Wer hat den Koran geschrieben?

Manche Muslime werden diese Frage vielleicht beantworten mit: „Gott“. Theologisch geschulte Muslime werden aber vermeiden wollen Gott als Autor zu nennen und etwas sagen wie: „Der Koran ist Gottes Buch, der Koran kommt von Gott.“
Dass der Koran von Gott kommt, ist eine Überzeugung, die nahezu alle Muslime gemeinsam haben. Auch ein moderner Textwissenschaftler wie Nasr Hamid Abu Zaid, der einsah, dass Sprache und Gestaltung des Korans sehr menschlich sind, zweifelte nicht daran, dass der Inhalt göttlich sei. Nur ganz moderne, liberale Muslime haben vielleicht etwas anderes im Kopf. Ich habe die marokkanische Autorin Fatima Mernissi mal bei der Aussage ertappt: „Mohammed hat gesagt … ,“ und dann folgte ein Koranvers. Wenn ich die Stelle wiederfinde, werde ich sie hier aufschreiben. Die Vorstellung aber, dass Gott der Autor des Korans wäre, also dass er sich quasi hingesetzt hätte, um ein Buch zu schreiben, passt nicht zur islamischen Gottesauffassung. Schreiben ist eine viel zu menschliche Tätigkeit.
Im neunten Jahrhundert hat es heftige Debatten über die Frage gegeben, ob der Koran erschaffen oder unerschaffen sei. Die Auffassung, er sei unerschaffen, hat gewonnen. Seitdem heißt es: Die Schrift war von Ewigkeit bei Gott, und man denkt dabei an Koran 85:21–22: بل هو قرآن مجيد في لوح محفوظ , „Es ist ein preiswürdiger Koran, auf einer wohlverwahrten Tafel.“ Gott habe aus dieser Urschrift an seinen Propheten Mohammed mehr als zwanzig Jahre lang Offenbarungen auf Arabisch herabgesandt. Zuvor habe er das schon bei anderen Propheten so gemacht, in einer Sprache und Form, die die Umstände zur jeweiligen Zeit erfordert hätten.

  • Hier scheint die Gefahr des Polytheismus (shirk) aufzutauchen. Wenn neben Gott noch etwas Ewiges existiert, ist Gott dann noch der Einzige? Liegt hier keine Buchverehrung auf der Lauer? Ich vertraue, dass islamische Theologen diese Gefahr schon vor tausend Jahren erkannt und beschworen haben, wenn ich auch momentan nicht wüsste, wie.

In Europa herrschte bis vor Kurzem auch Einstimmigkeit. Der Autor des Korans sei Mohammed gewesen, daran zweifelte niemand. Gott konnte es nach Auffassung der mittelalterlichen Christen keinesfalls gewesen sein: Der war ja der Gott der lateinischen Bibel und hatte mit der gefälschten Schrift der Muslime nichts zu tun. Früher herrschte in der Tat die Vorstellung, dass der Pseudoprophet Mohammed in böser Absicht eine falsche Schrift angefertigt habe.
Nach Meinung der mittlerweile kaum noch christlichen Orientalisten des 19. und 20. Jahrhunderts hat der Autor oder die Quelle nicht Gott sein können, weil es diesen einfach nicht gebe. „Demzufolge“ müsse Mohammed der Autor sein, denn der habe am meisten mit der Gestaltung des Textes zu tun gehabt. Er habe den Koran selbst erfunden, in Anlehnung allerdings an die jüdische und die christliche Tradition.
Ein später Orientalist wie W. Montgomery Watt betrachtete 1953 Mohammed noch immer als den Autor des Korans, aber er hatte sich schon Gedanken darüber gemacht, wie Offenbarung funktioniert. Von Arglist und böser Absicht ist bei ihm nicht länger die Rede. Watt ging davon aus, dass Mohammed subjektiv das Gefühl gehabt haben müsse, dass die Worte, die er dargereicht bekommen habe, von Gott stammten.

Wenn es Gott nicht war, dann war es Mohammed: Das ist eine Logik, die heutzutage nicht mehr viele überzeugt. An zwei Stellen wird der alte Standpunkt angegriffen.
– Erstens beim textkritischen Studium des Korans selbst: Wissenschaftler sehen jetzt klarer als je, dass der Koran kein einförmiges Buch ist, sondern aus unterschiedlichen Textgattungen besteht. Um nur einige zu nennen: Es gibt Texte, in denen ein „wir“ oder ein „ich“ spricht; es gibt solche in denen ein „du“ angeredet wird, welches manchmal als der Prophet aufgefasst werden kann, aber manchmal wohl jemand anderes sein muss. Es gibt auch viele Erzählungen über die biblischen Propheten, mit deren Hilfe der neu aufgetretene Prophet aufgebaut wird; aber soll dieser dann auch alle Texte selbst geschrieben haben? Der Name Mohammed wird im Koran viermal erwähnt; mehr gibt es nicht. Und es gibt Texte, die offensichtlich einen kultischen Zweck gehabt haben und nichts mit einem Propheten zu tun haben. Alle diese Texte könnten sehr wohl unterschiedliche Quellen gehabt haben. Überdies sind sie fester in den spätantiken Literaturen verwurzelt, als man bisher vermutete.
– Zweitens beim Studium der Prophetenbiografie (sira): Diese behandelt auch die Entstehungsgeschichte des Korans. Wenn nun aber die Forscher vom historischen Gehalt der Biografie nicht mehr viel halten und vielmehr davon ausgehen, dass letztere vielmeher vom Koran abhängig ist, gerät auch dessen Entstehungsgeschichte in die Schwebe.

Die modernsten Wissenschaftler neigen dazu, den Koran für ein nicht homogenes, anonymes Werk aus dem siebten Jahrhundert zu halten.
In Berlin beschäftigt sich eine Forschergruppe mit Koranforschung. Sie arbeitet textkritisch und berücksichtigt die spätantike Wurzeln der Schrift. Viele syrische Parallele hat man dort schon zugänglich gemacht. Einen Einblick in die vielfältige moderne Koranforschung bietet auch die International Qur’anic Studies Association (IQSA)

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„Anlässe der Offenbarung“ (sabab an-nuzul)

Gemeint ist hiermit die typische Art meist kurzer Texte, die erzählen, zu welchem Anlass ein Koranvers offenbart wurde. Sie heißen im Arabischen sabab an-nuzūl, Pl. asbāb an-nuzūl, und im Englischen occasion(s) of the revelation.
Der Form nach sind sie Berichte über Ereignisse. Etwas sei geschehen, so wird erzählt, und anlässlich dieses Vorfalls habe Gott einen Koranvers offenbart.

Eine vollständige sabab an-nuzūl-Erzählung hat die folgenden Teile (nicht notwendigerweise in dieser Abfolge)

  • Einen Hinweis auf ein Ereignis oder eine Sachlage,
  • [oft kombiniert mit der] Erwähnung von Personen­- und/oder Ortsnamen und eine Zeitangabe;
  • einige koranische oder stark an den Koran erinnernde Wörter, die den zu offenbarenden Vers vorwegnehmen;
  • eine Formel wie: „Darauf offenbarte Gott…“ oder: „Dieser Vers wurde offenbart zu/über …“;1
  • und schließlich den offenbarten Vers selbst.

