarung, DhimmiFatwa, Hadith, Isnad, Isra’iliyatKalif, Koranauslegung, Muslim, Naskh, ProphetenerzählungenSabab an-nuzulSiraSunnaTafsirTaqiya,

Diakritische Zeichen: šarīʿa, širʿa, iǧtihād

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