Geschlechter und Neigungen im vormodernen Nahen Osten – 2a

Weibliche Männer: die Effeminierten im alten Medina
Ein mukhannath, Plural mukhannathūn, war körperlich ein Mann, aber neigte zu weiblichem Verhalten. Aus natürlicher Neigung, manchmal aber auch aus Affektiertheit, weil die zum Beispiel zu einem Beruf passte. Das Wort kann mit „effeminiert“, oder „geschlechtslos“ übersetzt werden. Heutzutage wird es auch von einem Mann gesagt, der sich anal penetrieren lässt, aber das war bei dieser Gruppe im ersten Jahrhundert des Islams nicht unbedingt der Fall, wie ein Artikel von Everett → Rowson belegt.

Es ist klar, dass mukhannathūn im siebten Jahrhundert im Musikleben von Medina eine wichtige Rolle spielten. Sie waren professionelle männliche Musiker, die in Frauenkleidern auftraten und wegen ihrer Musik, aber auch wegen ihres Witzes und Charmes geschätzt wurden. Vielleicht waren sie die Nachfolger der Sklavinnen, die in vorislamischer Zeit gesungen und getanzt hatten, aber unter islamischen Bedingungen nicht länger erwünscht waren. Ihre Künstlernamen klingen meist feminin. Es ist auch bekannt, dass es ihnen erlaubt war, Frauen unverschleiert zu sehen und in den für Männer verschlossenen Frauenquartieren ein und auszugehen.

Rowson befasst sich zunächst mit den Hadith-Texten, in denen mukhannathūn  erwähnt werden, die mit dem Propheten in Kontakt kamen. Offenbar betrachtet er diese Texte als Quelle für das gesellschaftliche Leben im siebten Jahrhundert. Ich selbst tendiere eher dazu, sie zwischen 700 und 900 zu datieren, in der Annahme, dass sie Rechtsauffassungen dieser etwas späteren Zeit widerspiegeln. Wie auch immer, sie enthalten interessantes Material und ich werde sie gerne mal separat behandeln, aber das kann noch dauern.

In seinem Artikel findet sich jedoch genug aus historischen Quellen zu den mukhannathūn, die in den frühesten Zeiten vor allem in Medina blühten, bis Kalif Sulaimān (reg. 715-17) ihre Aktivitäten verbot. Eine Hauptquelle ist das →Kitāb al-aghānī von Abū al-Faradj al-Iṣfahānī, aus dem zehnten Jahrhundert, das viel Material zu Sängern und Dichtern der alten Zeit bietet; unter ihnen auch mukhannathūn, die ausführlich behandelt werden, insbesondere Dalāl und Ṭuwais. Letzterer lebte von 632-711 und war auch als Pechvogel bekannt. Er sang Kunstmusik und verfasste Gedichte in der leichteren Metra hazadj und ramal, leichte Lieder, bei denen er sich selbst auf einem duff, einer Art Tamburin, begleitete. Er war witzig und charmant und hatte eine scharfe Zunge. Er bildete auch jüngere Musiker aus. Ṭuwais wurde oft zu Partys der jungen Leute in Medina eingeladen, während die Älteren ihn und seinesgleichen eher verachteten.1

Es gibt eine Geschichte über eine Gruppe junger Männer, die bei einem Ausflug außerhalb der Stadt in ein Unwetter gerieten und beschlossen, bei Ṭuwais Unterschlupf zu suchen, der dort mit seiner Familie lebte. Einige der Teilnehmer, z.B. ‘Abdallāh ibn Ḥassān ibn Thābit, hatten Vorbehalte: Er stehe unter dem Zorn Gottes, er sei ein verachtenswerter mukhannath, mit dem man nicht verkehren sollte. Aber andere sagten: „Sag das nicht, er ist ein witziger, charmanter Mensch, der uns gute Gesellschaft leisten wird.“2 Als Ṭuwais hörte, was sie redeten, befahl er seiner Frau, eine Ziege zuzubereiten und bot ihnen ein köstliches Mahl an. Anschließend unterhielt er sie mit Gesang und Tanz. Als sie ein bestimmtes Lied lobten, sagte er: „Das ist ein Liebeslied, das die Schwester von Ḥassān ibn Thābit auf jemanden vom Stamm der Makhzūm gemacht hat.“ Diese Indiskretion war seine Rache an ‘Abdallāh ibn Ḥassān ibn Thābit, den er dadurch zutiefst beleidigte.

Eine atmosphärische Geschichte, die unmöglich historisch sein kann, erzählt über einen gewissen Djamīla, einen bekannten mukhannath-Sänger aus Medina, der mit einer ganzen Truppe von Dichtern und Musikern beiderlei Geschlechts nach Mekka pilgerte und dort von Kollegen empfangen wurde, unter ihnen der berühmte Dichter ‘Umar ibn abī Rabī‘a. Als Djamīla gebeten wurde, in Mekka ein Konzert zu organisieren, antwortete er, dass er nicht bereit sei, Ernst mit Frivolem zu vermischen. Die ganze Gesellschaft zog dann nach Medina, wo in seinem Haus ein dreitägiges Musikfestival stattfand. Der zweite Tag war ganz der Darbietung der acht namentlich genannten mukhannathūn gewidmet, die als Gruppe getrennt blieben.3 Ihr Auftritt wurde sehr geschätzt.4

Dalāl soll schön und charmant gewesen sein, aber sein Humor war derb und fast blasphemisch. So soll er beispielsweise während des Gebets gefurzt und dabei gesagt haben: „Ich lobe Dich von vorne und von hinten.“5 Und als ein Imam rezitierte: „Und warum sollte ich nicht Demjenigen dienen, Der mich erschaffen hat?“ (Koran 36:22) rief Dalāl aus: „Keine Ahnung!“ Das brachte die Leute so zum Lachen, dass es ihre Gebete ungültig machte.6 Dalāl war auch als Liebesbote und Heiratsvermittler bekannt.

Zwei mekkanische mukhannathūn, Ibn Suraidj und al-Gharīd, hatten ihre Laufbahn als Totenklager begonnen, eine Rolle, die traditionell von Frauen ausgeübt wurde. Ihre „leichten“ Lieder begleiteten sie mit der Laute, nicht mit dem Tamburin wie in Medina.7

Nur bei zwei frühen mukhannathūn konnte festgestellt werden, dass sie sexuell an anderen Männern interessiert waren: Dalāl und al-Gharīd. Einige waren verheiratet, andere hatten einfach kein Interesse an Frauen. Sofern sie „ohne Geschlechtstrieb“ (ghair ūlī al-irba, Koran 24:31) waren, durften sie Frauen unverhüllt sehen. Sie hatten also Zugang zu den Frauengemächern, überbrachten Nachrichten und fungierten manchmal als Kuppler. Und das war der Grund, warum Kalif Sulaimān ihre Tätigkeiten verbot und sie einem Bericht zufolge sogar kastrieren ließ. Nicht weil sie unerlaubten Sex hatten, dekadent waren oder sich „widernatürlich“ verhielten, sondern weil sie bei den Frauen ein- und ausgingen, mit Musik und unverschämtem Verhalten Unmoral in ihnen erweckten und zu viel ausplauderten..

Gehört zu: Geschlechter und Neigungen im vormodernen Nahen Osten –1: Die Mädchen-Jungs des 8. Jahrhunderts. Die bache posh in Afghanistan
Geschlechter und Neigungen – 2a: Die Effeminierten im alten Medina
Geschlechter und Neigungen – 2b: Die Effeminierten im Hadith des Propheten
Geschlechter und Neigungen – 2c: Die khanīth, weibliche Männer in Oman
Geschlechter und Neigungen im vormodernen Nahen Osten – 3

ANMERKUNGEN
1. Aghānī ii:165 (die­ ältere Ausgabe@)
2. Aghānī ii:167
3. Die einzigen Namen, unter denen sie bekannt sind, sind weiblich anmutende Künstlernamen: Hīt, Ṭuwaiys („kleine Pfau“), ad-Dalāl („Koketterie“), Bard al-Fu’ād („Herzenskühle“), Naumat al-Ḍuḥā („Morgenschläfchen“), Qand („Zuckerl“), Raḥma („Barmherzigkeit“) und Hibat Allāh („Geschenk Gottes“).
4. Aghānī vii:118ff.; 128–33
5. Aghanī iv:59, 62, 64
6. Aghanī iv:281. (Neu)
7. Aghanī i: 95–97

BIBLIOGRAFIE
– Abū al-Faradj al-Iṣfahānī, Kitāb al-aghānī, 24 Bde., Kairo 1927–74.
– Everett K. Rowson, „The effeminates of early Medina,“ JAOS 1991, 671–93.
– H.G. Farmer/E. Neubauer, „Ṭuways,“ in EI2.
– A. Schaade/Ch. Pellat, „Djamīla,“‘ in EI2.

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Orientalismus im Orient

🇳🇱 Orientalismus war eine Richtung in der Kunst, die vor allem im 19. Jahrhundert blüht und als Inspirationsquelle den Orient“ hatte: ein Gebiet, das an der türkischen Grenze anfing und irgendwo in Ostasien aufhörte: das geheimnisvolle Morgenland voller Schönheit, Farbenpracht, Reichtum, mit aller Grausamkeit und Sinnlichkeit, die man dort zu erkennen meinte oder sich wenigstens vorstellte.
Orientalistik ist das wissenschaftliche Studium von dem, was früher der „Orient“ hieß.
Verwirrung entstand, als 1978 das berühmt-berüchtigte Buch Orientalism von Edward Said erschien. Dieser Autor brachte die beiden Begriffe durcheinander. Das tat er absichtlich, denn er wollte das betonen, was beide Tätigkeiten seiner Meinung nach gemeinsam hatten, nämlich ein verzerrtes Bild des „Orients“ zu kreieren, mit der Absicht diesen zu unterwerfen und zu beherrschen. Dabei wollte er vor allem die Orientalistik diskreditieren.
Das Bild, das der Westen sich vom Orient bildete, wurde in der Kolonialzeit im Osten oft übernommen. Der Westen bestimmte ja, wie der Orient auszusehen und sich zu verhalten hatte. Dieser Umstand schafft böses Blut seit dem Erscheinen von Saids Buch, in dem das Phänomen zum ersten Mal angeprangert wurde. In Saudi-Arabien und dem Irak wurden Lehrstühle für „Orientalistik“ gegründet, deren Aktivitäten durch Hass oder Abneigung gegen die Orientalistik inspiriert wurden. Aber von ca. 1800 bis 1980 wurden die westlichen Orientbilder von den Untertanen im Orient noch untertänigst geschluckt und übernommen; es blieb ihnen wohl nichts anderes übrig. Sogar in religiösen Sachen ließ man sich einen Bären aufbinden: Die Gestaltung des heutigen Islams hat dem Westen einiges zu „verdanken“ (siehe z.B. hier und hier.)