Ein Beispiel:

  • Man fragt dich nach dem Wein und dem Losspiel. Sag: „In ihnen liegt eine schwere Sünde. Und dabei sind sie für die Menschen (auch manchmal) von Nutzen. Die Sünde, die in ihnen liegt, ist aber größer als ihr Nutzen.“ (K. 2:219)
    Dieser Vers wurde offenbart über ʿUmar ibn al-Khattāb und Mu‘ādh ibn Djabal und eine Gruppe aus den Helfern, die zu dem Propheten kamen und fragten: „Gib uns eine Regel über Wein und das Losspiel, denn beide sind Zerstörer des Verstandes und Plünderer des Besitzes“. Darauf offenbarte Gott den Vers.2

Während traditionell orientierte Muslime solche Erzählungen gerne als Berichte — also als Geschichtsschreibung — akzeptieren, betrachten moderne Wissenschaftler sie eher als Koranexegese, als tafsīr. In der Erzählung geht das Ereignis der Offenbarung des Koranverses voran. In Wirklichkeit wird es erst den Koranvers gegeben haben und dann wird, unter Verwendung einiger koranischer Wörter, die Erzählung hierzu kreiert worden sein. Im obigen Vers rufen ja bereits die Worte „Man fragt dich …“ den Wunsch nach einer Erzählung hervor: Wer waren die, die fragten, und wieso fragten sie? Die Erzähler „wussten“, wer es waren, und auch dass die genannten Personen dem Weingenuss und dem Spiel kritisch gegenüberstanden. Die Erzähler hatten immer eine Antwort parat — und manchmal auch zwei oder mehr; es gibt ja Verse mit mehreren „Anlässen“.

Die Sachlage wird noch klarer, wenn die verwendeten Koranwörter nicht alltäglich sind, wie in:

  • Eines Tages, als [der Prophet] mit seinen Vorbereitungen [für den Feldzug nach Tabūk] beschäftigt war, fragte er Djadd ibn Qais aus dem Stamm Salima: „Hast du Lust dieses Jahr gegen die Gelbhäuter zu kämpfen, Djadd?“ Dieser antwortete aber: „Ach, Prophet, gib mir Dispens und setz mich nicht der Versuchung aus, denn es ist bekannt, dass niemand so den Frauen verfallen ist wie ich, und ich fürchte, dass ich mich nicht beherrschen kann, wenn ich die Frauen der Gelbhäuter sehe.“ Der Prophet gab ihm die Erlaubnis und wandte sich von ihm ab. Der Koranvers wurde über Djadd ibn Qais offenbart: Und unter ihnen gibt es welche, die sagen: „Gib mir Dispens und setz mich nicht der Versuchung aus!“ Sind sie (denn) nicht (bereits) in Versuchung gefallen? Die Hölle wird (dereinst) die Ungläubigen (allesamt) umfassen,3 —das heißt: Es war nicht so sehr die Versuchung der Frauen der Gelbhäuter, die er zu befürchten hatte. Die Verführung, der er verfiel war viel größer, nämlich dass er zurückblieb und nicht mit dem Propheten mitging, und dass er, statt zu tun, was dieser wollte, lieber tat worauf er selbst Lust hatte.4

Würde die Offenbarung wirklich die Wortwahl von Djadd ibn Qais übernommen haben? Der Koranvers war zuerst da und erst danach entstand die Erzählung. Der Erzähler sah beim Wort „Versuchung“ noch Gelegenheit eine Pikanterie unterzubringen.

Auch wenn das beschriebene Ereignis unwahrscheinlich ist, wie in:

  • Der Prophet hat gesagt: Als eure Brüder in Uhud gefallen waren, tat Gott ihre Seelen in das Innere grüner Vögel, die aus den Flüssen des Paradieses trinken, von seinen Früchten essen und nisten in goldenen Lampen im Schatten von Gottes Thron. Als sie den Wohlgeruch ihres Essens und ihrer Getränke rochen und der schönen Stätte ihrer Mittagsruhe gewahr wurden, sagten sie: „Ach, wenn doch unsere Brüder wüssten, was Gott uns getan hat, so dass sie den Dschihad nicht aufgäben und nicht vor dem Kampf zurückschreckten!“ Dann sagte Gott: „Ich werde ihnen von euch berichten.“ Darauf offenbarte Er: Meine nicht, dass diejenigen, die für Gottes Sache gestorben sind, tot sind. Nein, sie sind lebendig, und ihnen wird bei ihrem Herrn (himmlische Speise) beschert […] usw..5

ist offensichtlich, dass der Koranvers der Erzählung vorausging.

„Anlass“-Erzählungen kommen in Korankommentaren (tafsīr), aber auch in der sira und in auf diese Gattung spezialisierten Werken, wie das von al-Wāḥidī (gest. 1076) vor. Siehe für weitere Beispiele hier: TeufelsverseAbsonderung der Frau.

Wozu dienen solche Erzählungen?

  • Einen Vers zu erklären.
  • Aus einer allgemein ­menschlichen Neigung zur Historisierung. Ereignisse aus dem Leben des Propheten Mohammed werden mit bestimmten Koranversen verknüpft.
  • Einen Koranvers zu datieren. Das war wichtig für die Rechtswissenschaft, denn ein jüngerer Koranvers „abrogiert“ ggf. einen älteren (d.h. schafft ihn ab, *naskh). Deshalb wollte man wissen, welche Verse früher und welche später datieren.

ANMERKUNGEN:    (Der fehlende arabische Text folgt noch)
1. Es wäre wohl zu anmaßend Gottes Beweggründe kennen zu wollen. Der Koranexeget Muqātil ibn Sulaimān (Tafsīr i, 458, zu K. 5:11) sagt zwar noch blauäugig: „Dieser Vers wurde offenbart, weil  … (li-anna), aber meist steht nur: „… wurde offenbart über/zu/in Bezug auf ().“ Auch dann entsteht aber der Eindruck, dass man weiß warum.
2. Al­-Wāḥidī, Asbāb al-nuzūl, zitiert bei Rippin, Occasions 570.
3. Koran 9:49, Übersetzung Paret. ‎وَمِنْهُمْ مَنْ يَقُولُ ائْذَنْ لِي وَلَا تَفْتِنِّي أَلَا فِي الْفِتْنَةِ سَقَطُوا وَإِنَّ جَهَنَّمَ لَمُحِيطَةٌ بِالْكَافِرِينَ
4. Ibn Isḥāq, Sīra: Das Leben Muhammed’s nach Muhammed Ibn Ishâk bearbeitet von Abd el-Malik Ibn Hischâm, hg. F. Wüstenfeld, Göttingen 1858–60, 894.

فقال رسول الله ص ذات يوم وهو في جهازه ذلك للجد بن قيس أحد بني سلمة : يا جد ، هل لك العام في جلاد بني الأصفر ؟ فقال : يا رسول الله ، أو تأذن لي ولا تفتني ؟ فوالله لقد عرف قومي أنه ما من رجل بأشد عجبا بالنساء مني ، وإني أخشى إن رأيت نساء بني الأصفر أن لا أصبر ، فأعرض عنه رسول الله ص وقال : قد أذنت لك
ففي الجد بن قيس نزلت هذه الآية : ومنهم من يقول ائذن لي ولا تفتني ألا في الفتنة سقطوا وإن جهنم لمحيطة بالكافرين أي إن كان إنما خشى الفتنة من نساء بني الأصفر ، وليس ذلك به ، فما سقط فيه من الفتنة أكبر ، بتخلفه عن رسول الله صلى الله عليه وسلم ، والرغبة بنفسه عن نفسه ، يقول تعالى : وإن جهنم لمن ورائه

5. K. 3:169–170; Abū Dāwūd, Ǧihād 25, aber auch schon bei Ibn Isḥāq, o.c., 604–5 und bei Muqātil ibn Sulaimān (gest. 767), Tafsīr, hg.. A.M. Shaḥāta, Cairo 1979, i, 314, und in aṭ-Ṭabarī, Tafsīr zum Koranvers.