Hier folgen einige Beispiele von Orient made in Europe:
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Am Ende des 19. Jahrhunderts diktierten europäische Handelsunternehmen (Ziegler, Hotz), wie Perserteppiche auszusehen hatten. Nicht zu wild und dezent koloriert, nach europäischem Geschmack; mit Merinowolle aus Manchester und mit künstlichen Farbstoffen. Natürlich gehorchten die Teppichweber; das Weben war ja ihr Broterwerb.
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Zwang gab es auch in Niederländisch-Indien. Die malaiische Sprache, zum Beispiel, kannten die Holländer natürlich besser als die Indonesier. Diese konnten sie aber noch lernen, etwa mit Hilfe der Bücher des Kantoor voor Volkslectuur (Büro für Volkslektüre; später Balai Poestaka/Pustaka; 1908–1942), das ab 1920 Indonesische Literatur herausbrachte, die als für die Eingeborenen angemessen beurteilt wurde.1
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Die Sheikh Zayed Moschee in Abu Dhabi ist riesig: eine 75 Meter hohe Kuppel, Minarette von 107 Meter Höhe, Platz für 40.000 Gläubige und von allem viel zu viel. Das Gebäude verbreitet einerseits die Langeweile computergenerierter, steriler Massenware, andererseits erinnert es an eine orientalische Fantasie aus Tausendundeine Nacht.  Diese Moschee ist unverhohlen orientalistisch: ein orientalischer Traum. Die Perlenfischer am Golf hatten selbst keine Tradition großer Bauten. Sie heuerten also Architekten aus dem Ausland an,2 die für sie diesen Märchenpalast entwarfen, aus dem jeden Augenblick ein fliegender Teppich aufsteigen kann. Stilelemente von verschiedenen existierenden Bauten von Marokko bis Indien sind zu einem orientalischen Ganzen hoch zwei zusammengefügt worden. Offensichtlich hat der Bauherr es zufrieden abgenommen, obwohl neuerdings in den arabischen Ländern heftig auf den Orientalismus geschimpft wird.

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Aber die ganze Tausendundeine Nacht ist eine überwiegend westliche Konstruktion, die nach einer Erfolgsgeschichte von zwei Jahrhunderten in Europa von dort aus ihren Weg in den Nahen Osten gefunden hat. Die Erzählungen wurden anfangs von gebildeten Arabern selten gelesen und nicht geschätzt. Nicht etwa, weil darin freimütig über Sex geredet wird, aber weil sie in einfacher („kindischer“) Sprache abgefasst worden seien und auch anderen literarischen Maßstäben nicht genügten. Sie gehörten zur Domäne der mündlichen Erzähler, die solche Texte in Heftchen aufbewahrten, sie auswendig lernten und durch das Land zogen um sie in Kaffeehäusern und auf Plätzen vorzutragen. Aber anderer Stoff war bei den Erzählern und ihren Zuhörern viel beliebter. Aus dem 19. Jahrhundert sind einige Theaterbearbeitungen von Erzählungen aus Tausendundeiner Nacht bekannt, aber Theater galt ebenfalls als etwas für die niederen Stände. Erst ab ca. 1900 begannen arabische Bildungsbürger diese Erzählungen zu schätzen, nachdem sie in Europa für gut befunden waren. Ab diesem Zeitpunkt standen Schriftsteller auf, die erklärten, dass Tausendundeine Nacht auf sie einen wichtigen Einfluss hatte: ‘Abd al-Qādir al-Māzinī, Mahmūd Taimūr, Taufīq al-Hakīm, Ṭāhā Husain und Nagib Mahfus, um nur einige zu nennen. Sie und noch etliche andere Schriftsteller reagierten auch auf die Erzählungen, indem sie eine bearbeiteten oder damit spielten oder Bücher schrieben wie Die Träume Shahrazads oder Die tausendzweite Nacht. Die erste arabische Dissertation über die Erzählungen erschien 1943: ein Beweis der Akzeptanz.
Dass moderne arabische Autoren auf ihr eigenes Erbe zurückgreifen, scheint jetzt ganz natürlich, aber es geschah, nachdem es jahrhundertelang vernachlässigt worden war und nachdem Europa sich seiner angenommen, begutachtet, durch die Mangel gedreht und neu zubereitet hatte.
Später gab es noch mehr europäischen Einfluss auf die Rezeption von Tausendundeine Nacht, wenn auch indirekt. Eine neue arabische Ausgabe wurde 1985 in Ägypten verboten, weil sie sittenwidrig sei, und das versucht man immer wieder. Die Erzählungen werden sittenwidrig genannt, weil sie
 gegen die Sitten der fundamentalistischen Muslime verstoßen, die sich inzwischen breit gemacht hatten und die ihre Prüderie zumindest zur Hälfte dem orientalistischen Europa und der Königin Viktoria verdanken; siehe hier.
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Ein ähnlicher Fall ist meiner Meinung nach die Rezeption von Ibn Khaldūn: einer der berühmtesten alten Araber überhaupt, der jedoch von Europa aus in den Nahen Osten gelangt ist. Dazu in Zukunft mehr.

ANMERKUNGEN
1. Dazu dieses (Engl.).
2. Als Architekt wird Yousef Abdelky erwähnt, aber auch Mohammad Ali Al-Ameri; des Weiteren Firmen wie Spatium, Halcrow und Speirs und Major Associates.

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Arabien anno 650: starke Frauen, schwache Männer

🇳🇱 In der vorislamischen arabischen Poesie von ca. 550 n. Chr. wird in der Einführung (nasīb) der längeren Gedichte oft kurz an einer Frau erinnert. Der Dichter denkt zurück an seine herrliche Zeit mit einer Layla, Salmā oder Hind und bewirkt somit bei sich und seinen Hörern eine wehmütige und empfindliche Stimmung. Die dauert aber nur einige Zeilen. Seine Kameraden oder Reisegefährten sagen ihm, er soll sich ermannen: es gibt ja noch mehr Frauen und jetzt steht Anderes an: reisen, jagen, kämpfen, dem eigenen Stamm Ruhm bringen und anderen Schande zufügen; ein Stammesoberhaupt oder einen König loben—oder nicht zuletzt sich selbst loben. Von diesen anderen Anliegen handelt dann der Rest des Gedichts. Eine Frau kann darin noch auf zwei Manieren vorkommen: erstens als Lustobjekt, wenn der Dichter sich mit seiner Potenz brüstet, zweitens als meckernde „Hausfrau“, die den Mann kritisiert, weil er sein Besitz an Wein oder Spiel vergeudet, oder die traditionellen Tugenden der Großzügigkeit und Gastfreundschaft so weit durchführt, dass für Frau und Kinder wenig mehr übrig bleibt.
Eine Frau war in der alten Welt nicht viel wert. Sie hatte wenige Rechte und Sicherheiten, sie konnte entführt, vermietet, ausgeliehen und vererbt werden. Und sexuell belästigt werden natürlich auch — oder wie soll man sonst nennen, was der berühmt-berüchtigte Dichter Imru al-Qais tat, als er in das Zelt einer jungen Mutter eindrang, die gerade ihrem Säugling die eine Brust gab, während er sich ungebeten auf die andere stürzte? Aus nicht-poetischen Quellen wissen wir, dass es eine Art Ehen gab, in der ein Vater oder Vormund eine Frau nahezu vermietete. Und in Hadithen lesen wir, dass Damen abends im Dunkel gut eingepackt in Grüppchen ausgingen für den Stuhlgang, weil es bei Tageslicht und für eine Frau allein nicht sicher war.
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Hundert Jahre später, ab ca. 640, werden noch immer lange Gedichte in alter Stil komponiert, aber es entstanden auch separate Liebesgedichte (ghazal). Darin tritt die Frau oft als Gefühlskaltes Wesen auf, das einen hoffnungslos verliebten Mann zappeln lässt und ihm Gunstbeweise verspricht, die sie nie verleihen wird. Sie versucht ihn mit Pfeilen aus ihren Augen zu „töten“; sie tut, als sei sie sehr verliebt in ihn und wirft ihm inzwischen vor, dass er andere Frauen ansieht. Der Mann dagegen leidet und seufzt und klagt, versucht sich zu rechtfertigen und bettelt um eine Gunst, wie klein auch immer. In der noch etwas späteren Poesie ist er sogar krank und ausgemergelt vor Liebe; der Arzt—der die Geliebte ist—will ihm nicht helfen und der Liebestod steht bevor.
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Was war passiert, wie kam es zu diesem ganz anderen Ton in der Dichtung? Wie wurden Frauen so triumphierend und Männer so quengelig? „Das kam durch den Islam,“ wird manch einer sagen. Das ist aber zu unsorgfältig ausgedruckt, denn was war der Islam schon zu dieser Zeit? Der war noch lange nicht auskristallisiert; den Koran als Buch gab es noch nicht und etwas wie Scharia war auch noch nicht in Sichtweite. Besser spricht man für diese frühe Periode von „der koranischen Bewegung“. Aber die Rechtsregeln, die etwas später im Koran niedergelegt wurden, waren offensichtlich schon im Umlauf und blieben nicht ohne Wirkung. In der Tat haben diese bekanntlich die Position der freien arabischen Frau verbessert. Sie konnte nicht mehr gegen ihren Willen verheiratet werden. Es wurden Regeln eingeführt in Bezug auf Brautgeld, Verstoßung und ihr Lebensunterhalt danach. Sie konnte keinen Teil einer Erbschaft mehr bilden, sondern sie konnte selbst erben, wenn auch weniger als ein Mann. Als Zeuge vor Gericht war sie etwas wert, wenn auch nicht so viel wie ein Mann. Das alles verstärkte ihre Position.
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Aber auch das Männerleben war nicht länger wie gehabt. Anno 650 waren die Araber schon zwanzig Jahre dabei, die halbe Welt zu erobern. Das hatte zu schnellem und drastischem sozialen Wandel geführt. Die arabischen Stämme kämpften nicht länger gegen einander, sondern zusammen gegen andere. Vieh stehlen war nicht länger angesagt. Schimpfen auf den Stamm nebenan war jetzt unerwünscht, genau so wie Lobhudelei auf die Tugenden des eigenen Stammes. Die Mobilität nahm stark zu: viele Araber landeten in entlegenen Gebieten, von denen ihre Väter und Großväter noch nie gehört hatten. In den Armeen hatten sie Kameraden aus Stämmen, die früher vielleicht ihre Feinde gewesen waren. Mit dem Rauben, Vergewaltigen oder anderweitig schlecht behandeln von Frauen war es in Arabien erst mal vorbei. Macho-Verhalten konnte natürlich in den Armeen, die die Außenwelt eroberten, noch in vollen Zügen gelebt werden, aber auf der Halbinsel erheblich weniger.
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Für Männer sowohl als Frauen galt, dass sie Individuen wurden, nicht länger namenlose Teile eines Stammes blieben. Das ermöglichte auch persönliche Liebesbeziehungen. Der vorislamische Empfehlung an einen Mann, der an eine Geliebte zurückdachte: „Vergiss sie, es gibt noch so viele andere Frauen,” war nicht länger relevant: er wollte die Eine.
Die Position der Frau verbesserte sich also nicht nur durch die koranischen Regeln, sondern auch, indem die Position des Mannes schwächer wurde. Was immer seine Männlichkeit ausgemacht hatte: kollektive Bravour und Macho-Verhalten unter dem Schutz seines Stammes, waren jetzt vorbei und das führte zu einem Gefühl der Erschütterung—zu dem Gefühl, kein Mann mehr zu sein. Männer, die in weiter Ferne als Soldat aktiv waren, spürten das nicht, aber diejenige, die in Arabien zurückgeblieben waren oder nach einem Feldzug dorthin zurückkehrten, fanden ihre vertraute Welt nicht mehr wieder.
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In diesem Bluch habe ich mal ein Gedicht von ‘Umar ibn abī Rabī‘a von ca. 700 präsentiert, in dem eine Frau ihr Spielchen spielt mit einem eher einfältigen Mann. Renate →Jacobi hat Gedichte von Abū Dhu’aib und dessen Umfeld studiert, einem Dichter aus dem zentralarabischen Stamm Hudhail, der ca. 640 wirkte. Darin werden die neuen Verhältnisse noch viel deutlicher; besonders im anonymen Gedicht „O Zelt von Dahmā’, das ich meide“:

١. يَا بَيْتَ دَهْمَاءَ الَّذِي أَتَجَنَّبُ * ذَهَبَ الشَّبَابُ وَحُبُّهَا لاَ يَذْهَبُ
٢. مَا لِي أَحِنُّ إذَا جِمَالُكِ قُرِّبَتْ * وَأَصُدُّ عَنْكِ وَأَنْتِ مِنِّي أَقْرَبُ
٣. للهِ دَرُّكِ هَلْ لَدَيْكِ مُعَوَّلٌ * لِـمُكَلَّفٍ أَمْ هَلْ لِوُدِّكِ مَطْلَبُ
٤. تَدْعُو الحَمَامَة شَجْوَهَا فَتَهِيجُنِي * وَيَرُوحُ عَازِبُ شَوْقِيَ الْـمُتَأَؤِبُ
٥. وَأَرَى البِلاَدَ إذَا سَكَنْتِ بِغَيْرِهَا * جَدْبًا وَإنْ كَانَتْ تُطَلُّ وَتُخْصِبُ
٦. وَيَحُلُّ أَهْلِي بِالـمَكَانِ فَلاَ أَرَى * طَرْفِي لِغََيْرِكِ مَرَةً يَتَقَلَّبُ
٧. وَأُصَانِعُ الوَاشِينَ فِيكِ تَجَمُلاً * وَهُمُ عَلَيَّ ذَوُو ضَغَائِنَ دُؤَّبُ
٨. وَتَهِيجُ سَارِيَةُ الرِّيَاحِ مِنْ أَرْضِكُمْ * فَأَرَى الجَنَابَ لَهَا يُحَلُّ وَيُجْنَبُ
٩. وَأَرَى الْعَدُوَّ يُحِبُّكُمْ فَأُحِبُّهُ * إنْ كَانَ يُنْسَبُ مِنْكِ أَوْ لاَ يُنْسَبُ

→Jacobis Übersetzung finden Sie zusammen mit einer ausführlicher Analyse in ihrem Artikel zu Abū Dhu’aib, S. 242–46.
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Der Bruch mit der alten Zeit ist in diesem Gedicht deutlich sichtbar. Die Dichterpersona kann und will seine Geliebte nicht vergessen. Anders als frühere Dichter hat er kein Interesse an andere Frauen: „Wenn mein Stamm an einem Ort lagert, so geschieht es nie, dass meine Blicke sich zu anderen Frauen wenden.“ Er ist nur auf die eine fixiert: „Ein Land, in dem du nicht bist, erscheint mir öde und verdorrt….“ Immer wieder sehnt er sich nach ihr: „Jede Abend kehrt meine Sehnsucht, wie eine fern weidende Herde, heim.“
Aber er fühlt sich ihr gegenüber sehr unsicher: „Kann ein Liebender auf dich vertrauen, hat seine Liebe bei dir eine Aussicht?“ Sogar mit einer leichten Brise aus ihrer Richtung würde er sich schon zufrieden geben. Der Kontrast mit dem Frauenraub und der Zudringlichkeit von früher könnte größer nicht sein.
Er zeigt ihr großes Respekt, dringt nicht frech in ihr Zelt ein, im Gegenteil: „O Zelt der Dahmā’, das ich meide …,“ nämlich um den guten Ruf der Dame zu schützen. Den Verleumdern bietet er keinen Halt: „Ich schmeichle den Verleumdern und halte mich zum Schein von dir fern…,“—mit anderen Worten: Er wendet sich ab und tut als wäre er gar nicht in sie verliebt — ebenfalls zu ihrem Schutz.
Die letzte Zeile ist die unglaublichste von allen: „Und wenn mein Feind dich liebt, so liebe ich ihn, ob er nun zu deinem Stamm gehört oder nicht.“ Die Feindschaft zwischen den Stämmen ist aufgehoben!
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Was änderte sich nun wirklich in der arabischen Gesellschaft? Natürlich war es nicht so, dass fortan mehr Frauen in führenden Positionen zu finden waren. Die vorindustrielle Antike ging einfach weiter und die körperliche Überlegenheit des Mannes blieb weiterhin bestimmend. Die Unsicherheit verschwand, als die neue Gesellschaft sich einmal eingependelt hatte. Auf Dauer bildeten sich neue Stammesverbände, jeder selbstverständlich mit einer eigenen fiktiven Vergangenheit. Der Einblick in diese frühe Periode der Umgestaltung bleibt aber einzigartig. Es gibt nur ganz wenige Geschichtsquellen, die ohne religiöse Färbung zeigen was damals in den Menschen vorging; die Poesie darf deshalb nicht vernachlässigt werden.
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Die Motivik dieser arabischen Liebespoesie hat sich übrigens verselbständigt und noch Jahrhunderte überlebt: im Arabischen bis ins 20. Jahrhundert (sogar bei Umm Kulthūm), aber auch im Persischen und Türkischen; in Europa bei den Troubadours und in dem Liedschatz Frankreichs und Italiens bis tief ins achtzehnte Jahrhundert. Die sog. „höfische Liebe“ stammt nicht aus der griechisch-römischen Antike, sondern aus dem arabischen 7. Jahrhundert.

BIBLIOGRAFIE
– Renate Jacobi, „Die Anfänge der arabischen Ġazalpoesie: Abū Ḏu’aib al-Huḏalī,“ in Der Islam 61 (1984), 218–250. Online hier; über Ihre UB möglicherweise kostenlos herunterzuladen.
– Thomas Bauer, Liebe und Liebesdichtung in der arabischen Welt des 9. und 10. Jahrhunderts, Wiesbaden 1998, 44–46.

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Ali Mubarak und der Trickle-Down-Effekt

🇳🇱 Wer Arabisch aus dem 19. Jahrhundert lesen mag, landet irgendwann bei ‘Alī Pāshā Mubārak (1823–1893). Dieser vielseitig talentierter Ägypter hätte ursprünglich Imam oder Ähnliches werden sollen, aber er rang sich durch zu einem militärischen Ingenieurstudium, studierte darauf fünf Jahre in Frankreich, war im Aufbau und in der Organisation des Unterrichts in seinem Land tätig und hatte einige Male ein Ministeramt inne. Sein Name ist u.a. verbunden mit der Gründung der Nationalbibliothek und der pädagogischen Hochschule (Dār al-‘ulūm), beide in Kairo, und mit zahllosen öffentlichen Bauaufträgen, wie dem Wiederaufbau des Staudammes bei al-Qanāṭir al-Khairīya nördlich von Kairo. Neben seinen öffentlichen Ämtern fand er noch Zeit dicke Bücher zu schreiben. (Biblio-, Bio- und Autobiografie folgen später.)
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Heute ein übersetztes Fragment aus seinem ‘Alam ad-Dīn, das 1882 erschien und 1486 Seiten und 125 Kapitel zählt. Oder vielmehr „Gespräche“ (musāmarāt), denn es werden Dialoge geführt, die allerdings sehr hölzern sind. Das Werk hat einige Züge eines Romans: es gibt Personen und so etwas wie eine Handlung:
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‘Alam al-Dīn, ein Absolvent der religiösen Azhar-Universität in Kairo, der im Buch meist „der Scheich“ genannt wird, hat große Mühe über die Runden zu kommen und seine Familie zu ernähren. Das Angebot eines namenlos bleibenden englischen Orientalisten ist deshalb sehr willkommen: der Scheich darf diesen Khawwāga (d.h. ein europäischer Herr) als Führer und Dolmetscher in Ägypten begleiten. Später geht er auch mit nach Europa und er nimmt sogar seinen Sohn mit, der sich zweimal in ein französisches Mädchen verliebt. In Frankreich gesellt sich ein gewisser Ya‘qūb zu ihnen: ein ägyptischer Matrose, der dort schon länger wohnt und ihnen als Führer und Gesprächspartner dient.
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Aber die Handlung bleibt dünn, hat kein Ende und wird ständig durch informative Einschübe unterbrochen, die der Autor nützlich findet, über Sachen wie die Eisenbahn, die Korkeiche, den Holzwurm und noch vieles mehr. Wenn man diese Teile überspringt, bleibt kein sehr dickes Buch übrig. Allgemeiner Tenor: Man darf mit Ausländern verkehren und besonders mit Orientalisten, die auf Grund ihrer Kenntnisse schon fast Muslime sind; man darf auch Sachen aus Europa übernehmen. Offensichtlich ist, wie viel Europa dem alten Ägypten verdankt und wie leicht Europäer sich zum Islam bekehren würden, wenn sie bloß den Koran und den Islam kennen würden. Eheschließungen zwischen ägyptischen Männern und europäischen Frauen sind im Prinzip möglich. Frauen sollen auch zur Schule gehen, damit sie angenehme Gesprächspartner für ihre Männer sein können.
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Im 101. Kapitel lässt Mubārak seine Personen ein wenig über den Unterschied zwischen reich und arm und den trickle-down-Effekt1 sinnieren. Obwohl er von zu Hause aus nicht sehr vermögend war, wird er später in seinem Leben so viele Besitztümer erworben haben, dass seine Gedankengänge wie von selbst die eines Reichen sind.
Ein Fragment wie das folgende ist an sich nicht übermäßig interessant. Nur wenn man miteinbezieht, wo und wann es geschrieben ist, und dazu noch andere Texte aus der Zeit liest, wird es sinnvoll, ihm Aufmerksamkeit zu schenken, zum Beispiel im Vergleich mit dem eher zum Sozialismus neigenden Fāris al-Shidyāq in Sāq ‘alā sāq (1855). Hier folgt die Übersetzung:

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„„„Der Scheich sagte: „Immer wenn ich durch Paris laufe, verwundert es mich, wie groß es ist, wie viele Einwohner es hat und wie sie Tag und Nacht auf den Beinen sind.“ Der Scheich litt unter seinem Aufenthalt in der Stadt, wegen des vielen Verkehrs, den er ständig sah, und der Geräusche von Mensch und Tier, die er ständig hörte. Denn die Kutschen fahren an und ab, Tag und Nacht, und ihre Räder rattern, indem sie gegen die Steine stoßen, mit denen die Straßen belegt sind. Die Fenster der Häuser und Gebäude klappern im Wind und wenn sie auf und zu gehen. Betrunkene und Nachtschwärmer und dazu noch der Verkehr bringen Unruhe, verwirren den Geist und stören die Konzentration.
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Er sagte zu Ya‘qūb: „Wohnten wir doch außerhalb, das wäre angenehmer und gesünder.“ Ya‘qūb antwortete: „Der Scheich hat Recht, denn auch der Khawwāga leidet unter dem Wohnen in dieser Stadt, aber dass er hier eine Unterkunft gesucht hat, ist, weil sie nah an seiner Arbeit und seinen Freunden ist. Er hat mir eine Wohnung beschrieben, die geräumiger ist als diese, die auf einen Park sieht und etwas abseits von der Straße liegt; wenn der Khawwāga wüsste, wie sehr ihr zu leiden habt, würde er sofort dorthin umziehen.“ Darauf pries der Scheich sie beide und sagte: „Paris ist eine der prachtvollsten Städte der Welt, weil es Kunstwerke, schöne Sachen, Kostbarkeiten und Kuriositäten enthält und die Menschen so wohlhabend sind und die Gebäude so schön, aber ich denke, dass das Leben der Armen hier elend ist, weil so viele Menschen dicht aufeinander wohnen.“
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Ya‘qūb sagte: „Vielleicht haben die Armen es in Paris besser als irgendwo sonst. Denn so wie die Reichen sich sehr anstrengen um viel Gewinn zu erzielen, so haben auch die Armen ihre Manieren ihr Brot zu verdienen und ihren Vergnügungen nachzugehen, je nach ihrer Situation. Die Armen entsprechen in jeder Stadt ja immer den Reichen. Je größer die Stadt wird und je reicher die Reichen, desto mehr nehmen auch die Existenzmöglichkeiten der Armen zu, denn indem sie überall Stellen haben und Dienste leisten, können sie mehrere Sachen zu gleicher Zeit verfolgen, was man nur sieht, wenn man gut darauf Acht gibt. Ein Hausmeister zum Beispiel beschränkt sich nicht auf seinen Job; nein, man sieht auch, wie er und seine Familienmitglieder noch dazuverdienen. Denn der Mann repariert auch Schuhe und Sandalen, die Frau näht Kleider, die Tochter singt und studiert Gesang und der Sohn zerreibt Zutaten von Farbstoffen. Und wenn man darauf achtet, kann man in den Straßen arme Leute sehen, die auf dem Boden und im Schlamm altes Eisen und Nägel einsammeln, und Männer und Kinder, die die Pferde der Menschen striegeln, und noch andere, die den Hunden das Haar scheren oder Streichhölzer, Bonbons und Getränke für Kinder verkaufen. Es gibt Lumpenhändler und Kräuterverkäufer und Leute, die Blätter mit Nachrichten oder den Spielplänen der Theater anbieten. Alle diese Tätigkeiten sind auf den ersten Blick von wenig Nutzen, aber oft genug bringen arme Leute es dadurch zu Grundbesitz und Vermögen, so dass sie zu den höheren Ständen gerechnet werden, und ich glaube, auch Sie haben abends diese Leute gesehen, die das Papier und die Knochen wegräumen, die man auf die Straße geworfen hat?“ „Ja,“ sagte der Scheich und Ya‘qūb fuhr fort: „Das sind Sachen, von denen viele leben und mit denen sie das Brot für ihre Familien verdienen. Und dann gibt es noch ganze Gruppen, die leben von Schmeichelei, Schwindel, Spionage, Betrug und dergleichen, wie man das in Großstädten vorfindet.“
Der Sohn des Scheichs sagte: „In Kairo gibt es viele Leute, die Zigarettenstummel sammeln, den Tabak herausholen und davon neue Zigaretten drehen um sie auf der Straße zu verkaufen und vom Ertrag zu leben. Andere sammeln Glasscherben und verkaufen sie an die Hersteller von Armbändern für arme Frauen, und so weiter.“
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Darauf sagte der Sheikh: „Gott—gelobt und gepriesen sei er—hat es seinen Knechten leicht gemacht, auf allerlei Arten Lebensunterhalt zu finden. Er ist wirklich der Ernährer (razzāq) und er hat für jedes Geschöpf seine Art des Broterwerbs gemacht. … .’ ”””

ANMERKUNG
1. Trickle-down-Effekt: Die Annahme, dass der Reichtum der Reichen nach und nach durch deren Konsum und Investitionen in die unteren Schichten der Gesellschaft durchsickern würde. Normalverdiener und arme Menschen wissen längst, dass dem nicht so ist.

BIBLIOGRAFIE
– ‘Alī Bāshā Mubārak, ‘Alam al-Dīn, 4 Bde., Alexandrien 1882, 1235–8.
– Andrea Geier, Von den Pharaonen zu den Khediven. Ägyptische Geschichte nach den Ḫiṭaṭ des ‘Alī Mubārak, Frankfurt am Main 1998.
– Rotraud Wieland, Das Bild der Europäer in der modernen arabischen Erzähl- und Theaterliteratur, Beirut 1980, 48–72 und Index unter ‘Alī Mubārak.

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Unfähige Propheten

Einer Erzählung zufolge, die Mohammeds erstes Offenbarungserlebnis  schildert, hatte der Prophet sich auf den Berg Hirā’ zurückgezogen, als der Engel Gibrīl (Gabriel) zu ihm kam:

  • Der Prophet selbst erzählte dazu: Während ich schlief, kam Gibrīl zu mir mit einer Brokatdecke, auf der Schriftzeichen standen. Er sagte: „Lies!“ Ich sagte: „Ich kann nicht lesen (mā aqra’u).“ Darauf drückte er mit der Decke meinen Hals so kräftig zu, dass ich dachte, es wäre der Tod. Dann ließ er mich los [und sagte: „Lies!“ Ich antwortete: „Ich kann nicht lesen.“ Darauf drückte er abermals so kräftig, dass ich dachte, es wäre der Tod. Dann ließ er mich los] und sagte wieder: „Lies!“ Ich sagte: „Was soll ich lesen? (mā dhā aqra’u)“ und das sagte ich nur um ihn los zu werden, aus Angst, dass er es noch mal tun würde. Da sagte er: Im Namen Gottes, des Gnädigen, des Barmherzigen. Lies im Namen deines Herrn, der erschuf,—erschuf den Menschen aus einem Klumpen Blut. Lies! denn dein Herr ist der Allgütige, der (den Menschen) lehrte durch die Feder, den Menschen lehrte, was er nicht wusste. [Koran 96:1–5] Dies rezitierte ich; dann ließ er mich los und ging weg. Als ich aufwachte war es, als wäre es in mein Herz geschrieben.
    Nun gab es kein Geschöpf, das mir verhasster war als Dichter und Besessene; ich konnte sie einfach nicht riechen. Und ich dachte: „O wehe, dieser Nichtswürdige“—er meinte sich selbst—„ist ein Dichter oder Besessener. Aber das werden die Quraisch nie von mir sagen! Ich werde hoch auf den Berg steigen und mich herunterstürzen und töten, dann habe ich Ruhe.“ In der Absicht machte ich mich also auf den Weg, aber als ich mitten auf dem Berg war, hörte ich eine Stimme vom Himmel: „Mohammed! Du bist der Gesandte Gottes, und ich bin Gibrīl.“ Ich schaute hoch zum Himmel und siehe da, es war Gibrīl in der Gestalt eines Mannes, der mit seinen Füßen neben einander am Horizont stand. Wieder sagte er: „Mohammed! Du bist der Gesandte Gottes, und ich bin Gibrīl.“ Ich sah ihn weiter an und das brachte mich von meinem Vorhaben ab; ich ging weder vorwärts noch rückwärts. Da wollte ich meinen Blick von ihm abwenden, aber in welche Richtung ich auch schaute, überall sah ich ihn wieder so stehen. Dort blieb ich so lange, ohne einen Schritt vorwärts oder Rückwärts zu tun, dass Khadīdja schon ihre Boten sandte um nach mir zu suchen; sie kamen bis oberhalb von Mekka, während ich noch am selben Ort stand. Dann verließ er mich.1

Diese Erzählung beschreibt das, was christliche Theologen eine Berufungsvision nennen. Von verschiedenen Propheten wird im Alten Testament erzählt, wie sie anfangs meinen der Aufgabe, die Gott ihnen auferlegen will, nicht gewachsen zu sein.
Moses wird beauftragt sein Volk aus Ägypten ins Land Kanaan zu führen. Er hat einige Ausreden und bringt zum Schluss vor: „Ach Herr! Ich bin kein redegewandter Mann […] denn unbeholfen ist mein Mund und unbeholfen meine Zunge.“ (2. Mose 4:10).

Jesaja sieht eine Ehrfurcht gebietende Vision des Herrn, umgeben von zwei Seraphim. Er ruft aus: „Wehe mir, ich bin verloren! Denn ein Mann mit unreinen Lippen bin ich …“ (Jesaja 6:5).
Jeremia sagt bei seiner Berufung: „Ach Herr, Herr, ich verstehe nicht zu reden; denn ich bin zu jung“ (Jeremia 1:6).
Hesechiel erschrickt gewaltig und fällt beim Anblick einer überwältigenden Vision auf sein Angesicht (Hesechiel 1–3).

Die Propheten haben Recht. Natürlich sind sie nicht im Stande ihre Aufgabe ohne Weiteres zu erfüllen. Aber Gott macht sie bereit und stärkt sie dazu, gibt ihnen seine Worte ein, worauf es dann gelingt. Jesajas unreine Lippen werden mit einer glühenden Kohle vom Altar gereinigt; dann ist er bereit zu prophezeihen. Hesechiel wird von Gott „emporgehoben“; er hat schon eine Schriftrolle zu essen bekommen, „süß wie Honig,“ und ihm wird die nötige Härte verliehen; Mohammed bekommt die Schrift buchstäblich fast in seinen Hals gepresst. Sowohl Hesechiel (Hes. 3:14–15) als auch Mohammed sind nach der Berufungsvision schwer angeschlagen.
Nur der biblische Prophet Jona sagt nicht, dass er kein Prophet sein kann; er weigert sich einfach. Sein Auftrag ist es in die große Stadt Ninive im Irak zu gehen, aber er nimmt ein Schiff in eine andere Richtung—das ist ein anderer Fall. Mohammed passt in die Reihe der anderen Propheten, die sich zunächst unfähig fühlen.

Ich musste etwas nachdenken über die Wörter mā aqra’u in der Erzählung über Mohammeds Berufung, oben übersetzt als: „Ich kann nicht lesen“— wobei wohlgemerkt in der alten Zeit lesen immer bedeutete: laut lesen, rezitieren.
mā aqra’u word manchmal aufgefasst als: „Was werde/soll ich lesen?“, aber naheliegender wäre in dem Fall mā dhā aqra’u, was etwas später kommt. Der Kontrast zwischen zweimal mā aqra’u und einmal mā dhā aqra’u ist beabsichtigt.
mā aqra’u ist in allerlei Varianten des modernen(!) gesprochenen Arabisch ein neutrales: „Ich lese nicht/werde nicht lesen“. In der Schriftsprache war und ist das aber lā aqra’u.
+ Imperfekt. Nach W. Fischer, Grammatik des klassischen Arabisch, Wiesbaden 21987, § 321 „bestreitet mit Impf. den Vorgang oder dessen Möglichkeit: [… ] mā yarāka, ‘er sieht dich gar nicht, kann dich nicht sehen’.“ Die anderen Grammatiken des klassischen Arabisch haben zu diesem Punkt nichts mitzuteilen.

Auf Grund dieses Paragraphen bei Fischer und der obigen biblischen Vorbilder habe ich in der Erzählung über das erste Offenbarungserlebnis die Übersetzung: „Ich kann nicht lesen“ gewählt.

ANMERKUNGEN

1. At-Tabarī, [Ta’rīkh al-rusul wal-mulūk] Annales, hrsg. M.J. de Goeje et al., 14 Bde., Leiden 1879–1901, i, 1150:

قال رسول الله ص: فجاءني [جبريل] وأنا نائم بنمط من ديباج فيه كتاب ، فقال: اقرأ، فقلت: ما أقرأ. فغتني حتى ظننت أنه الموت، ثم أرسلني فقال: اقرأ، فقلت: [ما أقرأ ؟ قال : فغتني به حتى ظننت أنه الموت، ثم أرسلني، فقال: اقرأ، قلت:] ماذا أقرأ؟ ما أقول ذلك إلا افتداء منه أن يعود إلي بمثل ما صنع بي، قال:(اقرأ باسم ربك الذي خلق) ألى قوله (علم الإنسان ما لم يعلم.) قال: فقرأته. قال: ثم انتهى ثم انصرف عني وهببت من نومي ، وكأنما كتبت في قلبي كتابا. قال: ولم يكن من خلق الله أحد أبغض إلي من شاعر أو مجنون، كنت لا أطيق أن أنظر إليهما، قال: قلت إن الأبعد – يعني نفسه – لشاعر أو مجنون، لا تحدث بها عني قريش أبدًا. لأعمدنّ إلى حالق من الجبل فلأطرحنّ نفسي منه فلأقتلنّها فلأستريحنّ.) قال: فخرجت أريد ذلك حتى إذا كنت في وسط من الجبل سمعت صوتا من السماء يقول : يا محمد، أنت رسول الله وأنا جبرئيل. قال: فرفعت رأسي إلى السماء ، فإذا جبريل في صورة رجل صاف قدميه في أفق السماء يقول: يا محمد، أنت رسول الله وأنا جبرئيل. قال: فوقفت أنظر إليهِ فما أتقدم وما أتأخر، وجعلت أصرف وجهي عنه في آفاق السماء فلا أنظر في ناحية منها إلا رأيته كذلك ، فما زلت واقفا ما أتقدم أمامي ولا أرجع ورائي حتى بعثت خديجة رسلها في طلبي ، ختى بلغوا أعلى مكة ورجعوا إليها وأنا واقف في مكاني؛ ثم انصرف عني.

Der häufiger gelesene Ibn Hishām hat die Teile zum Selbstmordvorhaben aus der Vorlage von Ibn Ishāq gestrichen; deshalb zitiere ich hier die Fassung von at-Tabarī, die den ursprünglichen Wortlaut erhalten hat. Dafür hat Ibn Hishām dreimal den Auftrag: „Lies!“ Das zweite Mal habe ich hier zwischen Klammern hinzugefügt. Dreimal ein Auftrag und zweimal eine Weigerung ist klassisch; das gibt es z.B. auch in der Erzählung von der Berufung des Mönchs Cædmon bei Beda Venerabilis.

Diakritische Zeichen: Ḥirāʾ, Ǧibrīl, Quraiš, aṭṬabarī, taʾrīḫ, Hišām, Isḥāq

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Mohammeds Hidschra im Koran

Die Hidschra war die Migration des Propheten Mohammed von Mekka nach Medina. Das Datum der Hidschra, der 20. September 622 (oder auch ein anderes), wurde nicht mal zwanzig Jahre später zum Anfangspunkt der islamischen Jahreszählung gemacht. Das Ereignis wurde also als äußerst wichtig betrachtet.

Im Koran kommt das Verbalsubstantiv hidjra nicht vor. Des öfteren ist jedoch die Rede von Menschen, die ausgewandert sind (alladhīna hādjarū), oder kurz von Emigranten (muhādjirūn). Diese sind „zu Gott und seinem Gesandten“ ausgewandert, oder „auf dem Weg Gottes“. Letzteres bedeutet meist Krieg führen: Emigration geht dann mit dem Kampf für die gute Sache einher. Nur einmal deutet der Koran an, dass auch der Prophet ein muhādjir war, und das nur indirekt: In Vers 33:50 ist von weiblichen Verwandten die Rede, „die mit dir ausgewandert sind“.

Von den Emigranten wird im Koran einige Male gesagt, dass sie „aus ihren Wohnstätten vertrieben wurden“ (ukhridjū min diyārihim). An einigen Stellen wird das auch vom Propheten gesagt, z.B. in Koran 9:40; 47:13.  In 17:76 heißt es: „Und sie hätten dich beinahe aus dem Land verscheucht, um dich daraus zu vertreiben“ und in 9:13 dass sie vorhatten ihn zu vertreiben.

Von welcher Art war Mohammeds Emigration, was war ihr Grund? Der niederländische Orientalist Chr. Snouck Hurgronje bekämpfte 1886 die damals gängige Meinung, die Hidschra sei eine Flucht gewesen.1 Das Wort bedeutet ja nicht Flucht, sondern: „die Beziehungen abbrechen, sich lossagen, seine Stadt oder seinen Stamm verlassen um sich woanders niederzulassen, auswandern“. Snouck zufolge war sie Teil eines Plans, einer Strategie: „Die Hidschra wurde also von Mohammed, wegen seiner im Lauf der Zeit veränderten Auffassung von seiner Sendung, lange im Voraus sorgfältig geplant.“ So ist auch die gängige islamische Darstellung, die bereits bei ‘Urwa ibn al-Zubair zu lesen ist, obwohl bei ihm der Plan, die Strategie natürlich ein Heilsplan Gottes ist. Im großen Ganzen wird es bei den Orientalisten so beschrieben wie bei Snouck.1

Die allgemein bekannte Erzählung von der Hidschra steht nicht im Koran, sondern in den biografischen Texten über Mohammed (sīra) und in Hadithen, selbstverständlich in unterschiedlichen Fassungen; z.B. in zwei kurzen von ‘Urwa3 und in einer ausgearbeiteten Version von Ibn Ishāq.4 In groben Zügen läuft es so: Mohammed und seine Anhänger werden in Mekka gemobbt. Manche Gläubigen emigrieren deswegen nach Äthiopien, die meisten kommen nach einiger Zeit wieder. Versuche unter den Beduinen und in Tā’if Unterstützer zu finden verlaufen im Sande. Eine Gruppe Einwohner von Yathrib (Medina), die zum Jahrmarkt nach Mekka kommt, will sich aber doch auf Mohammed einlassen. Nach zwei Jahren der Verhandlungen und Vorbereitungen reisen erst die Gläubigen ab nach Medina und darauf Mohammed selbst.

Das im Koran verwendete Verb akhradja, „hinauswerfen, vertreiben, ausweisen“, bezeichnet tatsächlich nicht eine Flucht, aber auch keine souveräne Entscheidung abzureisen. In der biografischen Erzählung kommt das „Hinauswerfen“ gar nicht vor—oder nur einmal, aber verneint. Ibn Ishāq hat an seine Version eine Vergrößerung von Koran 8:30 hinzugefügt. In der Erzählung berät der Gemeinderat von Mekka über das, was mit Mohammed zu tun sei: soll man ihn töten, ihn rauswerfen oder ihn einsperren? In der Erzählung wird der Beschluss gefasst ihn eben nicht rauszuwerfen: dann würde er ja außerhalb Verbündete suchen. Nein, sie werden ihn in der Nacht in seinem eigenen Bett töten. Gott warnt Mohammed aber und dieser weiß … zu fliehen. Nach einer spannenden Verfolgungsjagd findet er mit Gottes Hilfe Zuflucht in einer Höhle und erreicht von dort aus Medina. Also doch eine Flucht—aber nur in einer Ergänzung der Hidschra-Erzählung.

Offensichtlich vermieden es die Biografen aus Feingefühl, das koranische Motiv des „Hinauswerfens“ mit Mohammeds Hidschra in Verbindung zu bringen, da diese ihnen zufolge nicht von einer erniedrigenden Initiative der Heiden ausgelöst wurde, sondern auf einem Heilsplan Gottes beruhte und aus selbständigem Handeln seines Propheten heraus erfolgte. Das hört sich erheblich positiver an. Inzwischen habe ich den Eindruck, dass auch in modernen Betrachtungen ignoriert wird, dass die Hidschra de facto ein Rauswurf war – oder zumindest ganz wie einer aussah.

ANMERKUNGEN
1. In seinem Twee populaire dwalingen verbeterd, Nachdruck in Chr. Snouck Hurgronje, Verspreide geschriften, 6 Bde., Bonn/Leiden 1923–27, i, 295–305. (online hier oder hier).
2. Ein bequemer Überblick steht bei W. Montgomery Watt, Muhammad at Mecca, Oxford 1953, 141–51.
3. In ‘Urwas Brief an Kalif ‘Abd al-Malik (al-Tabarī, Ta’rīkh  i, 1180–1, 1224–5, 1234ff) und in seiner Erzählung bei ‘Abd ar-Razzāq as-San‘ā’ī, Musannaf STELLE@. S. weiter A. Görke und G. Schoeler, Die ältesten Berichte über das Leben Muḥammads. Das Korpus ‘Urwa ibn az-Zubair, Princeton 2008, 39ff.
4. Ibn Ishāq: Das Leben Muhammed’s nach Muhammed Ibn Ishâk bearbeitet von Abd el-Malik Ibn Hischâm, Hrsg. F. Wüstenfeld, Göttingen 1858–60, 217–223.

Diakritische Zeichen: hiǧra, allaḏīna hāǧarū, muhāǧirūn, uḫriǧū, ʿUrwa, Ibn Isḥāq, Ṭāʾif, aḫraǧa, al-Ṭabarī, Taʾrīḥ, ʿAbd ar-Razzāq aṣ-Ṣanʿāʾī, Muṣannaf

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Ägyptische Prosaschriftsteller des 19. Jahrhunderts, Bibliografie

Für Studenten der Arabistik

Im 19. Jahrhundert gab es grob gesagt drei ägyptische Prosaschriftsteller, die man kennen sollte: al-Djabartī, Rifāʿa at-Tahtāwī und ‘Alī Bāshā Mubārak.

‘Abd al-Rahmān al-Djabartī (1753-1825)
war Historiker und Augenzeuge der französischen Besatzung Ägyptens (1798-1801). Die ersten Reaktionen eines Ägypters auf den „Westen“ überhaupt findet man in seinem:
Muddat al-Faransīs: Al-Jabartī’s Chronicle of the first seven Months of the French Occupation of Egypt etc., ed. and trsl. S. Moreh, Leiden 1975.
‘Adjā’ib al-āthār fī al-tarādjim wal-akhbār, läuft bis 1821, erstmals ersch. Būlāq 1297/1879-80. Engl. Übers.: Thomas Philipp & Moshe Perlmann, ʿAbd al-Rahmān al-Jabartīs History of Egypt etc., Stuttgart 1994; hervorragende Indices von Thomas Philipp & Guido Schwald, ibid. Die französische Übersetzung aus dem 19. Jahrhundert ist schlecht.

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Rifā‘a at-Tahtāwī (1801-73)
(in EI2 unter Rifā‘a) war 1826-30 als Studentenimām in Paris tätig und schrieb seine Eindrucke in diesem charmanten Werk nieder:
Takhlīs al-ibrīz fi talkhīs Bārīz, Būlāq 1834. Dt. Teilübersetzung: Karl Stowasser, Ein Muslim entdeckt Europa. Die Reise eines Ägypters im 19. Jahrhundert nach Paris, Leipzig/Weimar 1988.

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‘Alī Bāshā Mubārak (1823-92)
‘Alam al-Dīn, Alexandrien 1882, ein dickes Opus, in dem der Autor einiges von seinem Gedankengut niedergelegt hat. Mit gutem Willen könnte man es den zweitältesten Roman aus Ägypten nennen.1 Die Handlung ist aber sehr dünn. Vgl. R. Wielandt, Das Bild der Europäer in der modernen arabischen Erzähl- und Theaterliteratur, Beirut 1980, 48-72 et passim.
Al-Khitat al-tawfīqīya al-djadīda li-Misr al-qāhira wa-mudunihā wa-bilādihā al-qadīma al-shahīra, 20 Bde. Būlāq 1306, ein mehrbändiges geographisches Werk über Ägypten, das aber auch Biographien von vielen Ägyptern, eine autobiographische Skizze und etliches mehr enthält. Das recht unzugängliche Werk ist erschlossen worden in:
– Andrea Geyer, Von den Pharaonen zu den Khediven. Ägyptische Geschichte nach den Hitat des ‘Alī Mubārak, Frankfurt (Peter Lang) 1998 (Europäische Hochschulschriften. Reihe III. Geschichte und ihre Hilfswissenschaften. Bd. 775).

ANMERKUNG
1. Der älteste war wohl Fu’ād wa-Rifqa.