LITERATUR:
– Andrew Rippin, „Occasions of revelation,“ in EQ.
– Andrew Rippin, „The function of asbāb al-nuzūl in qurʾānic exegesis,“ in BSOAS 51 (1988), 1–20.
– Hans-Thomas Tillschneider, Typen historisch-exegetischer Überlieferung. Formen, Funktionen und Genese des asbāb an-nuzūl-Materials, Würzburg (Ergon), 2011.  (580 S.) Wenn ich dieses Buch durchgelesen habe, muss ich den Text hier oben neu schreiben, so viel ist mir klar.
– Marco Schöller, Exegetisches Denken und Prophetenbiographie. Eine quellenkritische Analyse der Sīra-Überlieferung zu Muḥammads Konflikt mit den Juden, Wiesbaden 1998, 128–33.
– John Burton, „Abrogation,“ in EQ.

Kurzdefinitionen: DhimmiFatwa, Hadith, Isnad, Isra’iliyatKalif, Koranauslegung, Muslim, Naskh, ProphetenerzählungenSabab an-nuzulSchariaSiraSunnaTafsirTaqiya,

Diakritische Zeichen: ʿUmar ibn al-Ḫaṭṭāb, Muʿāḏ ibn Ǧabal, Ǧadd ibn Qais, Uḥud, nasḫ
asbāb asbab an-nuzul asbab al-nuzul sabab an-nuzul sabab al-nuzul

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Ausländischer Wolf

Ein Fragment aus einer Prophetenerzählung von at-Tha‘labī:

In Koran 12:17 sagen Josephs Brüder, nachdem sie ihn in der Wüste zurückgelassen haben, zu ihrem Vater Jakob: وتركنا يوسف عند متعنا فأكله الذئب , wir […] ließen Joseph bei unseren Sachen zurück. Da fraß ihn ein Wolf. Die Erzählung fantasiert darum herum:

  • [Jakob] sagte zu ihnen: „Wenn es wahr ist, was ihr sagt, daß der Wolf Joseph gefressen hat, wo ist dann der Wolf? Bringt ihn her!“ Da gingen sie hin, nahmen ihre Stricke und Stöcke, zogen in die Wüste, jagten einen Wolf, packten ihn und fesselten ihn. Dann brachten sie ihn zu Jakob und legten ihn vor ihn hin.
    [Dann … stellte Jakob den Wolf zu Rede … .] Da redete der Wolf und sagte: „Nein, bei der Wahrheit deiner grauen Haare, Prophet Gottes! Ich habe deinen Sohn nicht gefressen. Euer Fleisch und Blut, ihr Propheten, ist uns verboten. Ich bin, fürwahr, ein Wolf aus dem Land Ägypten.“ Da sagte Jakob zu ihm: „Und was hat dich in das Land Kanaan geführt?“ Er sagte: „Ich bin gekommen, um Wölfe, die mit mir verwandt sind, zu besuchen!“1

Der jüdische Ursprung (isrā’īlīyāt) des Motivs ist offenkundig, es basiert auf 1. Mose 37:33–35. Jedoch die Legende des sprechenden Wolfs bei Ginzberg2 ist seiner Meinung nach arabischen Ursprungs. Hier habe ich etwas grob sein archaisierendes Englisch übersetzt. Der Wolf hat in dieser Fassung eine schöne weinerliche Ausrede. 

  • … stand Jakob auf und sprach zu seinen Söhnen, mit Tränen in den Augen: „Los, nehmt eure Schwerter und Bogen, geht aus ins Feld und sucht; vielleicht findet ihr den Körper meines Sohnes und bringt ihn mir, so dass ich ihn begraben kann. Haltet auch Ausschau nach wilden Tieren und fangt das Erste, dem ihr begegnet, packt es und bringt es hierher! Vielleicht wird Gott mit mir in meinem Kummer Mitleid haben und wird das Tier, das mein Kind gerissen hat, in eure Gewalt bringen, so dass ich mich an ihm rächen kann.“
    Am nächsten Morgen zogen Jakobs Söhne aus, um die Bitte ihres Vaters zu erfüllen, während dieser zu Hause blieb und um Joseph trauerte. In der Wildnis fanden sie einen Wolf, den sie fingen und lebendig zu Jakob brachten, mit den Worten: „Hier ist das erste wilde Tier, dem wir begegnet sind; wir haben es mitgebracht, aber vom Körper deines Sohnes haben wir keine Spur gefunden.“ Jakob packte den Wolf und sprach mit vielem Aufhebens: „Warum hast du meinen Sohn Joseph gefressen, ohne jede Furcht vor dem Gott der Welt und ohne Rücksicht auf das Leid, das du mir antun würdest? Ohne Grund hast du meinen Sohn gefressen; er hatte sich nicht eines Vergehens schuldig gemacht, und die Verantwortung für seinen Tod hast du auf mich abgewälzt. Aber Gott rächt denjenigen, der verfolgt wird.“
    Um Jakob zu trösten, öffnete Gott den Mund des Tieres: „So wahr der Herr lebt, der mich erschaffen hat, und so wahr du lebst, mein Herr: Ich habe deinen Sohn weder gesehen noch gerissen. Ich bin aus einem Land weit von hier gekommen, um meinen eigenen Sohn zu suchen, der ein Schicksal erlitten hat wie der deinige. Er ist verschwunden und ich weiß nicht, ob er tot ist oder lebt, und deshalb bin ich vor zehn Tagen hierher gekommen um ihn zu suchen. Als ich heute auf der Suche war, begegneten mir deine Söhne, sie packten mich und brachten mich zu dir, wodurch sie meinen Schmerz über meinen verlorenen Sohn noch vergrößerten. Dies ist meine Geschichte – und jetzt, Menschenkind, bin ich in deinen Händen. Du kannst dich meiner entledigen, wie es dir gut dünkt, aber ich schwöre bei dem Gott, der mich erschaffen hat: Ich habe deinen Sohn nicht gesehen und ihn nicht gerissen; nie ist mir Menschenfleisch in den Mund gekommen.“ Verwundert über das, was der Wolf gesagt hatte, ließ Jakob ihn ungehindert seines Weges gehen, aber er trauerte wie zuvor über seinen Sohn Joseph.

 

ANMERKUNG:
1. At-Tha‘labī, Qiṣaṣ al-anbiyāʾ, Cairo 1347 (= 1929), S. 81.

فقال لهم يعقوب: إن كنتم صادقين أنّ الذئب أكله فأين الذئب؟ أتوني به! فعمدوا الى حبالهم وعصيهم فأخذوها ومضوا الى الصحراء فاصطادوا ذئبًا وشدّوه وأوثقوه كتافًا، ثم حملوه الى يعقوب وأوقفوه بين يديه. فقال: حلّوا عقاله فحلّوه. فقال له يعقوب: أقبلْ فأقبل الذئب يتخطّى القوم حتى وقف بين يدي يعقوب منكسًا رأسه. فقال له يعقوب: أيّها الذئب أكلت ولدي وقرّة عيني وحبيب قلبي وثمرة فؤادي، لقد أورثتني حزنًا طويلاً وألمًا عظيمًا. قال فتكلّم الذئب قال: لا وحقّ شيبتك يا نبي الله ما أكلت لك ولدًا وإن لحومكم ودماءكم معشر الأنبياء لمحرّمة علينا. وإني لمظلوم مكذوب عليّ، وإني لذئب غريب من بلاد مصر. فقال يعقوب: وما أدخلك أرض كنعان؟ قال: جئت لأجل قرابة لي من الذئاب أزورهم وأصلهم.
(الثعلبي، قصص الأنبيا المسمّى بالعرائس، القاهرة ١٣٤٧، ص ٨١)

Übersetzung Heribert Busse, Islamische Erzählungen von Propheten und Gottesmännern. Qisas al-anbiya‘ oder ‚Ara’is al-magalis, Wiesbaden 2006, S.153.
2. Louis Ginzberg, The Legends of the Jews, Philadelphia 1954–59, i, 28–9, online hier; v, 332 Anm. 66: Yashar Wa-Yesheb, 85a–85b. „This legend seems to be of Arabic origin, since in genuinely Jewish legends animals do not speak.“