Diakritische Zeichen: ʿAbd al-Raḥmān al-Ǧabartī, ʿAǧāʾib al-āṯār fī al-tarāǧim wal-aḫbār, Rifāʿa aṭ-Ṭahṭāwī, Taḫlīṣ al-ibrīz fi talḫīṣ Bārīz, ʿAlī Bāšā Mubārak, Al-Ḫiṭaṭ al-tawfīqīya al-ǧadīda li-Miṣr al-qāhira wa-mudunihā wa-bilādihā al-qadīma al-šahīra

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Frauenpower: die Kriegerinnen der arabischen Erzählliteratur

uitHamzaverhaalDass Frauen schlauer sind als Männer, wird jedem bekannt sein, der schon mal am Laden jenes Baghdader Kaufmanns aus den Tausendundein Nächten vorbeigelaufen ist,1 der mit goldenen Buchstaben über seinen Laden geschrieben hatte: „Es gibt keine List als die List der Frauen; denn ihre List ist die größte.“ Anfangs stand dort gerade das Umgekehrte: „Es gibt keine List als die der Männer, denn sie übertrifft die List der Frauen.“ Aber eine gut aussehende „Tochter der Fröhlichkeit“, die das las, geriet in Rage und wollte dem Mann eine Lektion verpassen. Sie verführte ihn und behauptete, sie sei die Tochter des Richters. Der Kaufmann hielt sofort beim Richter um die Hand seiner Tochter an. Die Hochzeit wurde schnell geregelt, aber als die Braut sich für ihn enthüllte, sah er eine ganz andere, hässliche und entstellte Frau vor sich. Am nächsten Tag kam die schöne Frau wieder vorbei und zwang ihn die Inschrift über seinem Laden zu ändern. Dabei blieb es nicht: die Frau schaffte es sogar beim Richter, der wohl erleichtert gewesen war seine hässliche Tochter los zu werden, eine sofortige Scheidung zu bewirken und heiratete den Kaufmann selbst.

Von einer Frau, ja einem Mädchen, das gebildeter ist als Männer und sich nicht ziert männliche Gelehrte auf ihrem eigenen Fachgebiet zu schlagen, kann man ebenfalls in den Tausendundein Nächten lesen: in der Geschichte von der gelehrten und zugleich anmutigen Sklavin Tawaddud.2 In Anwesenheit des Kalifen Hārūn ar-Rashīd weiß dieses vierzehnjährige Mädchen die schwierigsten Fragen von Gelehrten über islamische Wissenschaften, Medizin, Astronomie und Philosophie zu beantworten und sie zeigt sich auch in Poesie, Tricktrack und Schach versiert. Nach jedem Test darf sie selbst jedem Gelehrten eine Frage stellen und sie verlangt, dass dieser sein Gewand oder seinen Turban, ablegen muss, wenn er keine Antwort weiß. Es endet unweigerlich damit, dass die Spezialisten im Hemd oder noch weniger dastehen. Einer bittet sogar darum, wenigstens seine Unterhose anbehalten zu dürfen.
Trotz des lustigen Strippokers liest sich die lange Erzählung nicht leicht, aber sie ist eine interessante Quelle zu dem damaligen Bildungskanon.

  • Tawaddud hat sogar ganz besondere anatomische Kenntnisse: Sie weiß nämlich, dass der Unterkiefer des Menschen aus einem Stück besteht und nicht aus zweien, wie der griechische Arzt Galen (ca. 129–200) und die ganze nahöstliche Schulmedizin immer behauptet hatten. Vielleicht hatte sie selbst ein Skelett gesehen, oder sie hatte das Kitāb al-ifāda wal-iʿtibār von ‘Abd al-Laṭīf al-Baġdādī gelesen, der als einziger arabischer Gelehrter dasselbe behauptet. Der soll nämlich um 1200 während einer Hungersnot in Ägypten viele Skelette angesehen haben. Nach ihm sollte es noch Jahrhunderte dauern, bis Vesalius3 die richtige Information über den Unterkiefer auch in Europa verbreitete.

DhatAlHimmaEnglBookcoverWeniger bekannt dürfte sein, dass arabische Frauen sich im Bereich der Kernkompetenz der Männer, nämlich beim Kämpfen, genau so gut schlugen wie diese—wenn nicht sogar noch besser. Davon erzählen nicht die Tausendundein Nächte, sondern etliche andere jahrhundertealte Erzählungen, wie Dhāt al-Himma und Sīrat ‘Anṭara, Sammlungen mit Hunderten, wenn nicht Tausenden von Seiten, in denen es von kämpfenden Frauen nur so wimmelt. Es sind Volksepen (sīra sha‘bīya), die mündlich von Erzählern in Kaffeehäusern weitergereicht, aber auch in Heftchen von Buchhändlern verliehen wurden. So fiktiv und fantastisch sie auch sind, für das Publikum war das islamische Geschichte, die man lieber hörte als die Tausendundein Nächte, die ja nur zur Unterhaltung dienten.
Heutzutage sind diese Epen ziemlich in Vergessenheit geraten: Die Erzähltradition ist fast ausgestorben und dazu kommt noch, dass Literaturwissenschaftler in Ost und West meist nicht an Volksliteratur, sondern nur an gehobener Literatur interessiert sind. Das könnte sich aber jetzt ändern, denn Remke → Kruk hat diese Wälzer der Vergessenheit entrissen und gleich eine spannende Studie darüber geschrieben: The Warrior Women of Islam.

Ein Werk möge als Beispiel dienen, in dem eine Kriegerin die Hauptrolle spielt: Dhāt al-Himma,4 ein Erzählzyklus von mehr als sechstausend dichtbedruckten Seiten in Reimprosa. Die Handlung hier zusammenzufassen ist unmöglich: → Lyons brauchte nur dafür schon hundertsechzig Seiten! Leitmotive sind einerseits die Rivalität zwischen zwei arabischen Stämmen, andererseits der Dauerkrieg zwischen den Muslimen und dem Oströmischen Reich.
Dhāt al-Himma weist die meisten Züge eines klassischen männlichen Helden auf—und noch einige andere mehr: Frömmigkeit, Treue zum Kalifen, mütterliche Fürsorge. Klassisch ist auch, dass sie als Kind aus Sicherheitsgründen bei einer Amme untergebracht wird. Sie lernt schon sehr früh ihre eigenen Waffen anzufertigen und zu Pferd zu kämpfen. Zusammen mit der Amme wird sie aber von einem anderen Stamm versklavt. Als nach einem Zweikampf mit ihrem Vater ihre Identität entdeckt und sie als Prinzessin anerkannt wird, will ihr Vater sie verheiraten. Sie will aber keinen Mann, und schon gar nicht ihren Cousin, den Wunschkandidaten ihres Vaters. Als der Kalif sie trotzdem mit ihm verheiratet, will sie die Ehe nicht vollziehen. Ihr Mann lässt sie aber betäuben und vergewaltigt und schwängert sie — während sie die Regel hat, was zufolge hat, dass ihr Sohn schwarz wird. Im Laufe der Zeit tötet sie sowohl ihren Mann als ihren Vater: Auf Männer ist nun mal kein Verlass, außer auf ihren Sohn, den sie fromm erzieht und eigenhändig zu einem Kämpfer ausbildet. Später im Erzählzyklus bildet sie mit ihm ein gefürchtetes Kriegergespann.
Dhāt al-Himma glänzt nicht nur im Zweikampf; sie ist auch eine großartige Heerführerin und Strategin. Unzählige Schlachten mit römischen und anderen Fürsten bestreitet sie, meist erfolgreich, aber nicht ohne selbst hin und wieder in Schwierigkeiten zu geraten oder sogar gefangen zu werden — sonst wären die Erzählungen spannungslos geworden.

Einmal wird sie von ihrem Gegner aus dem Sattel geworfen und nach einem Ringkampf von ihm auf die Schultern gehoben. Aber noch gibt sie nicht auf:

  • … und siehe da, Prinzessin Dhāt al-Himma hatte Hadlāmūs’ Kopf im Haltegriff und presste ihn mit aller Macht, bis das Blut aus seinen Ohren spritzte. Darauf gab sie ihm einen so gewaltigen Schlag auf den Kopf, dass ihm die Zähne aus dem Mund flogen und er ohnmächtig zu Boden ging. Sie stürzte sich auf ihn; er hatte keinen Schimmer, wo er war. Sie legte ihre Hände unter seine Achseln und hob ihn auf ihre Schultern. So wurde er zurück getragen, wo er doch anfangs sie getragen hatte. 5

Dhāt al-Himma war nur ein Beispiel; in den Epen sind Hunderte von Kriegerinnen aktiv; übrigens auch bei den oströmischen Gegnern.
Manchmal kämpfen 
die Frauen mit typisch weiblichen Mitteln. Zum Beispiel entblößt eine Kriegerin in der Hitze des Nahkampfs ihre Brüste oder noch mehr, worauf ihr männliches Gegenüber so in Verwirrung gerät, dass sie ihn leicht fertig machen kann.
 Aber meistens kämpfen die Frauen knallhart wie Männer und sind auch als solche gekleidet.
An Männern scheinen sie oft nicht interessiert zu sein oder nur als Erzeuger ihrer Kinder. Kriegerinnen bekämpfen auch andere Frauen aber sie respektieren und bewundern sich gegenseitig. Für häusliche Frauen dagegen, die nur Babys kuscheln oder Männern gefallen wollen, haben sie nicht viel übrig. Dhāt al-Himma nimmt die schönsten und tapfersten Feindinnen gefangen, als Gattinnen für die männlichen Krieger in ihrem Umfeld. Manchmal entstehen so doch glückliche Paare.

Gab es arabische Kriegerinnen nur in Erzählungen oder auch in Wirklichkeit? In Europa gab es in früheren Jahrhunderten immer wieder einige weibliche Soldaten und Matrosen, die sich aber nicht als Frauen zu erkennen gaben (Ausnahme: Jeanne d’Arc). In Japan gab es viele weibliche Samurais, die sich nicht verstecken mussten, sondern sogar berühmt waren: die Onna-Bugeisha. Dort waren die Waffen leichter und die Kampftechniken geschlechtsneutraler, so dass es weniger auf Muskelkraft ankam. Arabische Kämpferinnen kann man sich durchaus vorstellen, aber ob es sie wirklich gab, ist einfach nicht bekannt. Man könnte vielleicht mal die Knochen auf bekannten Schlachtfeldern analysieren (Marketenderinnen und Huren erst ausschließen).

Bleibt die Frage, warum kämpfende Frauen als Thema beim männlichen Publikum, das diesen Erzählungen lauschte, so beliebt waren. Eine Antwort auf diese Frage gibt es noch nicht, aber sie wird eher von Psychologen oder Anthropologen als von Arabisten kommen.

In Comicheften und in Fantasyfilmen, die oft Volksepen in moderner Gestalt sind, hat die arabische oder muslimische Kriegerin neue Popularität erhalten: die Superwoman. Dabei ist es fraglich, ob deren Autoren von der Tradition, die sie neu beleben, auch nur die geringste Ahnung haben.

ANMERKUNGEN
1. In „Die Geschichte von der Weiberlist,“ Enno Littmann, Erzählungen, iii, 502–8. Der arabische Text steht nicht in der gängigen Ausgabe von Būlāq, 1835. Littmann zufolge kann man ihn finden in Alf laila wa-laila, Calcutta 1814, ii, 367–78 (nicht gesehen); mehr Info in Marzolph/Van Leeuwen, 454 und „Concordance of Quoted Texts“ Nr. 340.
In ihrer Kurzgeschichte „Die List der Männer“ (Kaid ar-riǧāl, in Maqām Aṭīya) spielt die ägyptische Schriftstellerin Salwā Bakr auf die ursprüngliche Inschrift über dem Laden an. Bei ihr misslingt nämlich die List dreier Frauen, die sich ihres gemeinsamen Ehegatten durch Gift zu entledigen suchen. Der Mann wird von seinem Freund, dem Apotheker, gewarnt, nimmt das Gift nicht, täuscht seinen Tod nur vor, wacht überraschend auf und verstößt seine Frauen, die auf der Straße enden.
2. Alf laila wa-laila, Būlāq, 1835, i, 614–36; Enno Littmann, Erzählungen iii, 626–696. Tawaddud تودد liest sich in arabischer Schrift fast wie Teodor تودر ; so ist der Name in der spanischen Erzählung von der donzella Teodor gelandet. Später verarbeitete Lope de Vega (1562–1635) den Stoff zu einem Theaterstück.
3. Vesalius, De humani corporis fabrica, Basel 1543, S. 5ff
4. Kruk, Warriors, 37–91.
5. Kruk, Warriors, 55; meine Übersetzung.

BIBLIOGRAPHIE
Alf laila wa-laila, 2 Bde., Būlāq 1835.
– Salwā Bakr, Maqām Aṭīya. Riwāya wa-qiṣaṣ qaṣīra, Kairo 1986.
– Peter Heath, „Sīra Sha‘biyya,“ in EI2.
– Remke Kruk, The Warrior Women of Islam, Female Empowerment in Arabic Popular Literature, London (I.B. Tauris) 2014.
– Enno Littmann, Die Erzählungen aus den Tausendundein Nächten, 12 Teilbände, Wiesbaden (Insel Verlag) 1981.
– Lope de Vega, La doncella Teodor. Estudio y edición crítica de Julián González-Barrera, Kassel (Ed. Reichenberger) 2008.
– Malcolm C. Lyons, The Arabian Epic. Heroic and Oral Story Telling, 3 Bde., Cambridge 1995.
– Ulrich Marzolph und Richard van Leeuwen (Hrsg.), The Arabian Nights Encyclopedia, Santa Barbara/Denver/Oxford 2004.

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Umar ibn abi Rabi‘a, Gedicht

Ein wenig alte arabische Poesie möchte ich hier auch loswerden. Die altarabische Poesie ist besonders reichhaltig. Sie war für mich zwar nicht der Grund Arabisch zu studieren, aber ab einem gewissen Augenblick schon der Grund weiterzumachen.
Leider kann ich Poesie nicht poetisch übersetzen — und schon gar nicht in die Fremdsprache, die Deutsch für mich ist. Ich werde es denn auch nicht versuchen und gebe nur nüchterne Sätze, die die Bedeutung des Gelesenen wiedergeben sollen. So kann keine poetische Leseerfahrung zu Stande kommen, aber vielleicht hat es einen Nutzen um sich einen Eindruck von der Thematik zu verschaffen.

Es folgt ein Gedicht von ‘Umar ibn abī Rabī‘a, der um 700 in Mekka lebte. Er gehörte zu einer vornehmen Familie aus dem Stamm Quraisch. In Mekka boomte zu der Zeit das Pilgerwesen. Nach den Jahren (680–692), in denen die Stadt durch ein Gegenkalifat von Syrien, dem damaligen Mittelpunkt des Araberreichs, abgeschnitten war, war jetzt die Einheit wiederhergestellt. Arabien spielte wieder eine wichtige Rolle im Reich und die Karawanen aus Damaskus trotteten hin und her. Wie viele Pilgerorte war auch Mekka ein Treffpunkt, wo man flirten und auf Partnersuche gehen konnte. ‘Umars Poesie hat oft Mekka als Kulisse; wir schauen quasi zu, wie die vornehmen Damen aus dem Norden aus ihren Sänften steigen. Das lyrische Ich hält die Augen offen, flirtet und beschränkt sich vielleicht nicht nur auf das Zuschauen. Inwieweit die Gedichte Wirklichkeitsgehalt haben, bleibt unklar.

  • Ach, hätte doch Hind ihre Versprechen erfüllt und unsere Seele von ihrem Leiden geheilt!
    Hätte sie nur einmal ihren Willen durchgesetzt! (Ein Schwächling ist, wer seinen Willen nicht durchsetzen kann.)
    Man sagt, sie fragte Ihre Nachbarinnen, als sie sich einmal entblößt hatte um sich zu erfrischen:
    „Seht ihr mich, wie er mich sieht? Kommt, sagt es mir! Oder übertreibt er?“
    Da lachten sie untereinander und sagten zu ihr: „Jedes Auge findet schön, wen es gern hat.“
    So sprachen sie aus Eifersucht, von der sie erfüllt waren. (Von alters her gab es unter den Menschen Neid.)
    „Ein rankes junges Ding ist sie; wenn sie ihre Zähne beim Lachen entblößt, siehst du Kamille oder Hagelkörner.
    In ihren Augen wechseln sich Tiefschwarz und Weiß; grazil ist ihr Hals.
    Sanft ist sie: kühl im Sommer, wenn die Hitzeglut schon am Morgen auflodert,
    und warm im Winter: eine Decke für den jungen Mann, wenn bittere Kälte ihn bedeckt.“
    Ich weiß noch gut, dass ich ihr sagte, während die Tränen mir über die Wangen strömten:
    „Wer bist du?“ fragte ich. „Oh,“ sagte sie, “eine, die durch Leidenschaft abgemagert ist, durch Kummer schwer mitgenommen.
    Wir sind die Leute von al-Khaif, zu den Leuten Minās gehörend — für einen, den wir töten, gibt es keine Vergeltung.“
    Ich sagte: „Willkommen. Du bist, was wir begehren; sag bloß, wie heißt du?“ „Ich bin Hind,“ sagte sie,
    „mein Herz ist zum Wahnsinn gebracht, denn es ist von einem fein gekleideten jungen Mann erfüllt, kerzengerade wie eine Lanze.
    Deine Leute sind in der Tat unsere Nachbarn; wir und sie sind ein und dasselbe.“
    Sie sagen mir, sie habe mich behext – aber welch herrliche Hexerei ist das!
    Immer wenn ich fragte: „Wann ist unser Stelldichein?“ lachte Hind und sagte: „Übermorgen!“

Kommentar
ihren Willen durchgesetzt: Das Ich, die naive Dichterpersona, geht davon aus, dass Hind natürlich sehr gerne ein Stelldichein mit ihm hätte, aber sich als anständige, abhängige Frau nicht von ihren Begleitern lösen könne um eine beliebigen jungen Mann zu treffen, wie attraktiv der auch sei.
unsere Seele von ihrem Leiden geheilt: Das Ich spricht hier im dichterischen Bescheidenheitsplural; später im Gedicht dann nicht mehr. In der arabischen Poesie können „wir“ und „ich“ einander schnell abwechseln. Der verliebte Mann leidet: das ist Standard in der Liebespoesie der frühislamischen wie auch der späteren Zeit. Die Geliebte dagegen ist kalt und grausam und spielt ihr Spiel mit ihm.
Ein Schwächling ist, wer seinen Willen nicht durchsetzen kann, und Von alters her gab es unter den Menschen Neid: In arabischen Gedichten kommen solche allgemeinen „Weisheiten“ oft vor, auch gerne als Sprichwörter. Das Gedicht wird quasi zur Abwechslung kurz angehalten für eine allgemeine Betrachtung, der die Zuhörer zustimmen können.
Jedes Auge findet schön, wen es gerne hat ist auch solch eine Weisheit; hier elegant den Nachbarinnen in den Mund gelegt.
Ein rankes junges Ding […] Kälte ihn bedeckt. Der Eindruck wird erzeugt, dass dies die Verse sind, die der Dichter auf die schöne Frau geschmiedet hat — ungefähr wie die piropos in Spanien vielleicht? Aber die Beschreibung ihrer Schönheit hat nichts Individuelles; es sind genau die Klischees, die zu erwarten sind. Das ist nicht abwertend gemeint: Klischees sind in der altarabischen Poesie zu Hause; der Dichter zeigt sein Können, indem er sie gekonnt variiert.
Im nachfolgendem Zwiegespräch zeigt sich der Mann als ein ziemlicher Waschlappen, während Hind raffiniert und grausam ist. Sie behauptet, sie sei durch Leidenschaft abgemagert, durch Kummer schwer mitgenommen. Das ist ein frecher Rollentausch! Sie soll verliebt sein? Normalerweise spricht in Gedichten der verliebte Mann solche Worte. Hind ist natürlich gar nicht verliebt, sondern wird den armen Kerl um den Finger wickeln.
al-Khaif […] Minās gehören — für einen, den wir töten, gibt es keine Vergeltung. Minā, wo die Pilger sich aufhalten, gehört zum Heiligtum Mekkas. Dort ist Blutvergießen nicht erlaubt und Blutrache ebenso wenig. Das passt der Hind so in den Kram: Sie wird ihr Beutetier unbestraft töten können; sie warnt es bereits im Voraus. Töten wird sie im übertragenen Sinne, versteht sich: die Frau wird oft dargestellt als eine, die aus ihren Augen Pfeile abschießt und dadurch den schmachtenden Liebhaber tötet. Eine „Liebe auf den ersten Blick“ führt oft zum Liebestod, zumindest in der Literatur. Die Verschleierung der Frauen hat ja ihren Grund: sie verhindert tödliche Unfälle.
Ich heiße Hind: ein in der konventionellen alten Poesie üblicher Frauenname. So heißt nahezu jede.
Mein Herz […] erfüllt: Abermals tut Hind, als wäre sie diejenige, die durch Liebe in den Wahnsinn getrieben wird. Der fein gekleidete junge Mann, kerzengerade wie eine Lanze, was ebenfalls ein schmeichelhaftes Klischee ist, soll sich natürlich auf das lyrische Ich beziehen.
Sie haben mir gesagt: Die Freunde der Ich-Figur; Personen die traditionell den leidenden Liebhaber zu retten versuchen, was hier wohl nicht gelingen wird.
Behext: Ob so oder so, die Frau ist auf jeden Fall schuld an dem jämmerlichen Zustand, in dem das Ich sich befindet.
Mit dem Wort Übermorgen gibt Hind schließlich zu verstehen, dass es nie ein Stelldichein mit dem lyrischen Ich geben wird. Das haben alle Hörer des Gedichts längst begriffen; nur er selber nicht.
Nach dem letzten Vers beginnen seine Seufzer quasi auf’s Neue. Wenn wir die ersten beiden Zeilen nochmals lesen, sehen wir, wie falsch er die Lage eingeschätzt hat: Hind ist nur allzu gut in der Lage selbständig zu handeln!

QUELLE: Der Diwan des ‘Umar ibn abi Rebi‘a, hrsg. von Paul Schwarz, Leipzig 1901–09, ii S. @@.