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Prophetenerzählungen (Qisas al-anbiya’)

Prophetenerzählungen (Arabisch: قصص الأنبياء, qisas al-anbiyā’) erzählen nicht über den Propheten Mohammed, sondern über die vorangegangenen Propheten. Im Islam werden bestimmte biblische Persönlichkeiten als Propheten betrachtet, auch wenn sie dies nach der jüdischen und christlichen Tradition nicht waren: Adam, Noah, Abraham, Joseph, Moses, Hiob, Elia, David, Jesasja, Jona, Jesus u.a.
Der Koran hatte bereits von diesen Propheten erzählt. In der Anfangszeit des Islams führten die sog. Erzähler (qussās) dies fort, unter Verwendung jüdischen und christlichen Materials (isrā’īlīyāt), was in späterer Zeit weniger geschätzt wurde. Ein bekannter Erzähler auf diesem Gebiet war Wahb ibn Munabbih (± 654–728). Die zweitälteste noch bewahrte Sammlung ist die des al-Fārisī (gest. 902). Später wurden die Erzählungen gesammelt von ath-Thaʿlabī, al-Kisā’ī u.a. Die Sammlungen haben nicht nur die Propheten zum Thema, sondern auch die Schöpfung, und z.B. die Raumfahrt von Bulūqiyā, der im Weltall den Propheten suchte.
Viele Muslime können diese oft fantastischen Erzählungen aus religiöser Sicht nicht ernst nehmen, aber zum Wegwerfen sind sie doch zu spannend und lustig, so dass sie oft neu aufgelegt werden.
Einige Kostproben: Ausländischer Wolf, EnthaarungspastaDie Hölle nach al-Kisā’ī.

Literaturhinweise:
– R. G. Khoury, Wahb b. Munabbih. Teil 1. Der Heidelberger Papyrus PSR Heid Arab 23. Leben und Werk des Dichters. Teil 2. Faksimiletafeln, Wiesbaden 1972.
– al-Fārisī al-Fasāwī, Abū Rifā‘a ʿUmāra ibn Wathīma, Les légendes prophétiques dans l’Islam/depuis de Ier jusqu’au IIIe siècle de l’Hégire/ d’après le manuscrit d’—— /Kitāb Bad’ al-Khalq wa-Qisas al-anbiyā’, avec édition critique du texte, Wiesbaden 1978.
– Muhammad ibn ‘Abdallāh al-Kisā’ī, Tales of the Prophets (Qisas al-anbiyā’ ), transl. W.M. Thackston Jr., Chicago 1997.
– Ath-Tha‘labī, Heribert Busse (übers. u. kommt.), Islamische Erzählungen von Propheten und Gottesmännern. Qisas al-anbiyā’ oder ‘Arā’is al-magālis, Wiesbaden 2006.

Sekundär:
– Roberto Tottoli, Biblical Prophets in the Qurʾān and Muslim Literature, London/New York (Routledge) 2002. Oder wenn Sie lieber das ursprüngliche Italienisch lesen: I profeti biblici nella tradizione islamica, Brescia 1999.

Kurzdefinitionen: Anlässe der Offenbarung, DhimmiFatwa, Hadith, Isnad, Isra’iliyatKalif, Koranauslegung, Muslim, Naskh, Sabab an-nuzulSchariaSiraSunnaTafsirTaqiya,

Diakritische Zeichen: Waṯīma, Badʾ al-Ḫalq, qiṣaṣ al-anbiyāʾ, quṣṣāṣ, isrāʾīlīyāt, aṯ-Ṯaʿlabī, al-Kisāʾī.

Zurück zum Inhalt    qisas al anbia, qisas al-anbiya 

Tafsir (Koranexegese): Kurzdefinition

Tafsīr ist Koranexegese oder Koranauslegung. Man findet sie meist Vers nach Vers, in den Korankommentaren des Muqātil ibn Sulaimān, Mudjāhid, ‘Abd ar-Razzāq as-San‘ānī, at-Tabarī, al-Qurtubī, ath-Tha‘labī, az-Zamakhsharī, al-Baydāwī, Ibn Kathīr, al-Djalālayn und anderer.
In der Gegenwart gibt es den Kommentar al-Manār. Auch das große Werk Saiyid *Qutbs, Fī zilāl al-qur’ān, will Koranexegese bieten, sieht aber eher wie eine Sammlung von Predigten und Meditationen aus. Die Kommentare der Neuzeit bieten häufig nur Bruchstücke aus älteren Kommentaren.

Außer in Kommentaren findet man Koranexegese auch in anderen Werken: in sīra-Schriften, in den Prophetenerzählungen und in anderen populären Schriften. S. auch den Artikel Erzähler.
Der deutsche Wikipedia-Artikel „Tafsīr“ ist gediegen und wertvoll. Interessant ist dort auch der Hinweis ganz unten auf den wichtigen EQ-Artikel „Exegesis of the Qur’ān“ von Claude Gilliot, der dort kostenfrei heruntergeladen werden kann, was andernorts nicht möglich ist. Der englische Wikipedia-Artikel ist unwissenschaftlich.

Zu den unterschiedlichen exegetischen Tätigkeiten siehe den größeren Artikel hier.

Kurzdefinitionen: Anlässe der Offenbarung, DhimmiFatwa, Hadith, Isnad, Isra’iliyatKalif, Muslim, Naskh, ProphetenerzählungenSabab an-nuzul, Scharia, Sira, SunnaTaqiya,

Diakritische tekens: Muǧāhid, ʿAbd ar-Razzāq aṣ-Ṣanʿānī, aṭ-Ṭabarī, al-Qurṭubī, aṯ-Ṯaʿlabī, az-Zamaḫšarī, al-Bayḍāwī, Ibn Kaṯīr, al-Ǧalālayn, Saiyid Quṭb, Fī ẓilāl al-qurʾān

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Ist die Hölle eine Frau?

Nach Koran 50:30 ist sie auf jeden Fall ein weibliches Wesen, das reden kann und ein großes Mundwerk hat: يوم نقول لجهنم هل امتلأت وتقول هل من مزيد  „… am Tag, da Wir zu der Hölle sagen: „Bist du schon voll?“ worauf sie sagt: Gibt es noch mehr?“
Ich war neugierig zu erfahren, wie die alten Muslime über diese Personifizierung der Hölle gedacht und geredet haben, und schlug einige gängige Korankommentare auf: Muqātil, at-Tabarī, al-Qurtubī, Ibn Kathīr.
Nichts! Dagegen gibt es Vieles zu ihrem enormen Inhalt und zur genauen Nuance der Wörter „Gibt es noch mehr?“ Ist das Gier oder vielmehr Protest? Und es stellte sich heraus, dass auch das Paradies reden kann, denn es wird ein schöner Hadith zitiert, in dem Hölle und Paradies ein Streitgespräch führen:

  • … von Abū Huraira, vom Propheten: Die Hölle und das Paradies hatten einen Disput. Die Hölle sagte: „Ich bin privilegiert mit den Arroganten und den Despoten.“ Das Paradies sagte: „Warum kommen bei mir nur die Schwächlinge und arme Schlucker herein?“ Gott sagte zum Paradies: „Du bist mein Erbarmen; mit dir zeige ich Erbarmen mit den Menschen, die ich will,“ und zu der Hölle sagte Er: „Du bist meine Bestrafung; mit dir foltere ich die Menschen, die ich will. Beide habt ihr einen Punkt, an dem ihr voll seid.“
    Die Hölle wird nicht voll, bevor Er nicht seinen Fuß hineinstellt; dann sagt sie: „Genug, genug!“ Dann ist sie voll und wird zusammengefaltet.1

Ein Gläubiger wäre vielleicht nicht so neugierig und würde sich nicht näher vorstellen wollen, wie die Hölle wohl ausschaut. Die korrekte islamische Antwort auf solche Fragen ist ja bilā kaif, „ohne zu fragen, wie.“ Die Vorstellung der Hölle bleibt also unvollständig, zumal an vielen Stellen im Koran ein Gemisch aus anderen Vorstellungen dargereicht wird: die Hölle ist ein Feuer (nār), „ein schlimmes Lager“ (bi’sa al-mihād); sie befindet sich an einem unbekannten, aber offensichtlich festen Platz mit sieben Toren, der über den „Höllenweg“ (sirāt al-djahīm) erreicht wird. Aber sie wird auch „herbeigebracht,“ laut Koran 89:23: وجيء يومئذ بجهنم „… und (wenn) an jenem Tag die Hölle herbeigebracht wird.“

Ich nehme solche Texte schon als Warnung: nicht vor der Hölle, aber davor, dass ich meinen könnte dieses alte Gedankengut zu verstehen. Auch moderne Muslime können das wohl nicht.

ANMERKUNG
1. Ein Stück Rangstreitdichtung; dazu soll irgendwann mal ein separater Artikel her.

وحدثني محمد بن رافع حدثنا شبابة حدثني ورقاء عن أبي الزناد عن الأعرج عن أبي هريرة عن النبي ص قال تحاجت النار والجنة فقالت النار أوثرت بالمتكبرين والمتجبرين وقالت الجنة فما لي لا يدخلني إلا ضعفاء الناس وسقطهم وعجزهم فقال الله للجنة أنت رحمتي أرحم بك من أشاء من عبادي وقال للنار أنت عذابي أعذب بك من أشاء من عبادي ولكل واحدة منكم ملؤها فأما النار فلا تمتلئ فيضع قدمه عليها فتقول قط قط فهنالك تمتلئ ويزوى بعضها إلى بعض.

In at-Tabarīs Korankommentar, aber die Version hier oben auch bei Muslim, SahīhDjanna 35; es gibt etliche andere Versionen.

Diakritische Zeichen: aṭ-Ṭabarī, al-Qurṭubī, Ibn Kaṯīr, ṣirāṭ al-ǧaḥīm, Ṣaḥīḥ, ǧanna

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Umars Bekehrung. Eine verborgene Schrift

Zum Bericht über die Bekehrung des Apostels Paulus in der Apostelgeschichte der Bibel gibt es in der Prophetenbiographie (sīra) eine Parallele in der Erzählung von der Bekehrung des ‘Umar ibn al-Khattāb, der später Kalif wurde. Beide Männer hatten zuerst die neue Religion aufs Heftigste bekämpft, beide werden nach einer unerwarteten Bekehrung ihre energischsten Verteidiger. Die Bekehrung des Paulus geschah urplötzlich, als ihn auf dem Weg nach Damaskus eine Vision überkam, die seine Augen blendete.1 Bei ʿUmar kam die Wende ebenso blitzartig, als er in der Wohnung seiner Schwester Fātima mit dem Koran konfrontiert wurde. Der Koran spielt die Hauptrolle bei seiner Bekehrung; das ist fein islamisch gedacht.
Der noch unbekehrte ‘Umar—kurz angebunden wie immer—stürmt ins Zimmer seiner Schwester und fragt in barschem Ton, was das zu bedeuten habe. Es kam sogar zu Handgreiflichkeiten. Fātima verbirgt das Blatt mit dem Korantext, und zwar, indem sie sich daraufsetzt. Heutige islamische Koranverehrer würden es wohl nie wagen, auf so eine Idee zu kommen, aber so steht es in der Prophetenbiographie von Ibn Isḥāq aus dem achten Jahrhundert.2 Zu der Zeit waren die Menschen noch nicht so zimperlich. ‘Umar will das Blatt sehen, aber seine Schwester weigert sich es herauszugeben, mit der Begründung, dass er unrein sei und der Koran nur von Reinen berührt werden dürfe. Nachdem er sich gereinigt hat, liest ʿUmar das Blatt dann doch — und wird bekehrt.

Es ist offensichtlich: der Erzähler hatte hier die Koranverse 56:77–79 im Kopf, einen Passus, in dem ebenfalls der Koran im Mittelpunkt steht:  انه لقرآن كريم في كتاب مكنون لا يمسه الا المطهرون „Es ist wirklich ein vorzüglicher Koran, in einer verborgenen Schrift, die nur Reine berühren dürfen.“ Über die verborgene Schrift (kitāb maknūn) ist im Laufe der Jahrhunderte viel Tiefsinniges gesagt worden: Sie werde von Gott im Himmel aufbewahrt usw. Aber der Erzähler dieser frühen Geschichte hat daran nicht gedacht. Er hat den beiden Wörtern eine einfache, etwas derbe Deutung gegeben, indem er Fātima das Blatt auf ihre Weise „verbergen“ ließ.

Auch veröffentlicht in zenith Juli/August 2013, 94–95.

ANMERKUNGEN
1. Bibel, Apostelgeschichte 9:3.
2 Das Leben Muhammed’s nach Muhammed Ibn Ishâk bearbeitet von Abd al-Malik Ibn Hischâm, hrsg. F. Wüstenfeldt. 2 Bde., Göttingen 1858-60, S. 224. Übersetzung: Ibn Isḥāq, Das Leben des Propheten, übers. Gernot Rotter, Kandern 1999, S. 71-74. Hier finden Sie meine Übersetzung der ganzen Erzählung.

Diakritische Zeichen: ʿUmar ibn al-Khaṭṭāb, Fāṭima

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Varianten im Korantext

Wie fest steht eigentlich der Korantext? Echte Forschung gibt es noch kaum; die kommt erst jetzt allmählich in Gang. Es sind unzählige Varianten oder Lesarten  (qirā’āt ) überliefert worden, die übrigens von den alten islamischen Gelehrten anerkannt wurden. Manchmal spricht man auch von Textänderungen, aber das ist nach den Regeln der Textkritik weniger richtig, denn das wären dann Abweichungen von einer vorausgesetzten, richtigen Urfassung, und die gibt es nicht.

Als Beispiel mögen die Varianten bei Koran 112:1–2 dienen: قل هو الله أحد الله الصمد qul huwa allāhu ahadun allāhu as-samadu.
Das sind sprachlich betrachtet lästige Verse. „Sag: er ist Gott, ein Einziger; Gott ist die Stütze.“ (Oder: „Sag: Er, Gott, ist einer; Gott, die Stütze“, oder ähnliches. Die Bedeutung des Wortes samad ist unsicher.1
Die alten und unter Muslimen von alters her anerkannten Lesarten sind:
qul fehlt (bei vier Autoritäten)
al-wāhidu „der Eine“ oder: „der Einzige“ anstatt ahadun „ein“ (bei drei Autoritäten)
– das zweite allāhu fehlt (bei einer Autorität).

Es existiert eine irakische Münze von ca. 690, so alt wie die ältesten bekannten Koranhandschriften. Darauf steht die komplette Sure 112. Vom Text des ersten Verses fehlen dort sogar die ersten beiden Wörter aus der uns bekannten Fassung. Der Anfang der Sure lautet dann: allāhu ahadun allāhu as-samadu „Gott ist eins; Gott ist die Stütze,“ oder eventuell: „Gott ist eins; Gott, die Stütze.“ Das ist schon viel verständlicher.

Das war natürlich nur eine kleine Kostprobe der Textvielfalt im Koran.

Ist das schlimm, dass der Korantext nicht ganz feststeht? Es hat verschiedene Wellen frommer Strenge gegeben, z.B. um 900, die viele Lesarten eliminiert, anders gesagt: weggeworfen haben. Aber im Allgemeinen war das Bestreben in der islamischen Welt von alters her nicht die Verkündung einfacher Wahrheiten, sondern das Zulassen größtmöglicher Verschiedenheit. Daher auch jener Hadith, nach dem der Prophet gesagt haben soll: „Der Koran ist in sieben Varianten offenbart worden.“ 2 Erst im letzten Jahrhundert fing man an den Westen in seinem Bemühen um einfache und vor allem unzweideutige Wahrheiten nachzuahmen. Heutzutage würde man wohl auch die Lesarten im Korantext am liebsten ignorieren. Schade; die Flexibilität war immer so ein schöner Zug in der islamischen Kultur.