ORIGINALTEXT

لَيْتَ هِنْدًا أَنْجَزَتْنَا مَا تَعِدْ * وَشَفَتْ أَنْفُسَنَا مِمَّا تَجِدْ
وَاسْتَبَدَّتْ مَرَّةَ وَاحِدَةً * إنَّمَا العَاجِزُ مَنْ لاَ يَسْتَبِدْ
زَعَمُوهَا سَأَلَتْ جَارَاتِنَا * وَتَعَرَّتْ ذَاتَ يَوْمٍ تَبْتَرِدْ
أَكَمَا يَنْعَتُنِي تُبْصِرْنَنِي * عَمْرَكُنَّ اللهَ أَم لاَ يقْتَصِدْ
فَتَضَاحَكْنَ وَقَدْ قُلْنَ لَهَا * حَسَنٌ فِي كُلِّ عَيْنٍ مَنْ تَوَدْ
حَسَدًا حُمِّلْنَه مِنْ أَجْلِهَا * وَقَدِيمًا كَانَ فِي النَّاسِِ الحَسَدْ
غَادَةٌ يَفْتَرُّ عَنْ أَشْنَبِهَا * حِينَ تَجْلُوهُ إَقَاحٍ أَوْ بَرَدْ
وَلَهَا عَيْنَانِ فِي طَرْفَيْهِمَا * حَوَرٌ مِنْهَا وَفِي الجِيدِ غَيَدْ
طَفْلَةٍ بَارِدَةُ القَيْظِ إذَا * مَعْمَعَان الصَيْفِ أَضْحَى يَتَْقِدْ
سُخْنَةُ المَشْتَى لِحَافٌ لِلْفَتَى * تَحْتَ لَيْلٍ حِينَ يَغْشَاهُ الصَّرَدْ
وَلَقَدْ أَذْكُرُ إذْ قُلْتُ لَهَا * وَدُمُوعي فَوْقَ خَدِّي تَطَّرِدْ
قُلْتُ مَنْ أَنْتَ فَقَالَتْ أَنَا مَنْ * شَفَّهُ الوَجْدُ وَأبْلاَهُ الكَمَدْ
نَحْنُ أَهْلَ الخَيْفِ مِنْ أَهْلُ مِنًى * مَا لِمَقْتُولٍ قَتَلْنَاهُ قَوَدْ
قُلْتُ أَهْلاً أَنْتُمُ بُغْيَتُنَا * فَتَسَمَّيْنَ فَقَالَتْ أَنَا هِنْدْ
إنَّمَا خُبِّلَ قَلْبِي فَاحْتَوَى * صَعْدَةً فِي سَابِرِيٍّ تَطَّرِدْ
إنَّمَا أَهْلُكَ جِيرَانٌ لَنَا * إنَّمَا نَحْنُ وَهُمْ شَيْءٌ أَحَدْ
حَدَّثُونِي أَنَّهَا لِي نَفَثَتْ * عُقَدًا يَا حَبَّذَا تِلْكَ العُقَدْ
كُلَّمَا قُلْتُ مَتَى مِيعَادُنَا * ضَحِكَتْ هِنْدٌ وَقَالَتْ بَعْدَ غَدْ

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Aziz, oder vom Nutzen der Liebesdichtung

Aziz aus Tausendundeiner Nacht ist ein unerfahrener Liebhaber, der mit seiner Nichte Aziza vermählt werden soll. An seinem Heiratstag geht er ins Badehaus um sich fein zu machen, aber auf dem Rückweg verliebt er sich heillos in eine wunderschöne, geheimnisvolle Frau, die er im Vorbeigehen kurz zu Gesicht bekommt. Er träumt so apathisch weg, dass er glatt seine eigene Hochzeit vergisst.
Aziza liebt ihn aber mit selbstloser Liebe. Sie tut alles, um seine Affäre mit der anderen Frau in Gang zu bringen und ihn darin zu beschützen. Sie klärt ihn über die Listen der Frauen auf, erklärt die rätselhaften Zeichen, die die andere Frau ihm gibt, gibt ihm Kodes und Schutzformeln mit auf den Weg, und versucht ihm die höfische Liebespoesie beizubringen, zum Beispiel:

  • Wer sagt, der Liebe Anfang sei ein freies Wählen,
    Dem sage nur: Du lügst; nein, sie ist nichts als Zwang.
    Und wer gezwungen ist, dem trifft doch keine Schande.
    Der Liebe Echtheit kündet auch ein rechter Klang.
    — Als falsch erklärt man nicht die Münzen, die da echt.
  • Und wenn du willst, so sage auch: Ein süßes Leiden,
    Ein wunder Schmerz im Leibe oder auch ein Schlag,
    Ja, eine Gnade oder Plage oder ein Verhängnis,
    Dran sich sie Seele trösten oder quälen mag,
    — Ach, zwischen Leid und Freud find ich mich nicht zurecht.
  • Und doch, der Liebe Tage sind wie frohe Feste,
    Ein immerwährend Lächeln einer schönen Maid,
    Ein unbeschreiblich Fächeln süßer Wohlgerüche,
    Und sie entrückt uns fern von aller Häßlichkeit
    — Nie sucht sie ein Herz sich aus, das feig und schlecht.1

Aziza tauscht auch Verse mit der anderen Frau aus, wobei Aziz immer als Bote auftritt. Er muss dann beispielsweise zu seiner Freundin sagen:

  • O ihr liebenden, bei Allah, saget an:
    Wenn ihn die Liebe plagt, was tut der Mann?
    Er hütet seine Liebe, birgt sein Geheimnis treu,
    Und harrt geduldig aus in allem, was es sei!

… worauf Aziza erwidert:

  • Wie kann er die Liebe hüten, wenn sie ihm das Leben räubt,
    Und wenn das Herz ihm täglich in tausend Stücke springt?
    Wohl hat er die rechte Geduld gesucht, doch fand er nichts
    Als nur ein Herz, das immer mit quälender Sehnsucht ringt.

… und die Freundin wieder:

  • Wenn die Kraft, um sein Geheimnis zu hüten, sich ihm nicht bot,
    So weiß ich keinen Rat für ihn als nur den Tod!2

Die Erzählung enthält noch mehr Poesie, die zusammen einen schönen Eindruck von den Motiven der arabischen Liebestheorie bietet. Aziz nimmt sich die Lektionen freilich nicht zu Herzen: Er ist blauäugig und unbeherrscht; im kritischen Augenblick frisst er sich voll — und das, während arabische Liebhaber spindeldürr sein sollen! —, oder er schläft ein, so dass das Stelldichein nicht stattfindet. Wie ein widerspenstiges Kleinkind, das seinen Willen nicht bekommt, tritt und misshandelt er seine liebe Nichte, die ihrerseits durchaus bereit ist ihn zu füttern und sein Essen vorzukauen.
Als Aziza letztendlich vor Kummer und unerfüllter Liebessehnsucht stirbt3 — eine gängige Todesursache in der arabischen Literatur — ist Aziz ungerührt, aber fortan auch ganz hilflos. Nach einer Periode mit seiner Freundin weiß eine alte Frau ihn in eine Ehe mit ihrer Tochter, und dadurch in die Vaterschaft zu manövrieren. So gerät er in Gefangenschaft zweier Frauen, die viel gefährlicher sind als lose Dirnen: eine Schwiegermutter und eine Gattin. In dem Hühnerstall tut er ein Jahr lang „was der Hahn tut“ — essen, trinken und treten. Sobald er entwischen kann, geht er zu seiner ersten Flamme zurück; die ist jedoch so wütend wegen seiner Untreue, dass sie ihn kastriert. In seinem Elend zieht er bei seiner Mutter ein und versteht endlich, was seine verstorbene Nichte für ihn empfunden hatte.

In dieser Erzählung ist die Umwertung aller Werte zu erkennen, die für Tausendundeine Nacht typisch ist. Die Frauen sind vernünftig und dominant. Aziz dagegen ist kein Mann, sondern ein Jüngelchen: Er hat keine Selbstbeherrschung, wahrt das Liebesgeheimnis nicht, sondern plappert alles heraus, ist völlig von Frauen abhängig, lässt sich einsperren und wird zuletzt ganz wie eine Frau. Eine Gräuelgeschichte, die für das männliche Publikum eine Warnung sein will: Sei ein Kerl, mach dich mit der Hinterlist der Frauen vertraut und bedenke, dass eine arrangierte Ehe so schlecht doch nicht ist!

Ist das hier oben nun die berühmte arabische Poesie? Ach nein, es ist nur Gereime, in der Übersetzung — die von dem berühmten Orientalisten Enno Littmann stammt — genau so wie im Original. Diese Verse sind nicht mehr als ein Abklatsch der kunstvollen Liebespoesie. Jene erstklassige Poesie werden die Erzähler der Tausendundeinen Nacht vielleicht nicht gekannt haben, — und die Hörer noch weniger. Aber der Erzähler hat schon verstanden, dass man sich mit Poesie Kopf und Kragen retten kann, und er hat sie gut in die Erzählung integriert und eine selbständige Rolle spielen lassen.
Die lebensrettende Wirkung der Literatur ist das Leitmotiv in Tausendundeiner Nacht. Man kennt es von Schehrezad (Shahrazād), die sich rettet, indem sie einem blutrünstigen König jede Nacht eine Geschichte erzählt, und in dieser Erzählung steckt es auch. Aziz stirbt nun gerade noch nicht, aber sein Leben ist zerstört. Wie hätte er den Umgang mit Frauen erlernen können? Natürlich durch die Liebespoesie, die Aziza ihm vergebens beizubringen versuchte. Die Literatur geht ja immer dem Leben voraus. Hätte Aziz die Zeichen verstanden und die Poesie gekannt, so hätte er ein Mann werden können.

[Auch veröffentlicht in zenith, November/Dezember 2012].

ANMERKUNGEN
1. Alf laila wa-laila, Būlāq 1251/1835, Bd. i, 237. Littmann hat eine etwas andere Ausgabe benutzt.

من قال أوّل الهوى اختيار * فقل كذبت كلّه اضطرار
وليس بعد الاضطرار عار * دلت على صحّته أخبار
وما زيفت على صحيح النقد
فإن تشأ فقل عذاب يعذب * أو ضربان في الحشى أو ضرب
أو نعمة أو نقمة أو أرب * تُأنَّس النفس به أو تُعطب
قد حرت بين عكسه والطرد
ومع ذا أيّامه مواسم * وثغرها على الدوام باسم
ونفحات طيبها مواسم * وهو لكل ما يشين حاسم
ما حل قط قلب ندل وغد

2. Alf laila wa-laila, Būlāq 1251/1835, Bd. i, 245–6.

ألا أيّها العشاق بالله خبروا * إذا اشتدّ عشق بالفتى كيف يصنع؟
يداري هواه ثم يكتم سرّه * ويصبر في كلّ الأمور ويخضع
لقد حاول الصبر الجميل ولم يجد * له غير قلب في الصبابة يجزع
فإنْ لم بجد صبرًا لكتملن سرّه * فليس له عندي سوى الموت أنفع
سمعنا اطعنا ثم متنا فبلّغوا * سلامي على من كان للوصل يمنع

3. Alf laila wa-laila, Būlāq 1251/1835, Bd. i, 245–7.
LITERATURHINWEISE:
– Arabischer Urtetxt: Alf laila wa-laila, Bulāq 1251/1835, Bd. i, 235–54 (Nacht 112–128).
Die Erzählungen aus den Tausendundein Nächten. Zum ersten Mal nach dem arabischen Urtext der Calcuttaer Ausgabe vom Jahre 1839 übertragen von Enno Littmann, 6 Bde., Leipzig (Insel) 1921–8. Diese Übersetzung ist des Öfteren als Inseltaschenbuch 224 im Angebot. Sie ist vorzüglich, aber zu Grunde liegt eine etwas andere Ausgabe als die gerade erwähnte. Aziz und Aziza (ʿAzīz und ʿAzīza) steht hier in Band ii, 25–79. Die obigen Poesieübersetzungen sind auch von Littmann.
– Von anderen Übersetzungen rate ich ab. Die Tausendundeine Nacht ist oft sehr schlechten Übersetzern und Bearbeitern zum Opfer gefallen. Dazu gehört sicherlich nicht Claudia Ott, die eine sehr gute Übersetzung veröffentlicht hat; diese enthält aber nicht die Erzählung van Aziz und Aziza.
– Sekundärliteratur: U. Marzolph und R. van Leeuwen, The Arabian Nights Encyclopaedia, 2 Bde., Sta. Barbara 2004, S. 111–3.

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