ANMERKUNG
1. Es bedeutet jedoch mit Sicherheit nicht „ewig“ oder „absolut“. Vgl. F. Rosenthal, „Some minor problems in the Quran,“ in: Joshua Starr memorial volume, New York 1953, 67–84.
2. harf, Pl. ahruf. Z.B. Muslim, Sahīh, Musāfirīn 270 u.v.a. إن هذا القرآن أنزل على سبعة أحرف

Diakritische Zeichen: aḥadun, aṣ-ṣamadu, al-wāḥidu, ḥarf, aḥruf, Ṣaḥīḥ

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Der Lohn der Märtyrer

🇳🇱 Junge islamische Märtyrer dürften sich am meisten auf das Paradies freuen wegen des Verkehrs mit den Huris. Eine weit verbreitete Überzeugung ist, dass jeder Märtyrer nach seinem Tod sofort in das Paradies kommt, wo zweiundsiebzig Jungfrauen ihn erwarten.
Maher Jarrar1 hat die Verbindung zwischen Märtyrertod und Huris erforscht in Texten von ‘Abdallāh ibn al-Mubārak (736–797),2 die größtenteils nicht mit einer korrekten Überlieferungskette (Isnad) auf den Propheten zurückgehen und daher für Muslime keine große Autorität besitzen. Trotzdem haben diese und ähnliche Texte durch die Jahrhunderte Männer von himmlischen Bräuten für tapfere Krieger träumen lassen, auch in Zeiten, als es gar keinen Krieg gab. In manchen dieser Texte äugeln die Huris bereits auf dem Schlachtfeld mit den Kämpfern.
Nicht auszuschließen ist jedoch, dass die Märtyrer nach ihrem Tod gerade in diesem Punkt schlecht wegkommen werden. Der Koran bleibt vage in Bezug auf das Wie und Wann der Belohnung für ihren kriegerischen Einsatz. An verschiedenen Stellen im Koran werden die Paradiesjungfern erwähnt, aber nicht speziell in Verbindung mit Märtyrern. Die Rede ist von einem gewaltigen Lohn, von Barmherzigkeit und Vergebung, und vom Paradies; die Märtyrer werden zu Gott versammelt werden (K. 3:158). Aber das alles wird auch den anderen Gläubigen zuteil. Das wirklich Besondere ist, dass die Märtyrer nicht tot sind:

  • Meine nicht, dass diejenigen, die für Gottes Sache gestorben sind, tot sind. Nein, sie sind lebendig, und ihnen wird bei ihrem Herrn Lebensunterhalt gegeben.“3

Die Auslegung und die Hadithe des Propheten zu diesem Thema sind nicht einstimmig. Der Gedanke, dass Märtyrer sofort nach ihrem Tode ins Paradies eintreten werden, ist alt, wie eine Passage bei Ibn Ishāq (704-767) beweist. Als die Muslime eines Tages das kostbare Gewand eines besiegten Kleinkönigs bestaunten, sagte der Prophet:

  • „Findet ihr das schön? Bei Ihm, in dessen Hand mein Leben ist: die Servietten von Sa‘d ibn Mu‘ādh im Paradies sind viel schöner!“ 4

Sa‘d war ein Märtyrer, denn er war kurz zuvor an einer Kriegsverletzung gestorben. Von Huris wird hier nicht gesprochen; Sa‘d sitzt offenbar an einem Festgelage. In der als kanonisch geltenden Hadithliteratur, die von allen frühen Texten außer dem Koran unter Muslimen das meiste Prestige hat, kommen diese zweiundsiebzig Huris nur einmal vor:

  • Der Prophet hat gesagt: „Ein Märtyrer hat sechs Verdienste bei Gott: Ihm wird beim ersten Blutschwall Vergebung gewährt, ihm wird sein Platz im Paradies gezeigt,5 er wird vor der Bestrafung im Grabe geschützt, er ist vor dem allergrößten Schrecken6 sicher, ihm wird die Krone der Würde aufgesetzt, deren Rubin prachtvoller ist als die ganze Welt und was darin ist, ihm werden zweiundsiebzig großäugige Huris geschenkt und er wird für siebzig Verwandten zum Fürsprecher gemacht.” 7

Der Augenblick, in dem die Märtyrer mit diesen Huris vereinigt werden sollen, bleibt unklar. Der Text ist ein sogenannter Sammelhadith: Hier wird eine Anzahl von Verdiensten der Märtyrer so summarisch aufgelistet, dass jeder einzelne an anderer Stelle wohl ausführlicher besprochen worden sein muss. In den kanonischen Hadithsammlungen hat das jedoch keine Spuren hinterlassen. Es gibt nur einen Hadith, der um 800 mit einem unvollständigen, um 850 auch mit einem vollständigen isnād überliefert wird: Als in Anwesenheit des Propheten einmal über Märtyrer geredet wurde, sagte er:

  • „Das Erdreich ist noch nicht trocken vom Blut eines Märtyrers, da kommen schon seine beide Gattinnen herbeigeeilt, wie Kamelstuten, die ihre Jungen in einem weiten Land verloren haben. Jede von beiden erscheint in einem Gewand, das prachtvoller ist als diese ganze Welt und was darin ist.“ 8

Hier werden also nur zwei Frauen erwähnt, die zwar sofort nach dem Martyrium zur Verfügung stehen, aber deren Verlangen nach den Märtyrern mit dem Mutterinstinkt (!) von Kamelstuten verglichen wird.

Mindestens so weit verbreitet wie die Hadithe bezüglich der sofortigen Aufnahme ins Paradies ist die Auffassung, dass die Märtyrer nach ihrem Tod nicht sofort dorthin gehen. „Die Märtyrer sind an der Bāriq,“ heißt es bei Ibn Ishāq, „ein Fluss beim Paradiestor, in einem grünen Rundzelt, und ihren Lebensunterhalt bekommen sie morgens und abends aus dem Paradies.“ 9 Dies scheint eine Art Warteraum für das jüngste Gericht zu sein. In dieser Vorstellung existiert das Paradies schon, aber es ist noch nicht zugänglich. Der Koranausleger at-Tabarī (839–923) weiß es genau:

  • Sie sind bei ihrem Herrn, sie werden ernährt mit den Früchten aus dem Paradies und sie riechen dessen Brise, aber sie sind nicht darin. Ihr Privileg in dem Zwischenzustand (barzakh) ist, dass sie ernährt werden mit Paradiesnahrung, die vor der Auferstehung niemand außer ihnen zu essen bekommt.

At-Tabarīs Auffassung wird durch den sogenannte „Vogelhadith“ gestützt. Dieser ist in zahlreichen Fassungen mit und ohne anerkannten Überlieferungskette überliefert worden. Eine kurze Fassung lautet:

  • Die Seelen der Märtyrer befinden sich in der Gestalt weißer Vögel, die sich von den Paradiesfrüchten ernähren.11

Und eine längere Fassung, die wahrscheinlich älter ist:

  • Der Prophet hat gesagt: „Als eure Brüder in Uhud gefallen waren, tat Gott ihre Seelen in das Innere grüner Vögel, die aus den Flüssen des Paradieses trinken, von seinen Früchten essen und nisten in goldenen Lampen im Schatten von Gottes Thron. Als sie den Wohlgeruch ihres Essens und ihrer Getränke rochen und die schöne Stätte ihrer Mittagsruhe gewahr wurden, sagten sie: ‘Ach, wenn doch unsere Brüder wüssten, was Gott uns getan hat, so dass sie den Dschihad nicht aufgeben und nicht vor dem Kampf zurückschrecken.‘ Dann sagte Gott: „Ich werde ihnen von euch berichten.“ Darauf offenbarte Er: „Meine nicht, dass diejenigen, die für Gottes Sache gestorben sind, tot sind“ … (folgt der Rest des Verses).12

Nach diesem Text suchen die Märtyrer in diesen Vögeln oder durch sie Nahrung im Paradies, wo sie sogar Siesta halten, aber sie wohnen dort nicht. Ihr Aufenthaltsort ist sehr nahe bei Gott; vielleicht ist es dort sogar besser als das Paradies. Huris gibt es an dem Ort bestimmt nicht, aber in ihrem Zustand hätten sie wohl kaum Bedürfnis danach.

Wie wird es übrigens den Märtyrerinnen vergehen? Die Tschetschenische Terroristin, die 2002 im dem Moskauer Theater von der russischen Polizei getötet wurde, wird vielleicht da oben mit ihrem Gatten vereint, der ja auch getötet wurde. Aber unverheiratete palästinensische Mädchen, die sich und einige Mitmenschen „für Gottes Sache“ in die Luft jagen, worauf können die sich freuen? In einem mehrfach preisgekrönten Dokumentarfilm von Dan Setton und Helmar Büchel: In Gottes Namen: Die Rekruten des heiligen Krieges, wird kleinen pakistanischen Mädchen in der Schule erzählt, dass Märtyrerinnen ins Paradies kommen. Dazu wird jedoch nicht gesagt, wann das sein wird, und ebenso wenig, dass sie dorthin als normale Gläubige auch kommen würden. Eine ältere Frau im Film erwartet etwas ganz Konkretes: sie glaubt, dass die zweiundsiebzig Huris ihr im Haushalt helfen werden. Die Hadithe des Propheten haben weibliche Märtyrer einfach nicht vorgesehen. Auf dem Schlachtfeld sollen die Frauen Wasser reichen und die Verletzten versorgen. Von der Kriegsbeute bekommen sie auch nichts; bestenfalls eine kleine Aufmerksamkeit, wie die Sklaven auch.13

Der Lohn der Märtyrer ist also in den maßgebenden Texten des Islam nicht eindeutig festgelegt, und der der Märtyrerinnen noch weniger. Frauen halten sich vielleicht am besten an dem „Vogelhadith“, die ihnen wenigstens Rechtsgleichheit von Mann und Frau bietet.

ANMERKUNGEN
1. Maher Jarrar, „The martyrdom of passionate lovers. Holy war as a sacred wedding,“ in Angelika Neuwirth et al. (hrsg.), Myths, historical archetypes and symbolic figures in Arabic literature. Towards a new hermeneutic approach, Beirut 1999, 87–107.
2. ‘Abdallāh ibn al-Mubārak, Kitāb al-Djihād, Tunis 1972@, Dschidda o.J. und online.
3. K. 3:169; auch 2:154.
4. In: Das Leben Muhammed’s nach Muhammad Ibn Ishâk, bearbeitet von Abd el-Malik Ibn Hischâm, hg. Ferdinand Wüstenfeld, Göttingen 1858-60, S. 903. In der Übersetzung von Alfred Guillaume, The Life of Muḥammad, Oxford 1955, sind die Seitenzahlen dieser Ausgabe am Rande gedruckt.
5. Vgl. Koran 47:6, … in den Garten, den Er ihnen zu erkennen gegeben hat. Siehe auch die Paradiesbeschreibung hier.
6. Der jüngste Tag.
7. At-Tirmidhī (825–892), Fadāʾil al-djihād 25; vgl. Ahmad ibn Hanbal (780–855), Musnad iv, 131; Ibn Mādja (824–887), Djihād 16/2799.
8. ‘Abd ar-Razzāq as-San‘ānī, Musannaf, Beirut 1972, 19832, no. 9561 (‘Abd ar-Razzāq lebte von 744– 827; seine Traditionssamlung ist lange unbeachtet geblieben); Ahmad ibn Hanbal, Musnad ii, 297, 427; Ibn Mādja (824–887), Djihād 16/2798.
9. Ibn Ishāq, o. c. 605; bei Ahmad ibn Hanbal, Musnad i, 266 ist dies ein Hadith des Propheten.
10 At-Tabarī, Tafsīr zu Koran 2:154.
11. ‘Abd ar-Razzāq as-Sanʿānī, Musannaf no. 9553.
12. Ibn Ishāq, o. c. 604–5; Muqātil ibn Sulaimān (gest. 767), Tafsīr, Kairo 1979, i, 314; at-Tabarī, Tafsīr zu Koran 3:169; Abū Dāwūd, Djihād 25.
13. Muslim, al-Djihād was-siyar, 134–142.

Diakritische Zeichen: Ibn Isḥāq, Saʿd ibn Muʿāḏ, aṭ-Ṭabarī, barzaḫ, Uḥud, Ǧihād, at-Tirmiḏī, Faḍāʾil al-ǧihād, Aḥmad ibn Ḥanbal, Ibn Māǧa, aṣ-Ṣanʿānī, Muṣannaf, aṭ-Tabarī

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Paradiesgeflügel

Der christliche Himmel muss wohl stinklangweilig sein, wenn die Engel dort den ganzen Tag tatsächlich nur Palestrina singen. Es gibt dort vor allem vieles nicht: keinen Hunger und keinen Durst, keine Hitze, keine Tränen; keinen Tod, noch Leid noch Geschrei noch Schmerz.1 Deshalb haben die Christen, um ihre Glaubenslehre herum, noch extra das Schlaraffenland erfinden müssen.2
Im islamischen Paradies ist das voll integriert. Neben schönen Gärten, luxuriösen Gemächern und hinreißenden Frauen, den Huris, gibt es dort reichlich zu Essen. Als Ernährung nennt der Koran Obst und Geflügel—gesundes, bekömmliches Essen also. Zu trinken gibt es aus Flüssen Wasser, Wein, Milch und Honig, und des weiteren gehen Jünglinge umher mit „Humpen und Kannen und einem Becher voll Quellwasser, mit einem Getränk von dem sie weder Kopfweh bekommen noch betrunken werden.“ 3 Die Frage eines vereinzelten Muslim, ob es im Paradies auch Kamele gebe, beantwortet der Prophet in einem schwach überlieferten Hadith etwas ausweichend: „Wenn Gott dich ins Paradies eintreten lässt, wirst du dort finden was dein Herz begehrt.“ 4

„Und Fleisch von Geflügel, wonach immer sie Lust haben,“ heißt es in Koran 56:21. Aber was für Geflügel ist das genau? Diese Art von Fragen pflegten die frühesten Koranausleger sowohl zu stellen wie auch zu beantworten. Merkwürdigerweise haben sie das in diesem Fall nicht getan, und auch der Hadith, die Tradition  des Propheten, schweigt stille. Die Vögel, in denen die Seelen der Märtyrer sich befinden, werden wohl nicht gemeint sein. Die wohnen nicht im Paradies und sind nicht zum Verzehr gedacht. In dem riesigen Baum, der mitten im Paradies steht und in dem nach einem späten Hadith goldene Schmetterlinge sitzen, könnte man sich dagegen gut auch riesige Vögel vorstellen, Ausdrücklich genannt werden sie erst in einem späten Korankommentar: dem von Ibn Kathīr (1300–1373). Er schreibt von Vögeln „mit Nacken wie Schlachtkamele,“ oder „Vögeln so groß wie Trampeltiere, die Nahrung suchen in den Bäumen des Paradieses“.5 Bei Ibn Kathīr wird auch die Wahlmöglichkeit, die der Koranvers anbietet („wonach immer sie Lust haben“) ausgearbeitet: die Vögel, die siebzigtausend Federn haben, jede in einer anderen Farbe, stehen in Reih und Glied; der Gläubige muss bloß einen auswählen und er fällt schon gebraten vor ihm nieder. „Auf seinen Teller,“ fügt eine Textvariante hinzu. Keiner muss sich also vorstellen wie im Paradies Tiere geschlachtet werden, und die Unbequemlichkeit von gebratenen Tauben, die einem in den Mund fliegen, bleibt Muslimen erspart. Nachdem er aufgegessen ist, fliegt der Vogel übrigens unversehrt wieder weg. Im Koran wird gesagt, dass jede aufgegessene Frucht sofort ersetzt wird. In Koran 2:260 wird in einem anderen Kontext über die Auferweckung toter Vögel gesprochen; das auf die Paradiesvögel zu beziehen war kein großer Schritt. Ibn Kathīrs Kommentar ist eine Aneinanderreihung von Hadithen, wenn sie auch als schwach überliefert gelten. In dem anonymen — und undatierten — Kitāb al-‘Azama gibt es einen relativ frühen zusammenhängenden Text über das Paradies:

  • Jedesmal wenn eine Frucht gepflückt ist, kommt sofort eine andere an ihre Stelle und reift sofort, wie sie zuvor an dem Ast war. Auch wenn zehn Früchte gepflückt würden, so würden an ihrer Stelle sofort andere heranwachsen, …(?) zwischen den Flüssen. Auf den Bäumen sitzen Vögel so groß wie Trampeltiere, und der Freund Gottes isst von ihrem Fleisch. Wenn es ihn gelüstet, fällt es vor ihm nieder, so dass er davon essen kann, gegrillt oder gekocht, wie er es wünscht. Es fällt vor ihm nieder durch die Allmacht Gottes, der zu etwas sagt: „Werd“! und es wird. Wenn der Knecht Gottes davon gegessen hat, was er begehrte, und aufstehen will, so ist der Vogel gleich wieder da, lebendig, fett und gar. Dann fliegt er auf, Gott verherrlichend und sagend: „Lobpreis sei Ihm, der mich geschaffen und gegart hat, und mein Fleisch zur Nahrung für Seine gottesfürchtigen Knechte gemacht hat.“ 6

Auch dies ist eine Art der Koranauslegung, aber nicht der (nach damaligen Maßstäben) wissenschaftlichen Sorte. Die Wahl zwischen „gegrillt oder gekocht“ ist neu, wie auch der Lobpreis des wiederbelebten Vogels.
Die vier Wörter, die der Koran dem Paradiesgeflügel widmet, haben also doch die Phantasie der Menschen gereizt, obwohl die „kanonischen“ Hadithe und die früheste seriöse Koranauslegung diese mit Erfolg außen vor gehalten hatten. Die Motive werden allerdings älter sein als Ibn Kathīr (14. Jht.) und al-‘Azama.

Vielleicht hat der Leser über die oben erzählten Einzelheiten lachen müssen. Unsere Lachlust weckt der Vogel, wenn er zubereitet auf den Teller fällt, wenn er nach dem Verzehr lebendig wieder auffliegt und fliegend noch den Herrn lobt. Aber die Autoren haben das wohl nicht witzig gemeint, und ihr Publikum wird nicht darüber gelacht haben. In den Jahrhunderten nach der Entstehung dieser Texte hat sich die Wertschätzung verschoben, von ernstzunehmend nach komisch. (Das Umgekehrte kommt auch vor: Es ist oft schwer, über einen Witz  zu lachen, der tausend Jahre alt ist.)
Sehr bestimmt gelacht hat aber der spöttische arabische Dichter al-Ma‘arrī (973–1058), der über eine Reise durch Paradies und Hölle schrieb, wie es später Dante in Europa tun sollte. Er versucht auch sein Publikum zum Lachen zu bringen, indem er das Thema ad absurdum führt. Erst lässt er einen Paradiesbewohner einen marinierten Pfau verspeisen, der auf einem Teller aus Gold7 „entsteht.“ Das Tier wird nach dem Verzehr wieder sein altes Selbst, was die Anwesenden bewundernd ausrufen lässt:

  • Erhaben ist er, der die Knochen wiederbelebt, wo sie schon zerfallen sind! Das ist ja wie es im heiligen Buch heißt: „Und auch wie da sprach Abraham: Herr, lass mich sehen, wie du belebst die Toten!. […] Sprach er: So nimm vier Vögel und drücke sie an dich, dann leg auf jeden Berg ein Stück von ihnen, dann rufe sie, so kommen sie dir eilend.“ 8 Nun kommt da eine Gans vorbei, so groß wie ein Trampeltier. Einige Leute wünschen sie als Braten — und schon erscheint sie zubereitet auf einem Tisch von Smaragd. Nachdem die Leute von ihr genommen haben, so viel sie wollen, kehrt sie mit der Erlaubnis Gottes in ihre frühere geflügelte Gestalt zurück. Darauf wünschen einige der Anwesenden sie als Spießbraten, andere wollen sie mit dem Sumach-Gewürz zubereitet haben, und wieder andere hätten sie gern in Milch und Essig, und mit noch anderen Gewürzen gekocht – und alsbald wird die Gans so, wie man sie wünscht. Und immer wieder kehrt sie in ihre frühere Gestalt zurück.9

Den komischen Effekt erreicht al-Ma‘arrī durch Konkretisierung und Wiederholung: Der Vogel ist jetzt ein Pfau oder eine Gans geworden; die Rezeptur wird präzisiert und die Gans fährt auf und nieder wie ein Stehaufmännchen.
Der Koran enthält vier Wörter über das Geflügel; je länger der Kommentar, desto komischer ist er. Vielleicht hatten die frühesten Muslime das „Lachpotential“ dieses Motivs gewittert und es deshalb nicht kommentieren wollen?

ANMERKUNGEN
1. Bibel, Offenbarung 7:16–17; 21:4
2. Herman Pleij, Der Traum vom Schlaraffenland, Frankfurt 2000.
3. Der Paradieswein; Koran 56:18–19.
4. Al-Tirmidhī, Sifat al-Djanna 11; Ahmad ibn Hanbal, Musnad V, 352. […] وسأله رجل فقال: با رسول الله هل في الجنة من إبل؟ […] قال: إن يدخلك الله الجنة يكن لك فيها ما اشتهت نفسك ولذت عينك
5. „…die Nahrung suchen in den Bäumen des Paradieses“ ist merkwürdig. Wo sollten sie sonst suchen? Sie wohnen ja dort! Der überflüssig erscheinende Nebensatz kommt auch vor in dem Text über die Vögel, in denen die Seelen der Märtyrer sich aufhalten. Die wohnen unter Gottes Thron, aber fliegen hin und her zum Paradies um dort Nahrung zu suchen. Dort passt der Satz besser. Solche mehrfach eingesetzte „Wandersätze“ kommen häufig vor in der Hadithliteratur.
6. Koran 2:117; 3:59.
7. Teller aus Gold zu benutzen ist nach islamischem Recht verboten. Aber im Paradies ist vieles anders als auf Erde.
8. Koran 2:260.
9. Abū al-‘Alā’ al-Ma‘arrī, Risālat al-ghufrān: übers. G. Schoeler: Al-Ma‘arrî, Paradies und Hölle. Die Jenseitsreise aus dem „Sendschreiben über die Vergebung,“ München 2002, S. 142–3.

[Auch veröffentlicht in zenith, Januar/Februar 2013, und online hier.]

Diakritische Zeichen: Ibn Kaṯīr, Kitāb al-ʿAẓama, Al-Tirmiḏī, Ṣifat al-Ǧanna, Aḥmad ibn Ḥanbal, Abū al-ʿAlāʾ  al-Maʿarrī, Risālat al-ġufrān

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